Interview mit Michel Attia zum 50. Musikstammtisch

Langsam, aber sicher will sich der 46-jährige Michel Attia zurückziehen. Nicht ganz, aber einfach ein bisschen leiser treten „und nur mehr für zwei arbeiten“. Was das genau bedeutet, woher der Musikexperte seine Inspiration nimmt und warum er es liebt, Musiker*innen zu vernetzen, hat uns Michel anlässlich seines Musikstammtisch-Jubiläums verraten …

funk tank: Lieber Michel, wer in Österreich was mit Musik zu tun hat, kommt an dir nicht vorbei, du kennst gefühlt jede*n in der Szene und bist Netzwerk-König. Was machst du eigentlich genau?

Michel Attia: Ich bin Jongleur und jongliere mit Gefallen. Mein Brotjob ist bei FM4 seit knapp 22 Jahren als Event-Chef, damit verdiene ich mein Geld und das macht mir noch immer Spaß. Ansonsten habe ich viele Ideen, die ich umsetze, aber damit wenig bis kein Geld verdiene. Ich veranstalte Michels Musikstammtisch alle zwei Monate in Wien, unregelmäßig in Hamburg, dann gibt es noch das Speak Ösi in Hamburg, ab und zu das Katerfrühstück und ich habe ein Postkarten-Label namens Bussi, Wien.

Der Musikstammtisch feiert am 26. September sein 50. Mal. Wie ist die Idee dazu entstanden und was macht diesen Treffpunkt in Wien aus? Für wen ist er?

Eigentlich war das eine spontane Idee, ich hätte damals zum Echo in Berlin fliegen sollen und konnte wegen eines Arzttermins nicht hinfliegen, das hat mich total geärgert. Dann habe ich in meiner Bubble auf Facebook ausgerufen, dass ich eine Konkurrenzveranstaltung dazu in Wien mache, was natürlich total absurd war. Da ich damals auch ein Lokal hatte, war das easy zu organisieren und ich habe mit 20 Leuten gerechnet, es kamen dann aber um die 100 Personen. So war mir klar, dass es den Bedarf gab und darum habe ich dann entschlossen, das regelmäßig alle zwei Monate als Afterworkevent zu machen.

Michels Musikstammtisch existiert bis heute und ist für die Musikbranche gedacht, also für Musiker*innen und Menschen aus der Branche. Ich habe keine strengen Kriterien, aber irgendwas muss man schon mit Musik zu tun haben, wenn man nur Blockflöte spielt, ist das auch okay.

Darf irgendwer nicht rein? Sagen wir z. B. Rammstein?

Wenn Rammstein tatsächlich kämen, dann würde ich zumindest dafür sorgen, dass sie nicht bedient werden an der Bar und dann würden sie das hoffentlich kapieren. Eigentlich sind aber alle herzlich willkommen, die Einladungen gehen ja über meine Facebook-Gruppe raus und da sehe ich sowieso, wer sie bekommt.

Musikstammtisch im Wiener WUK
Musikstammtisch im Wiener WUK © Nikolaus Ostermann
Du hast ja immer Partner*innen für Freigetränke für den Musikstammtisch, finanzierst du so diese Events? Und es gibt immer internationale Gäste aus der Branche, wie suchst du die aus?

Anfangs habe ich mein privates Geld reingesteckt, mittlerweile habe ich zum Glück ein Jahressponsoring der Wirtschaftsagentur Wien und es gibt fast jedes Mal einen Partner/eine Partnerin für Freigetränke, da freuen sich vor allem die Nachwuchsmusiker*innen.

Das mit den Gästen hat sich zufällig entwickelt. Die deutsche Agentur Goodlive war auf der Suche nach einem passenden Event in Wien, wo sie sich präsentieren kann. Mittlerweile melden sich immer wieder Agenturen, Plattenfirmen, Kulturvereine, Unternehmen usw. oder ich suche sie aus, was öfter vorkommt.

Gibt es dann auch Panels oder sowas in der Art?

Nein, bei mir ist das Ganze niederschwellig und ohne Talks, Panels usw., genau das genießen die Leute, glaube ich.

Wer aus der Branche kommt dann genau?

Im Großen und Ganzen kommen die Stammgäste aus dem Alternative Mainstream. Aber auch z. B. von Starmania, von Ö3, Energy oder aus dem Jazz. Was mir am meisten fehlt, ist, dass auch die Leute aus der Clubkultur kommen und Personen aus der Hochkultur würde ich mir ein bisschen mehr wünschen.

Du veranstaltest ja nicht nur in Wien deine Stammtische, sondern auch in Hamburg. Was machst du dort?

Ich liebe Hamburg und habe dort schnell bemerkt, dass es nichts Regelmäßiges für die Musikbranche gibt, außer halt einmal im Jahr am Reeperbahn Festival. Dort kenne ich auch viele Leute und habe denen von meinem Musikstammtisch erzählt und die haben es wieder weitererzählt und seitdem veranstalte ich das in Hamburg unregelmäßig.

Zusätzlich habe ich Speak Ösi dort gemacht. Ich liebe schlechte Wortspiele (lacht). Mir gefällt die Idee der Speakeasy-Bars und das habe ich dann in Hamburg als Speak Ösi umgesetzt. Für 12 Personen mit Kulinarik aus Österreich, also österreichische Produkte und Köch*innen. Das ist dann in einer Wohnung versteckt und die Leute werden abgeholt und dorthin gebracht. Z. B. mit Hubert Mauracher, der Musiker ist und für viele als der beste Thai-Koch des Landes gilt, was ja witzig ist, weil er eigentlich aus der Tiroler Wirtshausküche kommt. In der Zeit vom Reeperbahn Festival habe ich das dann veranstaltet, bisher 5 Mal, heuer lasse ich das mal aus, um das Festival genießen zu können.

Ich mache das alles ja nicht, um mir selbst einen Gefallen zu tun, sondern weil ich Menschen und Ideen gerne zusammenbringe.

Spannend bei dir ist ja auch, dass du wenig aktiv auf Social Media bist, aber dennoch immer überall mitmischt. Wie trittst du mit den Leuten in Kontakt?

Social Media interessiert mich eigentlich gar nicht. Ich versuche alles auf Telefonate, Textnachrichten und E-Mails zu beschränken. Aber ich habe Leute, die mir damit helfen. Beim Speak Ösi z. B. verschicke ich das an 100 Leute in Hamburg und dann spreadet sich das von selbst und dann melden sich auch Menschen, die ich vorher gar nicht kannte, das ist sehr lustig. Es wird aber ab demnächst für den Musikstammtisch eine einfache Website inkl. Newsletter und LinkedIn geben, weil die Branche dann doch den Termin via Facebook nicht immer mitbekommt. Algorithmus und so.

Katerfrühstück im Jaz in the City Wien
Katerfrühstück im Jaz in the City Wien © Marvin Strauss

Ich mache das alles ja nicht, um mir selbst einen Gefallen zu tun, sondern weil ich Menschen und Ideen gerne zusammenbringe.

Noch mal kurz zu Hamburg. Wenn du die Hamburger Musikszene mit der Wiener vergleichst – Welche Gemeinsamkeiten gibt es und worin besteht noch Nachholbedarf in Österreich?

Ich sehe es eher andersherum. Ich sehe Nachholbedarf in Hamburg. Ich finde, Wien ist viel gemeinschaftlicher in der Szene als Hamburg, in Hamburg kocht jede*r ihr/sein eigenes Süppchen, das erinnert mich an Wien vor 20 Jahren.

Dein Lieblingsfestival national und international?

National natürlich die Events von FM4, ich mag sehr gerne unser Geburtstagsfest und das nicht nur, weil ich das buche und kuratiere. Ansonsten gibt es ganz schön viele Festivals in Österreich, es wird immer mehr und nie weniger. Was auch nicht ganz unproblematisch ist. Mir gefällt das Lido Sounds, das finde ich sehr charmant. Oder das Acoustic Lakeside. International ist das Primavera ein Vorzeigefestival in Barcelona mit der Kombi aus Musik und Essen und Meer. Aber es gibt noch so viele andere, ich suche immer nach Gründen, um nach Hamburg zu reisen, also natürlich das Reeperbahn Festival. Genial finde ich auch das Roskilde Festival in Dänemark, vor allem für die Größenordnung. Das Flow Festival in Helsinki, das Oya Festival in Oslo, …

Obwohl du sehr viel unterwegs bist, bleibst du Wien treu. Warum?

Ich bin in Wien geboren, es ist ein bisschen eine Hassliebe. Ich liebe die Stadt, die Menschen, das Essen. Ich bin total froh, dass das meine Homebase ist. Aber nur Wien würde ich nicht aushalten. Durch das Reisen kann ich das ausgleichen. Weil hier alles länger dauert und Wien keine Trendstadt ist, ist alles ein bisschen langsamer, das finde ich super.

So kannst du bei deinen Ideen auch schneller als andere sein …

So sehe ich das auch. Ich war ja mit vielen Eventkonzepten für FM4 hier der Erste und alles war aus anderen Ländern geklaut. Die FM4 Überraschungskonzerte habe ich von den MySpace Secret Shows, die FM4 Radio Session ist nichts anderes als MTV Unplugged, die Eastpak Beatsteaks Wohnzimmertour in Deutschland habe ich übernommen und hier die FM4 Private Sessions daraus gemacht. Das ist natürlich ein Vorteil, man kann sich gut von anderen Ländern inspirieren lassen. Hamburg ist Wien da sehr ähnlich, es hat auch ein bisschen einen Dorfcharakter. Darum hat Speak Ösi dort funktioniert, in Berlin wäre das nicht gegangen, da gibt es sowieso schon viele Pop-up-Restaurants …

Eine Hommage an die Stadt hast du ja auch zusammen mit einer Kollegin geschaffen. Erzähl mal von deinen Postkarten …

Eigentlich wieder nur geklaut. Ich habe beim Mauerpark-Flohmarkt in Berlin Postkarten von den Straßen Berlins mit Streetart usw. gesehen und in Wien gab es das noch nicht. Dann habe ich das einfach gemeinsam mit Fotokünstlerin Claudia Stegmüller gemacht.

Postkarten-Label Bussi, Wien
Postkarten-Label Bussi, Wien © Bussi, Wien
Was steht als Nächstes bei dir an?

Ich versuche langsam weniger zu machen, den Musikstammtisch wird es weiter geben, aber Ziel ist es, weniger zu arbeiten und nicht mehr. Es gab immer noch eine Idee und auch ein bisschen der Gedanke der Welteroberung. Noch geht es mir gut, aber ich merke, dass ich aufpassen muss und nicht mehr über meine Grenzen gehen sollte. Meine Mutter hat immer gesagt: ‚Du musst so viel arbeiten wie für drei Österreicher, weil du wirst es nicht leicht haben hier.‘ Das war noch eine andere Generation, ich habe mich aber daran gehalten. Jetzt versuche ich nur mehr für zwei zu arbeiten …

Michel Attia konzipiert und bucht beim Radiosender FM4 als „Head of Booking & Events“ diverse Eigenveranstaltungen wie die FM4 Radio Sessions, FM4 Überraschungskonzerte oder das FM4 Geburtstagsfest. Aus einer Laune heraus initiierte er 2016 den regelmäßigen Branchentreff Michels Musikstammtisch in Wien, den er mittlerweile auch unregelmäßig in Hamburg veranstaltet. Mit seinem Postkarten-Label Bussi, Wien huldigt er seine Homebase, die er liebt, aber immer wieder auch gerne verlässt, um sich für neue Ideen inspirieren zu lassen.

Bussi, Wien

Matthias Bartolomey – Progressiver Spirit am Cello

Der 39-jährige Matthias Bartolomey möchte mit seinem progressiven Spirit die sonst recht schnöde und strenge Musikwelt des Cellos aufrütteln und die Brücke zwischen Klassik und Popularmusik schlagen. Seit 2012 ist er mit dem Geiger und Mandolaspieler Klemens Bittmann als BartolomeyBittmann – progressive.strings musikalisch unterwegs. Jetzt hat er sein erstes Solo-Album mit dem Titel „Solo“ herausgebracht. Wir haben mit dem vielseitigen Cellisten gesprochen …

funk tank: Lieber Herr Bartolomey, Ihr Vater war Solocellist der Wiener Philharmoniker, Sie selbst haben bereits mit sechs Jahren Cellounterricht von ihm erhalten. Die Musik liegt Ihnen also im Blut. Wann war klar, dass Sie sich professionell für den Beruf als Musiker entscheiden, und wie kam es dann schlussendlich dazu?

