Bei Gus‘s Fried Chicken in der 2nd Street, gleich um die Ecke vom Convention Center, brüllt guter Rock aus der Konserve, und die Flasche Dom Pérignon kostet wohlfeile 300 Dollar. Neben den 5 Dollar für ein Dosenbier ist das ein stolzer Preis. Die Champagner Bestellungen im Lokal, dessen Kellner*innen auch beim Klassentreffen von Dazed & Confused eine gute Form machen würden, dürften sich eher in Grenzen halten. Doch der augenzwinkernde Eintrag auf der Getränkekarte bringt den Wandel zum Ausdruck, den die texanische Hauptstadt Austin und ihr Aushängeschild, das South by Southwest Conference und Festival, durchgehen.
Die Stadt boomt, die Skyline wächst, jedes Jahr kommen neue Wolkenkratzer dazu, die entlang des Ufers des Colorado Rivers in die Höhe schießen. Das Motto, das einem vom Flughafen bis in die neuen, schicken Hotel Lobbys entgegenwinkt, ist immer noch das Gleiche: “Keep Austin Weird”. Der Slogan einer Stadt, die im Wandel ist, und in der man etwas genauer suchen muss, um die Weirdness zu finden.
Magnet für Innovation
Spult man etwas zurück, ein paar Jahre nur, dann war diese Weirdness leicht zu finden. Die einzigartige Mischung aus Hippies, Cowboys und Tech im Herzen von Texas hatte schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anziehungskraft für Menschen aus dem ganzen Land.
Willie Nelson, Richard Linklater, Dell Computers. Das sind Namen, die auch schon vor dem großen Boom der letzten Jahre mit der “blueberry in a bowl of tomato soup” assoziiert wurden. Die liberale Insel, umgeben vom konservativ geprägten, landwirtschaftlichen Texas.
Austin, die Stadt mit den meisten Live Musiklokalen pro Einwohner*in, das “Live Musical Capitol” mit Studierenden aus der ganzen Welt an der University of Texas als Mischung verschiedener Stilrichtungen und Geisteshaltungen war bereits damals ein Magnet. Angenehmes Wetter (bis auf die heißen Sommer), günstiger Wohnraum, ein kreatives Umfeld, entspannter und weniger oberflächlich als Kalifornien, gemütlicher und weniger hektisch als New York. Wunderschöne Wandmalereien an jeder Ecke, Breakfast Tacos (Fladen mit Ei, Bohnen und Speck) und Ranch Water (Tequila mit Soda). Auf dem gleichen Breitengrad wie Kairo ist man hier in einer der südlichsten Metropolen der USA. In den letzten 20 Jahren hat sich die Bevölkerung der Stadt mehr als verdoppelt.
Wurzeln in Musik und im Film
Die entspannte Note findet man immer noch, auch wenn man dafür etwas weiter vom Zentrum ausfliegen muss (Richtung Osten oder Süden), wo sich mittlerweile ein Wolkenkratzer an den anderen reiht. Der Wandel der Stadt, noch einmal beschleunigt durch einen massiven Influx von Geld und Menschen aus Kalifornien (Hollywood und Silicon Valley, Entertainment und Tech) im Rahmen der Pandemie, zeigt sich auch in Downtown und bei South by Southwest selbst.
Eigentlich als Musikfestival gestartet, dann durch ein Filmfestival ergänzt – beides gibt es nach wie vor – ist der Interactive Part der Konferenz/Messe/Happening mittlerweile zum wichtigsten Innovationstreffpunkt der Welt geworden. In der 2. Märzwoche kommen Menschen von nah und fern, um sich über die brennendsten Themen der Zukunft auszutauschen. Das passiert auf den unterschiedlichsten Ebenen. Im Konferenzzentrum und in den Hotels gibt es Vorträge und Workshops in Sälen und Räumen für 10 bis 5000 Menschen. Dann laden Firmen von Google bis Amazon in Lagerhallen und mit interaktiven Erlebnissen zu Partys und Austausch, vom Brunch mit Mimosas hin zum Cocktail mit Margaritas.
Genau der Faktor, dass man nicht weiß, wen man an der Bar, im Vortragssaal oder in der Schlange zum Kinosaal kennenlernt, lässt die Besucher*innen wiederkommen, und das auch nach 30 Jahren.
Interaktive Geisterbahn
Eine Mischung aus Prater, Reeperbahn und Disneyland – vor allem auf der 6th Street und der Rainy Street. Doch schon ein paar Gassen weiter geht es gemächlicher zu. Viele Veranstaltungen finden neben dem offiziellen Programm statt, von gratis bis zu ein paar tausend Dollar für die Eintrittskarte oder den Platz am Tisch. Der Wandel der Stadt durch den Boom der letzten Jahre zeigt sich auch in den Veranstaltungsorten. Wurde früher noch mehr in den Hinterhöfen von Bars und auf Baustellengruben gefeiert, gibt man sich heute eher das Stelldichein auf den Terrassen mondäner Hotels. Auch weil es diese bis vor ein paar Jahren noch nicht gab.