Matthias Bartolomey: Mein Vater war nicht nur Solocellist, sondern auch die bereits dritte Generation von Bartolomeys bei den Wiener Philharmonikern. Ich bin für das Aufwachsen in dieser, über mehr als ein Jahrhundert gelebten musikalischen Kultur sehr dankbar und hatte bereits in frühen Jahren mein Ziel, eine professionelle Laufbahn als Musiker anzustreben, definiert. Wie genau diese aussehen würde, stellte sich jedoch erst deutlich später heraus.

Was kann das Cello, das andere Musikinstrumente nicht können?

Darüber könnte ich Stunden sprechen, aber ein sehr wichtiger und deutlich spürbarer Aspekt ist der große Tonumfang und die Nähe zur menschlichen Stimme. Das Cello kann aber auch ein Rock-Instrument sein, dem man schwere Riffs und verzerrte Klänge entlocken kann. Es steckt voller spannender Kontraste.

Cellist Matthias Bartolomey
© Stephan Doleschal

Im übergeordneten Sinn geht es mir darum, aufzuzeigen, dass gute Musik etwas Zeitloses hat. Etwas, das unabhängig davon, wann und in welcher Zeit es geschrieben wurde, berühren oder erschüttern kann.

Sie sind aktiver Musiker und unterrichten auch an der Universität Mozarteum Salzburg. Welche Eigenschaften braucht es, um erfolgreich im Musik-Business bestehen zu können? Ist es das Talent oder harte Arbeit und Fleiß, die eine*n zur guten Musikerin/zum guten Musiker machen?

Aus meiner persönlichen Erfahrung braucht es vor allem zwei Eigenschaften, um ein erfolgreicher Musiker/eine erfolgreiche Musikerin zu sein: Talent und harte Arbeit gehen Hand in Hand. Ein Talent ohne Disziplin, Ehrgeiz und Konsistenz wird ungeformt bleiben. Somit bildet beides einen essenziellen Aspekt des Musiker*innen-Daseins.

Die zweite Eigenschaft hat mit Musik nicht viel zu tun — es ist die unternehmerische Tätigkeit. Die Selbstvermarktung, der Kontakt zu Veranstaltern, Honorarverhandlungen, Netzwerke aufbauen etc.

Wichtig ist aber auch, sich in Geduld zu üben und das Scheitern als unumgänglichen und lehrreichen Faktor zu akzeptieren.

Österreich hat eine lange Tradition, was klassische Musik betrifft. In anderen Musik-Genres ist es hier jedoch etwas zu klein(kariert), um mit Kunst groß rauszukommen. Wieso sind Sie in Österreich geblieben bzw. gibt es Momente, wo Sie lieber in einem anderen Land leben würden? Welches Land wäre das und warum?

Gustav Mahler hat gesagt: „Wenn die Welt untergeht, möchte ich in Wien sein, da passiert alles 50 Jahre später.“ Das hat wohl heute immer noch gewisse Gültigkeit. Ich bin aber seit jeher mit Österreich sehr verwurzelt und hatte trotz meiner vielen Konzertreisen nie die dringende Sehnsucht, wegzugehen.

Es ist vielleicht gerade auch die traditionelle Ausprägung in Österreich, die mich motiviert hat, hier zu bleiben, um einen neuen und progressiven Spirit beizutragen.

Mit dem Geiger und Mandolaspieler Klemens Bittmann sind Sie als BartolomeyBittmann –progressive.strings unterwegs. U. a. auch in der Berliner Philharmonie, der Elbphilharmonie Hamburg und rund um den Globus. Musik ist ja eine universelle Sprache. Wie gehen Sie konkret beim Komponieren vor, wie entstehen Ihre Stücke? Und an welche Zielgruppe richten sich die Werke?

Wir haben mit BartolomeyBittmann von Beginn an den Fokus auf den Aufbau eines eigenen Repertoires gelegt und immer gemeinsam auf intuitiv-schöpferische Art Musik komponiert. Das machen wir nun seit mehr als zwölf Jahren so und haben hier ein spezielles Ökosystem für uns entwickelt. Momentan spielen wir unser Best of BB Programm, haben aber bereits Ideen für neue Stücke. Nächstes Jahr wird es auch eine Kooperation mit dem Niederösterreichischen Konzertchor im Festspielhaus St. Pölten geben. Unsere Musik um einen Chor zu erweitern, finden wir sehr spannend und wir freuen uns bereits darauf, die Arrangements dafür zu schreiben.

Wir haben per se keine direkte Zielgruppe. In erster Linie schreiben wir die Musik, die auch wir gerne hören würden. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass Menschen mit einer gewissen klassischen Grundbildung (bzw. einer Sensibilisierung für Streichinstrumente) unsere Musik interessant finden. Man könnte auch sagen: Ö1-Hörer*innen mögen uns. Es ist aber immer ein schönes Erlebnis, wenn Menschen, die aus einer gänzlich anderen musikalischen Sozialisierung kommen, unsere Musik für sich entdecken.

In der Musik abstrahieren wir unser Leben und die Welt, wie wir sie wahrnehmen. Das können banale, aber auch tiefgründige und bedeutungsvolle Dinge sein. Musik zu schreiben hat auch viel damit zu tun, sich selbst besser kennenzulernen.

Was inspiriert Sie für Ihr künstlerisches Schaffen?

Wenn man mit einem offenen Herzen und offenen Augen durch unsere Welt geht, kann alles, was man darin findet und erlebt, inspirierend sein.

In der Musik abstrahieren wir unser Leben und die Welt, wie wir sie wahrnehmen. Das können banale, aber auch tiefgründige und bedeutungsvolle Dinge sein. Musik zu schreiben hat auch viel damit zu tun, sich selbst besser kennenzulernen.

Die Cellisten Matthias Bartolomey und sein Vater Franz Bartolomey
Die Cellisten Sohn Matthias Bartolomey und Vater Franz Bartolomey © privat
Ende Mai haben Sie Ihr erstes Solo-Album herausgebracht. Hier trifft Tradition mit J. S. Bach auf progressive Eigenkomposition. Wunderbar dynamisch und mitreißend, wie ich finde. Ihnen gelingt die Verbindung von Klassik mit modernen, rockigen und energiegeladenen Stücken. Inwiefern braucht es das „Klassische“ für das „Neuartige“ und was bevorzugen Sie? Wie verbinden Sie „Alt“ und „Neu“?

Im übergeordneten Sinn geht es mir darum, aufzuzeigen, dass gute Musik etwas Zeitloses hat. Etwas, das unabhängig davon, wann und in welcher Zeit es geschrieben wurde, berühren oder erschüttern kann. Bach ist hier ein gutes Beispiel.

Was meine eigene Musik betrifft, kommt meine Motivation in erster Linie daher, dass mir ein Großteil der zeitgenössischen klassischen Musik fremd und zu intellektualisiert ist. Im Verlauf des 20. Jhdts. hat sich enorm viel Kreativität in der Popularmusik entwickelt. Mit der Brücke zur Popularmusik sehe ich die Zukunft der klassischen Musikwelt und möchte hier auch aktiv schöpferisch (vom Instrument für das Instrument komponierend) meinen Beitrag leisten.

Eine weitere Verbindung zwischen Alt und Neu manifestiert sich auf diesem Album nicht zuletzt dadurch, dass ich auf zwei Celli spiele. Das erste Instrument ist ein Violoncello von David Tecchler und wurde 1727 in Rom erbaut – es repräsentiert die Musik Bachs. Das zweite Violoncello ist dessen detailgetreue Kopie, welche von Philip Bonhoeffer im Jahre 2021 erbaut wurde und meine Musik repräsentiert. Es entsteht also nicht nur musikalisch, sondern auch instrumental ein Bogen über 300 Jahre.

Welche Herausforderungen hat die Arbeit zum ersten Album mit sich gebracht?

Ich hatte einen ganz speziellen Klang im Kopf. Einerseits ging es mir um sehr viel Nähe zum Instrument, um mit Direktheit die Musik unmittelbar spürbar zu machen. Andererseits sollte das Instrument und der Klang frei atmen und sich groß entfalten können. Mit dem Tonmeister David Furrer hatte ich hier genau den richtigen Mann mit an Bord, der mich mit viel Geduld und Gespür unterstützt hat.

Sie sind heuer live noch viel unterwegs. Auf welche Auftritte freuen Sie sich besonders? Und was steht in den kommenden Monaten sonst noch an?

Es kommen viele spannende Konzerte auf mich zu, denen ich allen mit viel Freude entgegensehe. Besonders freue ich mich auf die Cello Biennale in Amsterdam im November 2024.

Unter anderem habe ich für den Festivalwettbewerb der Biennale das zeitgenössische Auftragswerk komponiert, das alle Kandidat*innen der ersten Runde spielen werden. Eine große Ehre.

Matthias Bartolomey, 39, ist österreichischer Cellist, Komponist und Professor an der Universität Mozarteum Salzburg. Die Verbindung von Klassik mit modernen, rockigen und energiegeladenen Stücken ist seine Spezialität, denn für ihn hat gute Musik etwas Zeitloses. Bartolomey tourt dieses Jahr durch Österreich, u. a. hat er Auftritte mit Karl Markovics & Helmut Deutsch, Rudolf Buchbinder & Volkhard Steude sowie Ursula Strauss & Ariane Haering.

Matthias Bartolomey

BartolomeyBittmann

Pflegefamilie Podcast Antonia Stabinger Ludwig Krausneker

Sie trinkt aus einem Gurkenglas, hinter ihr drängt sich charmant eine Leiter ins Rampenlicht: Die Kabarettistin Antonia Stabinger hat alle Hände voll zu tun, um ihr neues Zuhause in Wien einzurichten – mit einem extra Zimmer für ihre Tochter. Ohne Babybauch und ohne viel Trara ist sie Mama geworden und nimmt sich trotz Baustellenstress Zeit, um uns davon zu erzählen. Das ist mehrfach bemerkenswert, sonst kann sie Interviewfragen zum Privatleben gar nicht leiden.

An ihrer Seite treffen wir Ludwig Krausneker, er ist Klinischer Psychologe und Pflegefamilienberater bei affido, einer gemeinsamen Einrichtung des Pflegeelternvereins Steiermark und der Gesellschaft für steirische Kinderdörfer. Gemeinsam moderieren sie seit Kurzem den Podcast „Kreisrund mit Ecken“, der so fesselnd und bewegend ist, dass ich zuletzt mitten in der Nacht trotz Ankunft daheim nicht aus dem Auto steigen wollte, ehe die Folge zu Ende war.

funk tank: Antonia, kaum jemand wusste davon – und dann wurdest du plötzlich Mama, nämlich Pflegemama. Wie fing das an?

Antonia Stabinger: Meine Tochter ist am 25. Juni vor einem Jahr bei mir eingezogen. Dazu gibt es eine schöne Anekdote: Am Abend davor war ich beim „Zusperrfest“ im Kabarett Niedermair. Da treffen sich viele Kolleg*innen, danach ist Sommerpause. Davor habe ich sehr wenigen Leuten erzählt, dass ich eine Pflegetochter bekomme – so wie man meist nur wenigen erzählt, wenn man frisch schwanger ist. Dann stand ich dort aufgeregt mit einem weißen Spritzer in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen – ich rauche ab und zu – und habe gesagt: „Morgen bekomme ich ein Kind!“ Daraufhin gab es irritierte Blicke, abwechselnd auf mein Glas, meine Zigarette und meinen Bauch – das war sehr unterhaltsam.

Und am nächsten Tag ist dann tatsächlich meine Tochter eingezogen und ich war auf einen extrem herausfordernden Sommer eingestellt. In der Ausbildung wurde ich darauf vorbereitet, dass man meist die Wut des Kindes abbekommt, die eigentlich den bisherigen, „verschwundenen“ Bezugspersonen gilt. Der Sommer war dann aber tatsächlich halb so wild. Ich habe mich zurückgezogen, war ein paar Wochen ausschließlich für das Kind da, so wie uns das in der Ausbildung empfohlen wurde. Anfangs habe beispielsweise nur ich sie gehalten, damit sie versteht: Ich bin ihr neues Zuhause, ihr Anker. Es war ein schöner Sommer: Wir waren viel draußen, haben alle aus dem Familien- und Freundeskreis getroffen, die sie kennenlernen wollten, und ganz viel Zeit zu zweit verbracht.

Wieso dieser mutige Schritt?

Ich hatte das Bedürfnis, etwas Soziales zu machen. So, dass ich wirklich das Gefühl habe, ich verändere tatsächlich etwas. Als ich dann im Grundkurs der Wiener MA11 (Kinder- und Jugendhilfe, Referat für Adoptiv- und Pflegekinder, Anm.) gesessen bin, mit lauter netten Menschen, habe ich öfter laut sagen müssen: „Wie gut, dass es das gibt!“ – Stellen wir uns vor, das gäbe es nicht, es käme kein Jugendamt, um Kinder aus Gefahrensituationen zu holen, und sie würden keine zweite Chance bekommen.

Die Schlagzeilen werden immer verrückter, es herrschen Kriege, Menschen ertrinken im Mittelmeer – all das ist schwer auszuhalten und zu integrieren. Ich glaube, es gibt mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen: Entweder man verdrängt es, man leidet – oder tut eben etwas, bei dem man das Gefühl hat, es hilft. Egoistisch gesagt: Es funktioniert. Ich habe heute das Gefühl, dass ich zumindest das Leben einer Person signifikant besser mache.

Ich wünsche mir für mein Kind, dass ich es schaffe, dass sie alles bekommt, was sie braucht, um sich zu entfalten, um so zu werden, wie sie ist.

Ludwig, wann kommen Kinder von ihren Familien weg?

Ludwig Krausneker: Es muss wirklich „viel“ passieren, ehe Kinder aus ihrem Familiensystem herausgenommen werden. Wir wissen: Das Beste ist, wenn Kinder bei ihren Herkunftsfamilien aufwachsen. Es sind triftige Gründe, wenn das nicht mehr geht, beispielsweise wegen Gewalt oder grober Vernachlässigung.

… das hinterlässt bestimmt auch seelische Wunden und Narben bei Kindern, wie können Pflegefamilien damit umgehen?

Dieser Theorie folgend, müssten alle Kinder- und Jugendpsychiatrien nur mit Pflegekindern voll sein – und das ist nicht der Fall. Aus der Herkunftsfamilie herausgenommen werden zu müssen, ist natürlich kein idealer Start; einige Kinder stecken das gut weg, andere brauchen vielleicht etwas mehr Unterstützung. Auch deswegen gibt es Einrichtungen wie affido: Durch unsere enge Begleitung kann man sehr viel kompensieren, das gelingt ganz vielen Familien und in vielen Bereichen.

Manchmal bekommt ein Kind im Krankenhaus eine Pflegemama bzw. einen Pflegepapa, weil es schon klar ist, dass nur so ein sicheres Umfeld garantiert werden kann – und um dem Neugeborenen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Moodbild Familie
© Juliane Liebermann/Unsplash
Antonia, deine Tochter war neun Monate alt, als sie zu dir kam. Wieso keine Adoption?

Für Adoption gibt es meist lange Wartezeiten und man ist schnell zu alt dafür. Für mich macht das Pflegesystem mehr Sinn. Außerdem ist es durchaus angenehm, wenn man Unterstützung bekommt – ich habe das gerne, wenn mich mein MA11-Sozialarbeiter regelmäßig fragt: „Frau Stabinger, wie geht es Ihnen und Ihrem Kind?“ Natürlich ist er auch da, um zu kontrollieren, dass mein Kind bei mir sicher und gut aufgehoben ist.

Was waren deine größten Sorgen?

Dass meine Tochter wieder zu ihrer leiblichen Mutter zurückkommt. Ich habe erst vor Kurzem wieder über den Terminus Pflegemutter nachgedacht; er klingt nach einer temporären Betreuung, nicht nach echten Eltern. Aber das stimmt nicht. Ich bin ein vollwertiger Elternteil (auf dem Papier bis zum 18. Lebensjahr, Anm.). Ich habe im Zuge der Ausbildung erfahren, dass nur 1 bis 3 Prozent in ihre Herkunftsfamilien zurückgehen. Das war für mich ein Risiko, das ich bereit war, einzugehen. Aber wenn das Kind dann eingezogen ist, sind auch 1 bis 3 Prozent nicht ohne. Ich persönlich habe es für mich jetzt eingeordnet als etwas, das manchmal im Leben passieren kann und das man nicht kontrollieren kann – einen schlimmen Unfall zum Beispiel. Das gehört eben dazu. Es wurde uns ausdrücklich gesagt: Wenn das unvorstellbar ist, dass das Kind in die Herkunftsfamilie zurückgeht, darf man es nicht machen. Man hat uns durchaus schockierende Fallbeispiele erzählt; aber es wurde weder schwarz gemalt, noch schöngeredet.

Das Interessante nach einem Jahr ist, dass der soziale Aspekt, also meine eigentliche Motivation, komplett in den Hintergrund gerückt ist. Es ist jetzt einfach mein Kind – und sie ist ein so cooles Kind (sehr strahlend)! Es ist natürlich auch anstrengend und spannend, welche Seiten es in einem herausholt. Ich habe neue Aspekte über mich gelernt (lacht)!

Welche?

Wie wütend ich werden kann. Dass ich so gechallenged sein kann, dass ich aus dem Raum gehen muss, um kurz zu schreien (lacht)! Aber um meine Vorbereitung und die Ausbildung beneiden mich oft Eltern mit leiblichen Kindern. Ein „klassisches“ Heteropaar macht sich vorher oft nicht allzu viele Gedanken. Wer setzt sich zehn Monate in einen Kurs, um zu reflektieren: Will ich das wirklich? Geht es sich finanziell, organisatorisch und logistisch aus? Ob für gleichgeschlechtliche Paare oder Alleinerziehende, für alle, die vom Modell Vater-Mutter-Kind abweichen, ist diese Entscheidung langwierig und aufwändig. Das hat aber vielleicht auch Vorteile bei einem so großen, existenziellen Thema, bei der man ja immerhin die Verantwortung für einen Menschen übernimmt. Das ist ja keine Anschaffung von einem Gerät, einem neuen Handy. Es gibt da Unterschiede! Achtung, ein Kind kann man zum Beispiel weder muten noch abschalten!

Psychologe Ludwig Krausneker und Kabarettistin Antonia Stabinger
Psychologe Ludwig Krausneker und Kabarettistin Antonia Stabinger © affido

Wir wünschen uns, dass es mehr Bewusstsein dafür gibt und eine Pflegefamilie als normale Familienform in den Köpfen Einzug hält.

Ihr habt im Mai mit dem Podcast „Kreisrund mit Ecken“ gestartet. Mit welchen Zielen?

Ludwig: Vor allem um Werbung für dieses Modell zu machen, weil es viel zu wenig bekannt ist. Wir wollen Pflegefamilien auch eine gewisse Bühne geben, Pflegemamas und -papas erfüllen rund um die Uhr eine sehr wichtige Aufgabe. Wir können ganz klar sagen: Es gibt mehr Pflegekinder, als es Plätze gibt. Wir haben uns vorgenommen, jene Gründe zu ändern, die wir ändern können. Dazu gehört es, Ängste und Vorbehalte zu nehmen. Wir wünschen uns, dass es mehr Bewusstsein dafür gibt und eine Pflegefamilie als normale Familienform in den Köpfen Einzug hält.

Antonia, wie hat sich dein Leben verändert?

Ich habe zuvor viel gearbeitet, weil mein Beruf auch mein Hobby ist. Aber in den letzten Jahren habe ich Lust bekommen, auch eine andere Art von Arbeit zu machen – Care-Arbeit. Und mit meinem Kind Zeit zu verbringen, gefällt mir wirklich sehr gut! Was nervig ist, ist der Haushalt: Die ganze Zeit kochen, putzen, Wäsche waschen, wegräumen, … – das ist verzichtbar. Ich verstehe jetzt noch mehr, warum jahrhundertelang der Hälfte der Gesellschaft eingeredet wurde: Ihr seid dazu geboren, diese Arbeit gratis zu machen. Überhaupt nicht fair, aber ich verstehe, dass das echt praktisch war.

Wer sind eure Gesprächspartner*innen beim Podcast?

Ludwig: Uns ist eine Mischung aus Pflegemamas, -papas und -familien wichtig – und ebenso aus Professionist*innen, um möglichst viel Einblick in das Modell Pflegefamilie zu geben. Wir haben bereits sehr unterschiedliche Gäst*innen getroffen und obwohl es mein Beruf ist, berühren auch mich ihre Geschichten sehr. Jede ist individuell, so wie jedes Kind und jede Familie unterschiedlich ist; wir hören – mit all ihren Höhen und Tiefen – viele Erfolgsgeschichten voller schöner Momente. Schon unsere erste Gästin, eine Ärztin mit zwei Pflegekindern, hat eine so ansteckende Art.

Mood Podcast "Kreisrund mit Ecken"
© affido
Was brauchen Kinder?

Ludwig: Das ist ein sehr hoher Anspruch an Eltern, aber vor allem Verständnis für die Kinder – für ihr Erleben und ihre Herkunft. Sie brauchen Beziehungskonstanz, Wertschätzung und bedingungslose Liebe. Die bräuchten auch Eltern …

Antonia: Wer gibt ihnen die? Das Kind sicher nicht, das Kind stellt viele Bedingungen (lacht). Ich bin neu in dem Business, aber vom Gefühl her würde ich auch sagen: Kinder brauchen Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, etwas tun zu müssen – sie brauchen eine Begleitung beim Aufwachsen.
Ich wünsche mir für mein Kind, dass ich es schaffe, dass sie alles bekommt, was sie braucht, um sich zu entfalten, um so zu werden, wie sie ist. Ich wünsche mir höchstens, dass sie später in keinem menschenverachtenden Beruf arbeitet, aber davon abgesehen soll sie bitte werden, was sie will.

Der Podcast „Kreisrund mit Ecken“ ist ein kleines A bis Z für alle, die in die vielfältige Welt von Pflegefamilien eintauchen wollen. Die vom Verein affido initiierte Gesprächsreihe wurde im Mai 2024 gestartet, jeden Mittwoch erscheint eine neue Folge. Dabei wechseln einander kurze, informative „Nachgefragt“-Sendungen und Gespräche mit den beiden Hosts Ludwig Krausneker und Antonia Stabinger ab. Der Psychologe und die Kabarettistin und Pflegemama plaudern dabei mit Pflegefamilien, Berater*innen und Expert*innen über das Schöne und die Herausforderungen der besonderen Familienform – jeweils mit ganz viel Gänsehaut- und Lerngarantie.

Antonia Stabinger ist Kabarettistin und seit 2009 erfolgreich mit dem mehrfach ausgezeichneten Kabarett-Duo „Flüsterzweieck“ in Österreich, Deutschland und der Schweiz unterwegs. Sie gastiert regelmäßig in ORF-Shows wie „Was gibt es Neues?“ oder „Pratersterne“, für FM4 schreibt und spricht sie die Politsatire-Kolumne „Die Zudeckerin“ und produziert Hörspiele mit dem Kollektiv „Das magische Auge“. Im Herbst 2024 präsentiert sie ihr erstes Solo-Programm „Angenehm“. Seit einem Jahr ist sie Pflegemama einer heute knapp zwei Jahre alten Tochter.

Ludwig Krausneker studierte Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und absolvierte parallel das Psychotherapeutische Propädeutikum. Die klinische Ausbildung machte er an einer Kinder- und Jugend-Psychosomatik-Abteilung in Oberösterreich. Seit 2023 ist Krausneker bei affido in der Steiermark als Pflegefamilienberater und Psychologe tätig.

Podcast

Antonia Stabinger

Infos Pflegefamilie

Toxische Pommes Maria Muhar Stadtsaal

TikTok-Star und Autorin Toxische Pommes (mit bürgerlichem Namen Irina, Nachname unbekannt) wird am 14. Juni mit ihrem Bühnenprogramm „Ketchup, Mayo und Ajvar“ die österreichische Gesellschaft und Seele demaskieren, denn als „schönes Ausländerkind“ weiß sie ganz genau, wie Rassismus, Sexismus und Klassismus den Alltag prägen können. Autorin und Kabarettistin Maria Muhar widmet sich am selben Abend in ihrem Programm „Storno“ alltäglichen und substanziellen Themen rund um ihre Freundin, deren Nachwuchs und die wenige Zeit, die bleibt zwischen Timelines, Deadlines, Tiervideos und Terminen beim AMS. Ein Gespräch mit den Künstlerinnen über Inspiration, Migration und Identität.

funk tank: Liebe Irina, liebe Maria, am 14. Juni werden Sie sich die Bühne vom Wiener Stadtsaal teilen, nicht gemeinsam, sondern nacheinander. Wie kommt es dazu, kennen Sie sich?