Im Hintergrund und Vordergrund läuft Musik, von Country bis Hip-Hop. Das Filmfestival hat sich mittlerweile neben Sundance zu einem der wichtigsten im Indie-Segment entwickelt, auch Hollywood und die Studios/Streamer nutzen es gerne für Premieren mit jeder Menge Starpower. Wer eine Pause vom Trubel will oder braucht, setzt sich in eines der zahlreichen Festivalkinos. Das ganze geht 9 Tage lang, wobei der Schwerpunkt der ersten Hälfte auf dem interaktiven Teil liegt.
Hoffentlich verpasst man was!
Das Besondere dabei ist die schier unendliche Auswahl an Möglichkeiten. Und die Tatsache, dass es gar nicht möglich ist, alles abzudecken. Hugh Forrest, der langjährige Programmdirektor, bezeichnet das als JOMO, also “Joy of missing out”, statt FOMO.
Wenn man sich treiben lässt, dann passiert es einem, dass man großartige neue Eindrücke und Menschen kennenlernt, die man nicht auf der Agenda und dem Plan gehabt hat. Und nicht nur Business Kontakte, sondern Freundschaften, die über Kontinente und Branchen bestehen. Und das ist das wirkliche Geheimnis, warum die Menschen immer wieder im März nach Texas strömen, auch in Zeiten, in denen die Inhalte schon online verfügbar und erlernbar sind. Denn genau der Faktor, dass man nicht weiß, wen man an der Bar, im Vortragssaal oder in der Schlange zum Kinosaal kennenlernt, lässt die Besucher*innen wiederkommen, und das auch nach 30 Jahren. Das Mission Statement des Festivals lautet “Helping creative people to achieve their goals.” Und das funktioniert, auch wenn die Stadt und das Festival weniger rauh und etwas genormter sind als noch vor ein paar Jahren.
OK Computer: AI im Aufschwung
Heuer lag der Fokus dabei vor allem auf künstlicher Intelligenz und den Auswirkungen auf die Gesellschaft. Der Wettlauf um die Superlativen der Technologie war ein bestimmendes Thema. Inklusive Auswirkungen auf Wissenschaft und Demokratie, gerade ein paar Monate vor richtungsentscheidenden Wahlen, etwa in den USA, in Deutschland oder auch in Österreich. Viele Trends werden im Jahreszyklus der Konferenzen auf der ganzen Welt das erste Mal in Texas angesprochen und dann von Lissabon über Hamburg bis Hong Kong dekliniert.
Die Bedeutung der bereits einsetzenden und rapide stattfindenden Transformation von Arbeit und Wertschöpfung, gerade auch für die Kreativbranche, war dabei zentral in vielen der Gespräche. Wann, ob und in welcher Form die Maschinen die komplette Kontrolle übernehmen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Klar dürfte dennoch sein, dass in den nächsten Jahren die (Arbeits)Welt wie wir sie kennen eine andere sein wird. Und genau diese zwischenmenschlichen Begegnungen inmitten der technischen Utopien und Dystopien der Gegenwart und Zukunft machen Austin dann auch im Kern wieder ein bisschen weird und eine Reise wert.
P.S: Das Fried Chicken bei Gus‘s ist übrigens ausgezeichnet, am besten mit Beans und Coleslaw.
Die SXSW findet immer in der 2. Märzwoche in Austin, Texas statt. Der nächste Termin findet vom 7. bis 15. März 2025 statt. Auf die Besucher*innen warten tausende Vorträge, Workshops, Ausstellungen, Messen, Konzerte und Filmvorführungen.
Die Tickets dafür kosten je nach Kategorie zwischen € 500 bis € 1200 Euro im Vorverkauf und werden zur Veranstaltung hin graduell teurer. Hotel & Airbnb Preise sind rund um die Konferenz auf Buchungsplattformen enorm hoch. SXSW reserviert ein Kontingent an Hotelbetten in unterschiedlichen Kategorien, die gemeinsam mit dem Ticketkauf reserviert werden können.
Von Wien aus kommt man mit einem Zwischenstopp in Europa (Frankfurt, Amsterdam, London) oder in den USA (NYC, Chicago) nach Austin.
News nach Redaktionsschluss: Im Zuge des heurigen Festivals haben einige Künstler*innen ihre Auftritte beim SXSW abgesagt, um gegen Sponsoring durch Militär und Verteidigungsindustrie zu protestieren. Infos dazu hier
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