Maria Muhar: Ich wurde vom Stadtsaal angefragt, ob ich Lust hätte, einen Abend mit Irina zu teilen, und nachdem ich großer Fan von Toxische Pommes bin und Irina auch persönlich sehr schätze, habe ich zugesagt – und Irina scheinbar auch (lacht). Ich freue mich jedenfalls schon sehr drauf!

Irina habe ich in unterschiedlichen Kontexten kennengelernt: Einerseits natürlich über ihre super Videos auf Social Media, dann aber auch bei gemeinsamen Treffen des Netzwerks „Komische Frauen“ – ein Zusammenschluss von unterschiedlichen Künstler*innen, die alle vereint, dass ihre Arbeit von einem humoristischen Zugang geprägt ist. Im Rahmen der Kabarettreihe „Comish“, die ich 2022 für die Wiener Festwochen kuratieren durfte, hatte ich dann auch das Glück, Toxische Pommes mit einem künstlerischen Beitrag einladen zu können.

Künstlerin Maria Muhar
Künstlerin Maria Muhar © Apollonia Theresa Bitzan

Wenn es trotzdem mal ganz arg ist, stell ich mir vor, dass ja nicht ich auf die Bühne gehen muss, sondern meine Bühnenfigur, die generell ein bissl eine härtere Sau ist als ich selbst.

Frau Muhar, für Ihr Solo-Programm „Storno“ wurden Sie bereits mit dem Österreichischen Kabarettpreis ausgezeichnet. Neben Texten für die Bühne haben Sie den Roman „Lento Violento“ verfasst. Wovon und von wem lassen Sie sich für Ihre Arbeiten inspirieren?

Die Inspiration kommt von vielen Seiten – mal ist es das persönliche Umfeld, mal die Kunst- und Kulturszene oder politische und gesellschaftliche Dynamiken, die mich (zwangsläufig …) beschäftigen.

Gesellschaftspolitische Themen finden in Ihren Werken genauso Platz wie private Gedanken und Struggles. Die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Humor zu finden, stelle ich mir schwierig vor. Immerhin erwarten Besucher*innen eines Kabaretts ja auch einige Lacher. Wie gelingt Ihnen diese Balance und was tun Sie, wenn Ihnen persönlich einmal nicht mehr zum Lachen ist?

Natürlich habe ich den Anspruch, dass mein Soloprogramm auch zum Lachen ist – sonst hätte ich es nicht als Kabarett bezeichnet, sondern vielleicht eher als Theatermonolog oder Sprechperformance. Trotzdem gibt es darin auch Stellen, die eher tragisch oder vielleicht sogar traurig sind. Aber genau das macht den speziellen Reiz für mich aus: Im Kabarett kann das Profane direkt neben dem Existenziellen stehen, und das mit einer fast anarchischen Selbstverständlichkeit! Damit kann man als Künstlerin einfach steile Bühnenmomente erzeugen.

Texte zu schreiben ist das Eine, live aufzutreten und die Reaktion der Zuseher*innen mitzubekommen, das Andere. Kennen Sie Lampenfieber und wie gehen Sie damit um?

Ja, das Lampenfieber ist fix noch ein Thema bei mir, aber es wird (klopft auf Holz) immer weniger schlimm. Und wenn es trotzdem mal ganz arg ist, stell ich mir vor, dass ja nicht ich auf die Bühne gehen muss, sondern meine Bühnenfigur, die generell ein bissl eine härtere Sau ist als ich selbst. Das ist vielleicht ein Vorteil, wenn man ein Programm hat, bei dem die Bühnenfigur – zumindest was die Attitude betrifft – von der Privatperson abweicht: Man kann sich die Arbeit also, je nach persönlichen Stärken und Schwächen, manchmal aufteilen (lacht).

Ihr Satire-Stück „Wirecard: Last Exit Bad Vöslau“ im Theater am Werk im April beleuchtete den Wirecard-Skandal. Eine realistische Abrechnung mit den skrupellosen Akteuren oder eine Utopie mit Hoffnungsschimmer – was wurde es und was hat Sie an der Thematik gereizt?

Also eine Utopie mit Hoffnungsschimmer habe ich leider nicht in das Stück reingeschrieben – dafür lässt nicht nur die Realvorlage des Stoffs wenig Raum, sondern auch die gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die solche Skandale ja noch immer befeuern. Was ich aber schon versucht habe umzusetzen, ist – zumindest für einen Theater-Abend lang – gemeinsam darüber lachen zu können. Auch die Möglichkeit, diese machtgeilen Protagonisten in Situationen zu schreiben, die sie sich ausnahmsweise mal nicht ausgesucht haben, hat mir eine diebische Freude bereitet. Idealerweise ist es ein Abend, an dem man bitter-süß über toxische und phasenweise komplett traurige Männlichkeit gemeinsam lachen kann.

Künstlerin Toxische Pommes
Künstlerin Toxische Pommes © Muhassad Al Ani

Ich glaube ganz allgemein, dass wir Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten in unserer Identität viel besser aushalten, als wir denken – wir alle sind Menschen mit einzigartigen Geschichten und Schicksalen, in den seltensten Fällen lassen wir uns in vorgefertigte Stereotype und Schablonen pressen.

Liebe Irina, bekannt wurden Sie durch humoristische, gesellschaftskritische Videos auf TikTok und Instagram unter dem Pseudonym Toxische Pommes. Mittlerweile haben Sie ein Kabarett-Programm und ein Buch geschrieben. Eine geplante Karriere oder reiner Zufall?

Irina/Toxische Pommes: Anfangs ein glücklicher Zufall, mittlerweile ein zweiter Beruf.

Ihr Roman „Ein schönes Ausländerkind“ ist diesen April erschienen. Wie viel in diesem Buch ist Fiktion und wie viel erzählt von Ihrem Leben?

Die Antwort auf diese Frage überlasse ich gerne der Fantasie der Leser*innen. Ich arbeite oft ausgehend von persönlichem Material, das ich dann im Weiteren verändere und modelliere, um die Geschichte zu erzählen, die ich möchte.

Gleich zu Beginn des Buches beschreiben Sie ein „perfektes Leben“ als „perfekte Migrantin“ in Österreich – mit sicherem Job als Juristin im 1. Bezirk in Wien – das jedoch unzufrieden und unglücklich macht. Sie selbst wollten auch immer perfekt sein, Ihr Lebenslauf scheint lückenlos und vorbildlich. Woher kommt der Drang hin zur Perfektion?

In dem Buch geht es um zwei Geschichten: Eine der „perfekten Integration“ – was auch immer das heißen mag – und um eine gescheiterte Integration, auf der auch der Fokus des Romans liegt. Wie hängen die beiden Geschichten zusammen? War die „perfekte Integration“ der Tochter nur möglich, indem sie ihren Vater aufgibt, dass sich ihr Vater letztlich sogar selbst aufgibt? Was kostet es, nach Österreich einzuwandern und nicht aufgrund der Geburtslotterie hier zu landen und die Staatsbürgerschaft zur Geburt geschenkt zu bekommen? Wie geht es Menschen, die in Österreich nie ankommen (können), niemals Anschluss an die Gesellschaft finden und sozial vereinsamen?

Wie vereinbaren Sie den „strengen“ Beruf als Juristin mit Ihrem medialen Leben als Social-Media-Star, Kabarettistin und Autorin?

Ich bin mir zwar nicht sicher, was „streng“ in diesem Kontext bedeutet, aber ich finde, dass sich Künstler*innen oft viel wichtiger nehmen als Jurist*innen. Und am Ende des Tages sitze ich bei allen drei Tätigkeiten zu einem großen Teil vor einem Bildschirm und überlege, wie ich eine Geschichte erzählen und sie argumentieren kann.

Im Buch wird u. a. das Klischee der „faulen Ausländer*innen“ thematisiert. Und gleichzeitig jedes Klischee auf den Kopf gestellt. Ein Vater, der Hausmann ist, eine Mutter, die arbeitet, eine Tochter mit Bestnoten. Das klingt alles sehr positiv und modern – viele Österreicher*innen leben weitaus konservativer, gerade was die Rollenverteilung angeht. Sind Sie und Ihre Familie die „idealen Vorzeigemigrant*innen“ oder trügt der Schein?

Ich finde Klischees recht langweilig. Ich wollte in erster Linie eine Geschichte erzählen, die ich im breit-medialen Diskurs vermisse: ein ehrliches Porträt eines nicht integrierten Menschen, der genauso viel Empathie und Verständnis verdient wie jeder andere Mensch auch.

Sie sprechen von einem Leben, in dem Sie „die Ausländerin in sich wegintegriert“ haben. Wollten Sie um jeden Preis Ihre Wurzeln loswerden, um hier anerkannt zu werden? Sehen Sie sich heute mehr als Österreicherin oder Kroatin?

Diese Frage war für mich ehrlich gesagt nie relevant, bis sie mir von autochthonen Österreicher*innen gestellt wurde. Ich glaube ganz allgemein, dass wir Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten in unserer Identität viel besser aushalten, als wir denken – wir alle sind Menschen mit einzigartigen Geschichten und Schicksalen, in den seltensten Fällen lassen wir uns in vorgefertigte Stereotype und Schablonen pressen.

Die Migrationspolitik in Österreich ist teilweise fragwürdig und asozial. Was gehört Ihrer Meinung nach auf politischer Ebene verändert, um ein faires und friedliches Miteinander zu fördern? Und was wünschen Sie sich diesbezüglich von den österr. Bürger*innen?

Zu viel für diesen Rahmen. Was ich mir jedoch generell wünsche und schon lange vermisse, sind politische Parteien mit innovativen Ideen und Inhalten, die nicht nur reaktiv sind, der Machterhaltung dienen oder ausschließlich daraus bestehen, eine andere Partei in der Regierung zu verhindern.

Was erwarten Sie sich von dem Abend im Stadtsaal und mit welchem Gefühl/mit welchen Gedanken wollen Sie die Besucher*innen nach Hause verabschieden?

Irina/Toxische Pommes: Dass die Leute nicht das Gefühl haben, ihr Geld weggeschmissen zu haben.

Maria Muhar: Ich glaube, es könnte ein cooler Abend werden – vor allem für die Leute, die vielleicht schon vorhatten, sich diese zwei sehr unterschiedlichen Programme anzuschauen und das jetzt an einem Abend kombinieren können (lacht). Ich freu mich jedenfalls schon extrem drauf, zumal es ja auch meine Stadtsaal-Premiere ist!

Maria Muhar schreibt Prosa, Lyrik und Bühnentexte. 2022 erschien ihr Debütroman „Lento Violento“; im selben Jahr feierte ihr erstes Kabarettprogramm „Storno“ Premiere, das 2023 mit dem Österreichischen Kabarettpreis ausgezeichnet wurde.

Maria Muhar

Toxische Pommes heißt eigentlich Irina. Bekannt wurde die Künstlerin vor allem durch ihre Satirevideos auf TikTok und Instagram. Ihr Debütroman „Ein schönes Ausländerkind“ ist diesen April erschienen und behandelt u. a. Irinas Leben und Beobachtungen der österreichischen Gesellschaft und Seele, geprägt von Rassismus, Sexismus und Klassismus.

Toxische Pommes

Exklusiv für die funk tank Fangemeinde: Wir verlosen 2 x 2 Tickets für den Kabarett-Abend mit Toxische Pommes und Maria Muhar am 14. Juni 2024 ab 19.30 Uhr im Wiener Stadtsaal. Zum Gewinnspiel!

Kettcar Musik zum Denken und Fühlen

Mit dem sechsten Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ meldete sich Kettcar nach sieben Jahren Albumpause im April zurück. Das aktuelle Album nennt die Band selbst einen „Gemischtwarenladen“, denn hier findet sich sowohl harter Post-Punk als auch ruhige Romantik. Was nie fehlt: Texte zum Nachdenken mit viel Tiefgang …

funk tank: Wer Kettcar kennt und schätzt, liebt vor allem auch die Kombination aus Leichtigkeit und Tiefe eurer Texte und Musik – inwiefern hat sich euer Zugang zum Musikmachen und Texten im Laufe der Jahre verändert? Auch hinsichtlich Gesellschaftskritik und Politik?

Reimer Bustorff: Das hängt einfach mit der jeweiligen Lebenssituation zusammen. Wir haben mit der Band angefangen, als wir Anfang der 30er waren. Marcus war mit seinem Studium fertig, ich habe mein Studium abgebrochen, weil wir dann das Label gegründet haben (Anm. d. Red.: Grand Hotel van Cleef). Beziehungen gingen auseinander. Da war ganz viel privat im Umbruch und es hat sich viel um einen selbst gekreist und das spiegelte sich dann auch in den Texten wider. Jetzt befinden wir uns in einer anderen Lebenssituation, jetzt hat man irgendwie seinen Weg gefunden.

Das aktuelle Album ist ja sehr politisch und gesellschaftskritisch. Ist es euch wichtig geworden, auch Aufklärungsarbeit zu betreiben?

Wir waren schon immer politisch denkende Menschen, wir haben uns mit Kettcar von Anfang an positioniert und das war uns seit jeher wichtig, aber der Blick auf die Gesellschaft hat sich verändert und erweitert und daher ist das jetzt auch Thema in unseren Texten. Die Aufklärungsarbeit passiert, niemand von uns ist missionarisch unterwegs, die Dinge kommen aus uns raus und wir schreiben nieder, was wir fühlen. Das ist ja diese ewige Diskussion, was und ob man was mit der Musik erreichen möchte. Uns ist schon klar, dass wir die Welt nicht verändern oder Frieden stiften können. Durch meine Sozialisation kann ich aber sagen: Hätte es Bands wie Fugazi oder Bad Religion nicht gegeben, wäre ich jetzt nicht hier. Insofern kann Musik schon Denkanstöße geben und so manch verlorene Seele retten bzw. ranholen.

Euer neues Album ist seit 5. April draußen! Gratulation dazu! Nach sieben Jahren Pause haut ihr so ein großartiges Ding raus. Mit Lyrics, aus denen man ein Buch machen könnte. Da tun die Texte manchmal weh, weil sie so treffend sind und man spürt so viel Emotion. Wie lange habt ihr am Album gearbeitet und wie leicht ist es euch gefallen?

Vielen Dank! Sieben Jahre Pause ist immer so ein großes Wort, stimmt natürlich nicht ganz, denn wir waren auch umtriebig nach dem letzten Album. Wir waren dann noch auf Tour, haben eine EP rausgebracht, haben Musik fürs Theater gemacht – „Kabale und Liebe“ von Schiller in Kiel. Dann kam die Pandemie und wir waren ein bisschen bequem. Natürlich hatten wir auch Druck, denn je länger du wartest mit dem neuen Album, umso größer wird die Erwartungshaltung von allen. Das Schöne ist, dass wir den Druck auf fünf Schultern verteilen können als Band. Wir haben vor ca. vier Jahren mit dem Album begonnen und dann gemeinsam daran gearbeitet.

Die Hamburger Band Kettcar
Kettcar sind: Christian Hake, Erik Langer, Marcus Wiebusch, Reimer Bustorff und Lars Wiebusch © Andreas Hornoff
Die Texte stammen von dir und Marcus?

Marcus ist eigentlich federführend und wir beide stecken dann die Köpfe zusammen. Wir machen viel zusammen, wir gehen zum Fußball, auf Konzerte, reden viel und versuchen dann, Themen zu finden, um uns einzunorden, wo die Reise hingehen soll. Jetzt ist es thematisch ein ganz schöner Gemischtwarenladen geworden (lacht).

Gibt es auch Streit und Unstimmigkeiten in so einem Prozess?

Streit will ich das nicht nennen, aber es gibt schon immer wieder Reibungspunkte, wo wir nicht klar beieinander sind. Es kann über Diskussionen hinausgehen, aber wir besprechen das dann in der ganzen Band. Ich schmeiße z. B. einen Text in die Runde und die anderen geben Feedback und so entsteht das Ganze dann, Stück für Stück. Und befruchtet sich. Man muss da natürlich manchmal Eitelkeiten über Bord werfen und das Ego zurückschrauben. Das ist nicht immer einfach, aber dessen sind wir uns bewusst.

Ihr seid einfach schon erfahren und lange zusammen.

Genau. Und erwachsen und vernunftbegabt. Es ist Wahnsinn (lacht).

Wie nehmt ihr die ersten Reaktionen aufs Album und die Tour wahr, seitens Publikum und Presse?

Eigentlich gibt es nur positives Feedback bisher. Das ist sehr schön.

Viele Musiker*innen in Deutschland haben gedacht, sie müssen nach Berlin gehen, um erfolgreich zu werden, da gab es ja einen Hype um die Stadt eine Zeit lang. Ihr seid in Hamburg geblieben. Was kann Hamburg, was Berlin nicht kann und umgekehrt? Welches Umfeld braucht es, um kreativ sein zu können?

Das ist eine schwierige Frage. Es braucht definitiv Raum und diesen Ort muss man suchen und finden. Diesen Raum gab es Anfang der 00er-Jahre in Berlin viel mehr, weil da viel Leerstand war, wo dann viele Partys und auch Musik gemacht wurden. Aber das ändert sich gerade, weil Berlin so wahnsinnig gentrifiziert wird. Das haben wir in Hamburg schon hinter uns. Ich fühle mich in Hamburg immer noch wohl, das ist immer noch unsere Stadt. Da haben wir die Plattenfirma, da haben wir unseren Proberaum, wir haben da eine perfekte Infrastruktur.

Reimer Bustorff im Interview in der Arena Wien
Reimer Bustorff im (unbewohnten) Schlafsaal der Wiener Arena im Interview mit funk tank © Alicia Weyrich

Hätte es Bands wie Fugazi oder Bad Religion nicht gegeben, wäre ich jetzt nicht hier. Insofern kann Musik schon Denkanstöße geben und so manch verlorene Seele retten bzw. ranholen.

Euer heutiges Konzert in Wien war sofort ausverkauft, daher gibt es am 25. Juli ein Zusatzkonzert in der Arena. Ich bin ja der größte Hamburgfan ever und finde, dass gerade, was den morbiden Humor und die Herzlichkeit betrifft, die ja da ist, aber die man sich ein bisschen erarbeiten muss, Wien und Hamburg verbindet. Welchen Bezug habt ihr zu Wien und den Wiener*innen?

Also für uns als deutschsprachige Band, die wenig rumkommt, ist es immer was Besonderes ins Ausland zu kommen. Wir spielen ja quasi immer in denselben Städten. Österreich und Schweiz sind da die Exoten für uns. Bei Wien lieben wir dieses Flair, es ist alles so gelassen und eine andere Lebensart. Wir waren vorher Fußball gucken im Lokal Jetzt und der Wirt war so herzlich, das ist schon sehr schön.

Zusammen mit Thees (Anm. d. Red.: Sänger und Autor Thees Uhlmann) und Marcus betreibst du das Hamburger Indie-Label Grand Hotel van Cleef. Was muss ein Künstler/eine Künstlerin haben, damit er/sie bei euch gesigned wird?

Wir entscheiden das meistens vom Herzen aus und gemeinsam, wir sind ja neben Thees und Marcus und mir noch ein größeres Team. Wir haben schon unterschiedliche Geschmäcker und Ansichten, wie was funktionieren kann. Es muss vor allem auch menschlich stimmen und wir gut miteinander klarkommen. Und ganz wichtig ist, dass die Idee, wohin man will, im Einklang ist. Als Künstler*in will man sofort mal eine Platte rausbringen. Und dann müssen wir vom Gas runter und sagen: Vielleicht zuerst mal auf Tour gehen und Konzerte spielen. Und überlegen: Wie finanzieren wir das? Rechnet sich das? Fast jede/r will ja davon leben können, das ist ein weiter Weg. Da gehört auch viel Glück dazu, nicht nur Talent. Wir haben das selber mit Kettcar auch erfahren, wir hatten auch Glück, dass wir zur richtigen Zeit den richtigen Sound gefunden haben und dann passte das auch fürs Gefühl für viele Leute. Das passiert halt nicht immer. Ich habe im Laufe der Label-Arbeit schon tolle Künstler*innen gesehen, wo dann nach dem 2. Album nichts mehr gelaufen ist und zu wenige Leute zu den Konzerten gekommen sind.

Welche Musiker*innen hörst du gerade am liebsten? In welche Platte müssen wir unbedingt hineinhören?

Shitney Beers, die hatten wir jetzt mit auf Tour. Die ist umwerfend, wahnsinnig charmant und charismatisch, die liegt mir sehr am Herzen. Und Christin Nichols ist bei uns auch mit auf Tour, wirklich toll, ein bisschen poppiger als Shitney, die mehr in die Indie-Richtung geht.

Endlich mehr Frauen auf Bühnen! Und überhaupt: Mehr Frauen im Musik-Biz!

Ja unbedingt, auch bei der Label-Arbeit haben wir früher immer nur mit Typen zu tun gehabt. Wir schauen jetzt im Büro, dass wir auch Frauen im Team haben, wir bilden ja auch aus als Veranstaltungskauffrau/Veranstaltungskaufmann. Wir teilen uns das Büro auch mit zwei Grafikerinnen, das ist wichtig für die Balance und Diversität.

Kettcar ist eine Indie-Rock-Band aus Hamburg. Ihr sechstes Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist im April erschienen. 12 Songs, die unter anderem Geschichten von, auf und über Bayreuth, Krankenhauszimmern, Rügen, dem Supermarkt, der Enterprise und der Blauen Lagune erzählen. Mal die Faust in der Tasche, mal das Herz im Hals – schroffe Post-Punk-Gewitter, Akustisches und Sprechgesang. Mit dem sechsten Studioalbum gastiert die Band diesen Sommer in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Am 25.7. spielen Kettcar in der Wiener Arena (Open Air), am 29.7. in Graz (Kasematten) und am 31.8. in Linz (Posthof) zusammen mit Thees Uhlmann.

Kettcar

Emilia Roig – Das Ende des Kapitalismus

Mehr Liebe – das wünscht sich Emilia Roig für unsere Welt. Die französische Politologin und Aktivistin gründete 2017 in Berlin das Center for Intersectional Justice, einen gemeinnützigen Verein mit dem Ziel, Diskriminierung zu bekämpfen. Sie hat außerdem bereits mehrere Bücher geschrieben und initiiert, wie etwa Unlearn Patriarchy 2. Den feministischen Sammelband hat sie zusammen mit Silvie Horch und Alexandra Zykunov herausgegeben. Die Autorinnen der Essays blicken hinter männliche Machtstrukturen, entlarven patriarchale Prägungen und zeigen Möglichkeiten auf, wie wir aus dem kapitalistischen System endlich ausbrechen können. Und genau darum ging’s auch in unserem Interview. Ein Gespräch, das Mut macht.

funk tank: Wie definieren Sie Feminismus für sich, angesichts der unterschiedlichen Interpretationen?

Emilia Roig: Es ist für mich eine Befreiungsbewegung, ein kollektives, aber auch individuelles Projekt mit dem Ziel, uns vom bedrückenden Patriarchat zu befreien.

Wann denken Sie, werden wir das geschafft haben?

Unser kapitalistisches System beruht auf Ungleichheit. Viele betrachten das als Fehler des Systems. Doch die Wahrheit ist, dass es genauso entworfen wurde und einwandfrei funktioniert. Die Beseitigung von Diskriminierung gestaltet sich schwierig, da sie für das Überleben des Systems essenziell ist. Ein tiefgreifender Paradigmenwechsel, der nicht auf Trennung, Kontrolle und Herrschaft basiert, ist daher dringend erforderlich. Der erste Schritt besteht darin, diese toxischen Dynamiken zu entlarven, um daraufhin eine neue Welt aufbauen und etablieren zu können. Dies ist das Ziel unserer Bücher – Menschen dazu zu bewegen, die Realität anzuerkennen. Wir müssen den Mut haben, Institutionen grundlegend und immer wieder in Frage zu stellen.

Sie sprechen von einer neuen Welt. Ist das eine Utopie oder kann sie tatsächlich Realität werden?

Jedes Leben, Ihres, meines, war einmal Utopie, bevor es Wirklichkeit wurde. Wir sollten nicht zu schnell etwas als unrealistisch abtun, nur weil es utopisch erscheint. Wir brauchen dieses revolutionäre Denken.

Zwei Jahre nach Ihrem ersten erfolgreichen Sammelband erscheint nun eine Fortsetzung. Was hat sich seither getan?

Nichts Positives. Die Bedrohung der Frauenrechte nimmt durch den wachsenden Einfluss populistischer und rechtsradikaler Kräfte in ganz Europa stetig zu. Das ist besorgniserregend, da alle Fortschritte der letzten Jahrzehnte in Gefahr sind.

Welche Passage im Buch hat Sie am meisten berührt?

Es wäre vermessen zu sagen, es sei nur eine. Alle Texte sind gleichermaßen wichtig und stark, allen voran der von Rebecca Maskos über Ableismus. Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen wird in unserer Gesellschaft oft ausgeblendet und ignoriert.

Buchcover "Unlearn Patriarchy 2" von Emilia Roig
© Ullstein

Wir sollten nicht zu schnell etwas als unrealistisch abtun, nur weil es utopisch erscheint. Wir brauchen dieses revolutionäre Denken.

Cover "Das Ende einer Ehe" von Emilia Roig
© Ullstein
Im Buch steht der Satz: „Patriarchat bedeutet auch, dass nicht nur Frauen diskriminiert werden.“ Welche Diskriminierungsformen sind noch Teil des Patriarchats, die uns im Alltag oft gar nicht bewusst sind?

Körpernormen, Erziehung, der Gender Pay Gap, aber auch Architektur, Mental Health und Medizin – überall wirkt das Patriarchat. Kein Bereich bleibt von der Macht der Männer unberührt. In der Medizin beispielsweise wird der männliche Körper als Standard betrachtet. Es ist erwiesen, dass die Schmerzen von Frauen und schwarzen Menschen weniger ernst genommen werden als die von Männern und weißen Menschen. Auch bei der Gestaltung von Städten überwiegt die männliche Perspektive.

Im Vorwort schreiben Sie: „Vielleicht sind wir endlich mal an einem Punkt in der Geschichte, an dem Frauen einfach gar nichts mehr müssen. Stattdessen sind jetzt endlich mal die Institutionen dran, und die Männer, in deren Hand die meiste Macht heute immer noch liegt.“ Denken Sie, dass diese Männer tatsächlich aktiv werden und sich freiwillig aus ihrer Machtposition herausbewegen?

Natürlich haben sie kein Interesse daran, etwas zu verändern. Dieser Satz ist vielmehr als ein Appell an Frauen zu verstehen, dass wir nicht dauernd uns selbst in Frage stellen und glauben, wir setzen uns noch nicht genug für den Feminismus ein.

Welche gesellschaftliche Zukunft wünschen Sie sich?

Ich hoffe auf eine Gesellschaft der Fürsorge und Liebe. Gegenwärtig hat Macht durch Kapital den höchsten Wert. Aber wir sehen auch, dass diese Welt so nicht mehr funktioniert. Wir sind am Ende der kapitalistischen Ordnung angekommen.

Portraitfoto Aktivistin, Politologin und Autorin Emilia Roig
© Mohamed Badarne

Emilia Roig, 40, wuchs in der Nähe von Paris auf und lebt in Berlin. Sie ist eine deutsch-französische Politikwissenschaftlerin, Aktivistin und Autorin. Europaweit setzt sie sich für Vielfalt, Feminismus, soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus ein. 2017 gründete sie das „Center for Intersectional Justice“. Sie veröffentlichte u.a. die Bücher „Why we matter – Das Ende der Unterdrückung“ und „Das Ende der Ehe – Für Eine Revolution der Liebe“.

Emilia Roig

Gewalt und Grenzen – Migrationsforscherin Judith Kohlenberger

Am weitläufigen Grenzareal von Nickelsdorf stehen vorwiegend flache Gebäude und Containerbüros. Der Sturm hat an diesem sonnigen Februartag quasi freie Fahrt, um Bäuche in die Wände der offenen, scheinbar gerade leeren Versorgungszelte zu blasen. Während ich im Auto auf Judith Kohlenberger, mehrfach preisgekrönte Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien warte, tauchen vor dem geistigen Auge Bilder aus den vergangenen Jahren auf. 2015 wurden hier täglich Tausende von Menschen versorgt, die vorwiegend vor dem Krieg in Syrien flüchteten. Ab dem Februar 2022 waren es zum Großteil Flüchtende vor dem Krieg in der Ukraine.
Mit Büchern wie Das Fluchtparadox (Kremayr & Scheriau) oder So schaffen wir das (mit Othmar Karas, edition a) entfacht Judith Kohlenberger Diskussionen, ebenso wie mit ihrem Podcast Aufnahmebereit. Ihre Analysen und Fragen stoßen laufend viele neue Türen auf. Aktuell steckt sie erneut knietief in der Forschung einer Perspektive, die uns alle betrifft. Im Sommer erscheinen zwei neue Bücher darüber.

„Entschuldigung, es hat doch etwas länger gedauert“, sagt sie, als sie die Autotür öffnet. Mich stört es nicht, ich hatte genügend Lesestoff mitgenommen, und der Grund für den Hauch einer Verspätung ist ein gutes Zeichen dafür, dass es zuvor gute Gespräche waren. Um mich in Judith Kohlenbergers üppig bestückten Kalender zu quetschen, führen wir das Interview während einer Autofahrt zum nächsten Termin. Zudem erschien es uns passend, das Gespräch an der Grenze von Nickelsdorf zu starten. Die Eindrücke von den vorangehenden Unterhaltungen sind noch frisch.
Wir verlassen sozusagen das Grenzareal. Um erneut nach Österreich zu gelangen, muss ich mich von einer Seitenstraße in die wartende Autoschlange einreihen. Wer nicht genau schaut, hält mich für eine ungeduldige Dränglerin. Ich winke entschuldigend und lächle beschwichtigend dem nächsten Autofahrer zu, werde prompt mit einem wütenden Blick bestraft, und er drückt aufs Gas. Wie passend zu den Themen, die wir danach besprechen werden.

funk tank: Worum geht es in dem Forschungsprojekt, an dem du gerade arbeitest?

Judith Kohlenberger: Der Arbeitstitel lautet „Gewalt und Grenzen“. Es geht darum, wie das, was an unseren Grenzen passiert, die Gesellschaft nicht unberührt lässt. Auf vielfache Art.

Worauf basieren deine Recherchen?

Ich führe Interviews mit unterschiedlichen Ebenen der Aufnahmegesellschaft, inwiefern die Grenze oder die indirekte Erfahrung von Gewalt, die an der Grenze passiert, also die Zeugenschaft davon, sie verändert. Ich habe mit Flüchtlingshelfer*innen in Österreich, Deutschland, auf Lesbos und entlang der Balkanroute geredet und mit Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Supervisor*innen, die vor allem Flüchtlingshelfer*innen betreuen. Ich habe auch Grundwehrdiener, die in Kittsee oder Andau im Einsatz waren, getroffen – viele junge Burschen, die von ihrem Einsatz eine ganz andere Vorstellung hatten. Die nehmen auch etwas mit davon.

Wie mit Geflüchteten verfahren wird, hat eine Signalwirkung.

Mit wem hast du jetzt gerade gesprochen?

Mit den Grenzpolizist*innen in Nickelsdorf. Eine gute Basis für meine Arbeit hier ist, dass ich aus dieser Region komme. Ich bin in Wallern aufgewachsen, in der Nähe der Brücke von Andau, ein historisch wichtiger Ort. Ich wurde 1986, zur Zeit des Kalten Krieges, geboren, kannte noch den Eisernen Vorhang und kann mich an stundenlange Wartezeiten und Grenzstaus erinnern. Mit dem Beitritt Ungarns zum Schengener Abkommen und später zur EU war die Grenze nicht mehr spürbar. 2015 hat sie sich wieder stärker bemerkbar gemacht. Ich wollte schauen: Was bedeutet das hier für die tägliche Arbeit der Polizei?
Was ich aus allen Gesprächen mitgenommen habe: Die Sinnhaftigkeit der Aufgaben, dass beispielsweise gewissenhaft kontrolliert wird, ist für alle klar. Kommt es zu vielen Aufgriffen, wird die Arbeit dennoch als sehr belastend, als ein nie versiegender Strom erlebt. Hat man – zu Spitzenzeiten – etwa 100 Asylwerber*innen abgearbeitet, kommt der 101.
Den Grenzpolizist*innen ist sehr bewusst: Solange die Ursachen nicht angegangen werden, kann man noch so viele Zäune bauen, die Leute werden trotzdem kommen. Das hat mich beeindruckt, denn das belegt auch die Migrationsforschung. Ob das nun Trump ist mit build the wall oder ob es sich um Pläne in Europa handelt – nur die Politik tut so, als könnten Zäune Probleme lösen, die Menschen kämen dann über andere Wege.

Wie erleben die Grenzpolizist*innen die Migrant*innen?

Sehr differenziert. „Es gibt solche und solche“, sagen sie. Es kommen verarmte Menschen mit den letzten Mitteln, die sie haben, und Menschen, die vermögend sind. Manche seien kooperativ, manche präpotent. Sie begegnen – wenig überraschend – der gesamten Bandbreite der Menschheit. Betont wurde stets die Wichtigkeit der Kontrolle. Das ist auch ein großes Bedürfnis der Bevölkerung: Wenn Zuwanderung, dann in geordneter Form. Aber: Wir haben zu viele irreguläre und kaum reguläre Wege für Zuwanderung. Meine Interviews zeigten klar: Die Erkenntnisse aus der Migrationsforschung decken sich mit jenen aus der Praxis.

Was willst du konkret herausfinden?

Es geht darum zu schauen, wie Gewalt an der Grenze – physische oder bürokratische –, die den Schutz suchenden Migrant*innen angetan wird, peu à peu auch eine Gesellschaft im Inneren verändert. Wir verstehen Fluchtforschung als Demokratieforschung, weil Flucht nach Europa die Grundfesten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie betrifft. Meine These ist, dass die Bevölkerung in Ländern wie Ungarn oder Griechenland sukzessive daran gewöhnt wird, dass Rechtsbrüche nicht geahndet werden und dass Asylrecht laufend gebrochen wird – ohne juristische Folgen. Es gibt Videobeweise für Pushbacks der griechischen Küstenwache – ohne Konsequenzen. Das untergräbt die Grundfesten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wie mit Geflüchteten verfahren wird, hat eine Signalwirkung. Sie haben die Funktion eines Brandmelders: Obacht, da passiert etwas, das sich weiter fortsetzt, das weiter in die Gesellschaft hineinwirkt. Geflüchtete sind sozusagen der „weakest link“, das schwächste Glied, woran sich negative Entwicklungen als erstes zeigen.

Portraitfoto Judith Kohlenberger
© Christian Lendl

Wir beobachten eine immer stärker werdende Unverzeihlichkeit und Unversöhnlichkeit in der politischen Debatte. Man unterstellt dem Gegenüber zuerst einmal das Schlechtestmögliche anstatt des Bestmöglichen.

Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft „im Inneren“ aus?

Einerseits geht das Vertrauen in den Rechtsstaat Stück für Stück verloren, andererseits passiert eine Verrohung der Gesellschaft. Ein Gerichtsmediziner in Griechenland hat mir berichtet, dass es beim Grenzfluss Evros nahezu normal ist, dass dort menschliche Überreste ans Flussufer gespült werden, wo auch Kinder spielen. Oder: Man sitzt in einer lauen Sommernacht auf Lesbos auf der Terrasse und hört die Schreie von zurückgepushten Migrant*innen. Das macht natürlich etwas mit einer Grenzregion – die Bewohner*innen werden damit weitgehend alleine gelassen. Lesbos hat vorwiegend von Tourismus gelebt, das wird zunehmend schwieriger.
Das Problem ist: Es wird eine Seite gegen die andere ausgespielt. Der Frust der griechischen Bevölkerung wird auf die Flüchtlinge gelenkt. Das ist am einfachsten, darauf ist das System ausgelegt. Aber natürlich hätten die Flüchtlinge lieber andere Wege, als mit dem Schlauchboot zu kommen.

Buchcover "So schaffen wir das" von Judith Kohlenberger und Othmar Karas
© edition a
Wir hören von Remigrationsplänen, und ich erschrecke auch darüber, wie der Alltagsrassismus bei jungen Leuten zunimmt. Was ist los gerade?

Es brechen die Dämme, da ist eine neue gesellschaftliche Härte. Schon in den letzten Jahren, vor allem seit 2015, hat sich innerhalb der europäischen Gesellschaft etwas verhärtet, und dann kam auch noch die Pandemie. Wir beobachten eine immer stärker werdende Unverzeihlichkeit und Unversöhnlichkeit in der politischen Debatte. Man unterstellt dem Gegenüber zuerst einmal das Schlechtestmögliche anstatt des Bestmöglichen.

… wie der Autofahrer zuvor an der Grenze, dem ich freundlich zu verstehen geben wollte, dass ich nicht anders kann, als mich seitlich in die Autoschlange einzureihen.

Das Schwierigste ist, wenn man miteinander nicht mehr in irgendeine Form des Austauschs tritt. Da verhärtet sich etwas, absurderweise sogar innerhalb von linken Bewegungen. Die Verrohung passiert auch in Institutionen. AMS-Berater*innen und Mitarbeiter*innen von Behörden müssen immer mehr Deeskalationstrainings machen, weil das Aggressionspotenzial der Bevölkerung steigt. Es gibt Angriffe auf Rettungskräfte – nämlich von Patient*innen, die ein solch hohes Anspruchsdenken haben, dass sie „zuerst“ gerettet werden wollen. Selbst auf Obdachlose wird eingestochen … Das sind alles Symptome, und ich glaube, dass es einen Konnex dazu gibt, was an der Grenze passiert. Die Journalistin Franziska Grillmeier spricht von einem „Gürtel der Gewalt“. Es gibt seit 2015 zigtausende Grenztote, die den Kontinent säumen, natürlich hat das Auswirkungen auf das Innere der Gesellschaft.
Es macht auch einen Unterschied, wie man über diese Menschen redet. Vielfach wird eine dämonisierende Sprache verwendet, was nicht folgenlos bleibt. Wann übersetzt sich die gewaltvolle Sprache in eine gewaltvolle Tat? Das ist ein Einfallstor.

Was können, was müssen wir tun?

Die Zugewandtheit der Abhärtung und der Abschottung vorziehen. Es geht darum, sich immer die Menschlichkeit des Anderen zu vergegenwärtigen. Das ist das Problem an den sozialen Medien: Wenn du den anderen nicht mehr siehst, eskalieren die Dinge schneller.
Ich fand es sehr schön, was die Grenzpolizist*innen gesagt haben, nämlich: „Was uns alle trägt, ist, dass wir zusammen gehören. Wir sind eine Gemeinschaft.“
Was wir jedenfalls positiv sehen können: Die österreichischen Grenzpolizist*innen kennen das Fremdenrecht, und ich würde behaupten, außer in Ausnahmefällen passieren hierzulande keine Pushbacks. Nach der langen Reise, die oft Flüchtlinge hinter sich haben, ist Österreich das erste Land, in dem der Rechtsstaat zur Durchsetzung gebracht wird. In puncto Rechtsstaatlichkeit, auch und gerade im Asylbereich, könnten wir selbstbewusst als Vorbild auftreten.

Judith Kohlenberger und Viktoria Kery-Erdelyi
Judith Kohlenberger beim Auto-Interview mit Redakteurin Viktória Kery-Erdélyi © Viktória Kery-Erdélyi

Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin mit den Forschungsschwerpunkten Fluchtmigration und Humankapital (vor allem Bildung und Gesundheit), Integration und Zugehörigkeit, Frauen und Flucht sowie kulturelle Krisennarrative. Die mehrfach preisgekrönte Forscherin hat zahlreiche Sachbücher veröffentlicht und hostet den Podcast „Aufnahmebereit“, ein Wissenschaftsvermittlungsprojekt, das sich Ankommenden und Aufnehmenden in der modernen Migrationsgesellschaft widmet.

Judith Kohlenberger

Eigensinnig Wien Toni Woldrich Interview

Eigentlich wollte ich Toni Woldrich von „eigensinnig“ noch kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr treffen, um mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Per Mail kam dann eine sehr sympathische Antwort von ihm, an die ich mich sicher noch im kommenden Jahreswechsel-Stress gerne zurückerinnern werde und die mich ungemein entschleunigt hat. „Vor Weihnachten muss nicht alles fertig sein, daher schlage ich ein Treffen im Jänner vor.“ Eine Lebensweisheit, die man sich tätowieren lassen könnte, damit man sie nie vergisst.

Angekommen am Ulrichsplatz im 7. Bezirk führt mich Toni Woldrich durch seine Räume. Hier befinden sich sowohl Showroom und Store, als auch Atelier, Fotostudio, Büro und die hauseigene Schneiderei. Für andere ist der Jänner ja noch ein ruhiges Monat, wo langsam alle wieder ins Office zurückkehren. In der Modebranche jedoch ist der Jahresanfang schon mitten im Geschehen. Denn obwohl erst die Frühjahrskollektion vor der Türe steht, wird im Jänner schon längst an weiteren Kollektionen gearbeitet und der Verkauf nach Weihnachten boomt sowieso. Während Woldrich mir eine Kaffeetasse abwäscht, erzählt er mir, dass es bei „eigensinnig“ etwas anders abläuft als bei den meisten Marken, denn es gibt keine klassischen, saisonalen Kollektionen. Je nach Jahreszeit unterscheiden sich vor allem die Stoffe, manche Kreationen sind immer erhältlich. Die unkonventionelle Art wird uns im Laufe des Interviews noch oft begleiten …

funk tank: Ihr Label „eigensinnig wien“ existiert seit 2012 und steht – wie der Name schon andeutet – für außergewöhnliche Designermode. Was macht die Marke so speziell? Und wer ist die Zielgruppe?

Toni Woldrich: Wir stehen gerne zwischen den Stühlen und lieben die Paradoxie. Eigensinn kann man positiv und negativ werten, genauso wie die Farbe Schwarz, die bei uns dominiert. Schwarz kann Melancholie oder Poesie bedeuten, Arroganz oder Eleganz, Understatement sein, aber auch bedrohlich wirken. Wir lassen uns nicht so sehr in Schubladen einordnen. In diesem „Zwischen“ fühle ich mich sehr wohl. Es ist etwas total Produktives und gibt uns unheimlich viel Freiheit. Ohne Schublade müssen wir uns nicht rechtfertigen und können tun, was wir wollen. Wenn jemand kommt und sagt: „Das passt ja überhaupt nicht, weil es asymmetrisch oder komisch ist“, dann sage ich: „Ja, weil es eben auch nicht passen muss.“

Unsere Mode wird von Künstler*innen bis zu Bautechniker*innen getragen – geht man nur von den Berufen aus. Alle haben einen Eigensinn gemeinsam, nämlich den Anspruch auf Einzigartigkeit und Qualität. Es sind Personen, die eine gemeinsame Sicht auf eine spezielle Lebensweise haben. Wir haben Kund*innen aus der ganzen Welt.

Ist Mode Kunst?

Wir haben schon einen künstlerischen Anspruch an unsere Mode, aber trotzdem sind die Stücke keine freien Kunstwerke, denn schlussendlich machen wir produktbezogenes Design für Menschen, die das am Ende des Tages tragen. Schneiderhandwerk bedeutet auch, dass die Teile gut sitzen müssen und eine Passform haben. Wir bewegen uns also schon zwischen dem freien Kunstwerk und dem produktbezogenen Design. Manchmal schlägt das Pendel in die eine Richtung, manchmal in die andere. Genau genommen ist es aber Design, nicht Kunst.

Wer's gern noch individueller hat, für den bieten Sie neben dem Label auch Mode nach Maß an. Gibt es modetechnische Trends, die Sie nicht erfüllen wollen?

Was wir auf gar keinen Fall machen, ist kopieren. Wir haben immer wieder solche Anfragen, aber die lehnen wir ab. Vor allem, wenn es von anderen Designer*innen ist, speziell aus Österreich. Schwarz ist zeitlos und entgegen dem Trend. Insofern passen Hypes nicht wirklich zu uns.

Wir lieben es, etwas Spezielles zu kreieren. Es kam beispielsweise 2021 eine Anfrage einer Schweizer Freelance-Nonne, die einen eigensinnigen Habit wollte. Schwester Veronika ist dann nach Wien geflogen, und wir haben für sie einen dreiteiligen Habit entworfen – mit einer Haremshose, einer asymmetrischen Bluse und einem dekonstruierten Schleier aus schwerem belgischen Leinen. Der ist jetzt ihre Uniform. Oder unsere Arbeit für den Direktor vom Bruckner Orchester Linz, Norbert Trawöger. Für ihn haben wir zum heurigen Brucknerjahr einen Anzug mit dem Profil von Anton Bruckner entworfen, das sich vom Kragen über die Rückseite bis vorne über die Hose zieht. Wenn wir solche Sachen machen können, ist das natürlich eine schöne Herausforderung.

Wir stehen gerne zwischen den Stühlen und lieben die Paradoxie.

Wie entsteht dann eine solche Kreation konkret? Und wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

Das ist individuell, aber ich nehme mir immer Zeit, eine Person kennenzulernen, bevor ich mit dem Design beginne. Manchmal kommen mir schon die ersten Ideen während des Gesprächs, danach ist mein ganzes Team involviert, also die Schnitttechnikerin, die Schneiderin etc. Wichtig ist, sich in die Personen hineinversetzen zu können. Manche Kund*innen haben schon konkrete Vorstellungen, andere lassen mich tun. Am schönsten ist es natürlich, wenn man eine Carte Blanche hat, die Kund*innen einem vertrauen und ich uneingeschränkt entwerfen kann.

Das stellt man sich vielleicht anders vor, aber der Arbeitsalltag ist wie in anderen Kreativ-Bereichen auch: 70 Prozent bestehen aus organisatorischer und verwaltungstechnischer Arbeit, und nur ein kleiner Bereich ist der kreative Part.

Noch einmal kurz zurück zur Maßschneiderei. Wie kann man sich das preislich vorstellen? Kommen die Leute und haben ein Budgetlimit, oder wie gehen Sie da vor?

Natürlich sind die Kosten auch bei uns Thema, und wir haben nicht nur Kund*innen, wo Geld keine Rolle spielt (lacht). Zuerst sprechen wir einfach miteinander, und dann taste ich mich voran. Es kommt immer darauf an, was das Gegenüber möchte. Es macht einen Unterschied, ob es ein „klassischer“ Anzug oder ein sehr extravagantes Modell mit vielen Stunden Kreation vorab wird.

Stichwort Nachhaltigkeit. Mit welchen Materialien arbeiten Sie, wo und wie produzieren Sie?

Wir arbeiten mit natürlichen Materialien wie Leinen, Baumwolle, Seide, Wolle und Kaschmir. Das Leinen beziehe ich aus Belgien, und ich habe Lieferant*innen aus Italien und Frankreich, eigentlich kommt fast alles aus der EU, bis auf die japanische Baumwolle. Natürlich sind mir Qualität und Nachhaltigkeit wichtig. Auch das Design vom Stoff und Material spielt eine wichtige Rolle, um danach eigensinnige Mode machen zu können.   

Designer Toni Woldrich und Schneidermeisterin Tatiana von eigensinnig Wien
© Vinh-Phuoc Nguyen
Wie kamen Sie zum Modedesign und was hat dazu geführt, ein eigenes Label samt Store zu gründen und eröffnen?

Genauso wie die Farbe Schwarz wandelbar ist, so sehe ich mich eigentlich auch. Nach der Matura wollte ich unbedingt Steuerberater werden, dann habe ich ein Studium an der WU angefangen, ein Praktikum gemacht, und es war schnell klar, dass ich sicher kein Steuerberater werden will. Danach bin ich auf die TU gewechselt, weil mich Architektur interessiert hat – genau genommen Raumplanung, auch wegen der Soziologie. Zu der Zeit habe ich bei einer damals kleinen Baufirma begonnen – im Office-Management – und bin dort rasch aufgestiegen. Das Kreative hat mir aber gefehlt, und daher habe ich begonnen zu fotografieren. Ich habe mir einfach in der Westbahnstraße eine Leica gekauft und mit Street Photography begonnen. Als ich meine Fotos dann ausstellen wollte, wollte mich keine Wiener Galerie – logischerweise. Zufälligerweise stand damals in der Westbahnstraße ein Gebäude vor dem Abriss für ein Jahr lang leer, und ich habe es einfach angemietet und hatte plötzlich die Schlüssel zu 1000 Quadratmeter Nutzfläche. Dort haben sich andere Kreative eingemietet, und so bin ich in diese Welt eingetaucht. Den Job in der Baufirma habe ich gekündigt.

Kasimir Malewitsch hat einmal gesagt: „Anfang gut, alles gut.“ Das beschreibt das alles perfekt. Die Themen Leidenschaft und Mut spielten da einfach mit. Damals war ich jünger und mutiger. Heute muss ich mich manchmal wieder daran erinnern, dass es sich auszahlt, sich nicht immer zu viel Gedanken zu machen und einfach zu tun ...

Wie, wovon und von wem lassen Sie sich inspirieren?

Es gibt nichts, was mich nicht inspiriert, wenn ich offen dafür bin. Ein Gespräch mit einer Person, der ich auf der Straße begegne, eine Musik, die ich höre, ein Buch, das ich lese, Kleinigkeiten, die ich irgendwo auffange. Im Kopf bin ich eigentlich ständig am Kreieren. Und irgendwann kommt es dann aufs Papier. Zum Beispiel bin ich unlängst am Rücken am Teppich gelegen und habe Heavy Metal gehört. Das tue ich selten, aber es hat grad „Unsainted“ von Slipknot gespielt. Ich hatte schon den ganzen Tag irgendwas mit einem Herrenmantel im Kopf. Während des Songs sind mir die Ideen zum Mantel gekommen, und ich habe das Lied in Dauerschleife gehört und eine Skizze gezeichnet. Vielleicht werde ich den Mantel dann auch wirklich „Unsainted“ nennen, wenn ich ihn zur Herbst-Winter-Kollektion herausbringe.

Was kann, darf und muss Mode?

Alles, außer Farbe (lacht).

In der High Fashion sind große Größen leider immer noch nicht selbstverständlich, am Catwalk namhafter Designer*innen zwar präsenter als noch vor ein paar Jahren, aber dennoch seltener als gedacht. Und das, obwohl Frauen im deutschsprachigen Raum durchschnittlich Größe 42/44 tragen. Da wird oft von „Plus-Size“ geredet, was eigentlich als „normal“ gelten sollte. Wie sehen Sie diese Entwicklung und Einordnung bzw. Beurteilung?

Den allgemeinen Trend kenne ich nicht, aber wir haben Mode von Größe XXS bis Größe XXXL/ XXXXL und Maßanfertigungen. Unabhängig von Figur und Alter sollte jede Person eigensinnig sein können. Wir sind ja neben der Maßschneiderei auch Änderungsschneiderei, und was nicht passt, wird passend gemacht.

Mode von Toni Woldrich und eigensinnig Wien
© Toni Woldrich
Model-Shows wie „Germany's Next Topmodel“ und diverse Blogger*innen-Accounts schüren diesen Schönheitswahn ja auch. Schauen Sie solche Shows und tangiert Sie Social Media?

Ich glaube, ich habe Germany's Next Topmodel am Anfang einmal angeschaut und dann nie wieder. Es geht da ja nicht um Echtheit, und das alles ist reine Inszenierung – eine Person wird also zu einem Menschen gemacht, wie er oder sie sein soll. Das passt gar nicht zum Eigensinn und zu meiner Ideologie. Auch Social Media tangiert mich nicht wirklich.

Was raten Sie einer jungen Designerin/einem jungen Designer, um erfolgreich in der Modebranche bestehen zu können?

Ich glaube, man sollte einfach dem folgen, wer man ist und was man machen möchte und damit nicht aufhören, nicht zurückstecken, nicht beim geringsten Widerstand gleich Nein sagen und immer den Sinn im Tun sehen. Manchmal tut man eben Sinnloses, das gehört dazu. Mut bedeutet auch, abgetretene Pfade zu verlassen und dazu zu stehen. „Wege entstehen beim Gehen“, da halte ich mich an Franz Kafka

Toni Woldrich ist Eigentümer und Designer vom Wiener Modelabel „eigensinnig“. Der Sitz im 7. Bezirk vereint Designerlabel und Modegeschäft, Maßschneiderei und Änderungsschneiderei sowie Kreativstudio und Experimentier-Werkstatt. Die Avantgarde Mode in Schwarz ist für Individualist*innen, die sich ausdrücken wollen und Wert auf Qualität legen.

eigensinnig Wien

Jannis Niewöhner Stella Ein Leben

„Ihr seid nicht verantwortlich dafür, was geschah, aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
Dieser Satz erscheint im Abspann vom neuen Kinofilm „Stella. Ein Leben.“ (Filmstart – Deutschland: 18. Jänner 2024, Österreich: 16. Februar 2024). Er stammt von einem Menschen, der das Konzentrationslager überlebte.
Einen Tag später erzählt mir meine Tochter, dass sie ein mit Bleistift gezeichnetes Hakenkreuz auf einer Schulbank in der Klasse entdeckte. Wegradieren ist zu wenig, besprechen wir, und ich denke an die Worte im Abspann – von „Stella“, den Kilian Riedhof nach Stella Goldschlags wahrer Geschichte auf die Leinwand bringt. Paula Beer verkörpert sie und bringt sie so nahe, dass man beinahe ihren Herzschlag hört.
Stella ist gerade einmal volljährig, als sie beginnt, mit ihrer Big Band aufzutreten. Sie ist schön, ihre Ausstrahlung ein Feuerwerk, sie träumt von einer Karriere in den USA. Wenige Jahre später trägt sie einen Judenstern, und der Kampf ums Überleben bringt das Dunkelste aus ihr hervor: Stella Goldschlag wird „Greiferin“, sie verrät Juden und Jüdinnen, sogar einstige Freund*innen. An ihrer Seite: Rolf Isaaksohn, ebenso schön und skrupellos in seinem Tun. „Rolf geht über Leichen, wenn es sein muss“, zitierte Der Spiegel seine eigene Mutter. Ihn spielt Jannis Niewöhner mit solch beeindruckender Leichtigkeit, dass man als Zuschauer*in ständig über die für Rolf weitgehend zu Unrecht empfundene Sympathie stolpert. Seit seiner Jugend steht Jannis Niewöhner vor der Kamera, seine Laufbahn ist ein spektakulärer Ritt durch alle Genres, eine Vielzahl an Preisen säumen seinen Weg (siehe Bio unten). Wir trafen ihn zum Kinostart von „Stella. Ein Leben.“ …

funk tank: Ich werde noch lange brauchen, um den Film zu verarbeiten. Er erschüttert sehr tief und macht filmisch sozusagen eine neue Tür auf.

Jannis Niewöhner: Ich habe ihn selbst das erste Mal bei einer Pressevorführung in München gesehen und musste danach drei Stunden durch die Stadt gehen, um ihn zu verarbeiten. Das habe ich selten bei Filmen, bei denen ich selbst dabei bin.

Hattest du Bedenken, die Rolle zu spielen – oder überhaupt: den Film?

Ich habe von Anfang an sehr darauf vertrauen können, dass die richtige Absicht da war: Nämlich zu erzählen, wohin der Antisemitismus führen kann. Das hat es mir leichter gemacht, zu entscheiden, ob ich in die Rolle von jemandem schlüpfen will, der kaum Ängste hat, Schreckliches und noch Schrecklicheres zu tun. Rolf tut wirklich alles, um sich nicht in eine Opferrolle begeben zu müssen.
Diesen Antrieb und die Spielwut, die er sich zu eigen macht, um so viel aushalten zu können, fand ich sehr spannend. Ich hatte große Lust auf diesen Charakter.

Wie fandest du in die Rolle hinein?

Wir hatten vorab ein bisschen Zeit zusammen zu proben und konnten so auch etwas über die Dynamik zwischen Stella und Rolf herausfinden. Viele Dinge haben dabei eine Rolle gespielt: die Hektik, in der alles stattfand, der Schlafmangel, und sie haben auch wahnsinnig viele Drogen genommen … Ich habe alles getan, was möglich war, um ein Gefühl für diese Zeit zu bekommen. Die größte Hilfe war Peter Wydens Buch über Stella (Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte, Verlag Steidl, Anm.). Er hat ganz detailliert ihren und auch den Weg vieler ihrer Kameradinnen recherchiert. Über Rolf gibt es wenige Informationen, aber einige sehr prägnante. Das Buch gibt sehr gut jenes Lebensgefühl wieder, in dem das alles stattfand.

Wie hast du die Dreharbeiten erlebt?

Es war eine Mischung aus totaler Spielfreude und absolutem Horror. Die Figuren sind sehr lebendig, weil sie so um das Leben ringen. Die Lebendigkeit darzustellen hat Freude gemacht, das war eine Energie, die ich mochte. Aber die ganze Zeit mit dem Grauen konfrontiert zu sein, hat angestrengt und auch etwas mit einem gemacht.

Das Schreckliche im Film erträgt man normalerweise leichter, wenn man sich vor Augen führt, dass es fiktiv ist. Bei „Stella“ weiß man: Das ist real und fast dokumentarisch. Und im allerschlimmsten Fall etwas, das sich wiederholen könnte. Wie ging es dir damit?

Bei jedem neuen Set, zu das wir kamen, bei jedem neuen Motiv und jeder Szenerie tauchte ständig der Gedanke auf, dass das wirklich passiert ist. Das bringt auch ein besonderes Verantwortungsgefühl mit sich: Dieser Film ist auch dazu da, einen Teil beizutragen, und über diese Zeit aufzuklären, damit das nicht wieder passiert.
Obwohl man den Eindruck hat, dass viel Bemühung da ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, vergessen und leugnen viele den Holocaust. Erst im Vorjahr gab es beispielsweise in Holland eine Studie, die aufzeigte, dass rund ein Viertel der Jungen nicht an den Holocaust glaubt oder nicht an seine extreme Form (Studie der Claims Conference, Anm.). Das ist sehr alarmierend.

Was können und müssen wir tun?

Wir alle müssen uns überlegen, welche Art von Aktivismus wir mit voller Kraft jeweils gegen den Antisemitismus ausüben können. Jeder Mensch hat unterschiedliche Stärken. Für mich ist es mit Menschen, an deren Talente und Verantwortungsbewusstsein ich glaube, Filme zu machen. Ich könnte mich wahrscheinlich nicht auf die Bühne stellen und zwei Stunden gegen den Antisemitismus reden, aber ich kann mit dem, was ich gelernt habe, mit dem Schauspielen, meinen Teil beitragen. Aktivismus hat viele Formen, jeder kann für sich das finden, was am besten funktioniert.

Filmstill Stella. Ein Film.
Film Still "Stella. Ein Film." © Majestic, Jürgen Olczyk
Du bist in einer künstlerischen Familie aufgewachsen und schon jung vor der Kamera gestanden. Was hält dich dabei?

Die Kraft des Films. Ich liebe es, dass ich immer wieder im Kino oder vor dem Fernseher sitze und etwas sehe, das mich mal Tage, mal wochenlang beschäftigt und manchmal mein Leben verändert. Ich liebe den Perspektivenwechsel, der mit Filmen gelingt – als Zuschauer und als Schauspieler. Indem man sich in Figuren hineinversetzt, schafft man eine Nachvollziehbarkeit, warum Dinge passieren. Das ist bei „Stella“ ganz extrem. Ihre Taten werden nicht verharmlost oder kleiner gemacht, der Film bietet die Möglichkeit zu verstehen, wie Menschen sind. Das ist wichtig für die Empathie und auch für den Umgang mit bösen Kräften im Leben. Eine Figur zu spielen, ist eine intensive Erfahrung. Ich darf sie nicht bewerten, aber ich muss versuchen, sie zu verstehen.

Fallen dir spontan Filme ein, die dich nachhaltig geprägt haben?

Da gibt es viele … „Der Junge muss an die frische Luft“ hat mir stark die Bedeutung von Vergangenheit, Herkunft und Heimat, von Familie und gemeinsamer Zeit, die begrenzt ist, vor Augen geführt. Ein anderes Beispiel ist „Anatomie eines Falls“, der die Unausweichlichkeit der Probleme, die es immer in Beziehungen zwischen zwei Menschen gibt, und die Unausweichlichkeit dessen, dass die Liebe auch mal schwindet, zeigt. Es sind Themen, die man aus dem eigenen Leben kennt, aber man lässt sich mit einem Film anders auf sie ein.

„Stella“ zeigt sehr gut, wie komplex die Dinge sind, und wie wenig man als Außenstehende/r überhaupt urteilen kann …

… und dass wir zwei völlig unterschiedliche Gefühle derselben Person gegenüber haben können. Eine der stärksten Szenen im Film ist die am Schluss im Gerichtssaal: Stella wird schuldig gesprochen und weint. Sie tut mir leid. Ich sehe das kleine Mädchen vor mir und möchte sie in den Arm nehmen. Dann wird sie freigesprochen, lacht und freut sich. Und ich sehe nur noch eine Fratze, nämlich diesen Menschen, der sie geworden ist, und ich will nur weg von ihr. Der Film zeigt besonders gut die Widersprüchlichkeit von Gefühlen einem Menschen gegenüber.

Wir alle müssen uns überlegen, welche Art von Aktivismus wir mit voller Kraft jeweils gegen den Antisemitismus ausüben können. [...] Aktivismus hat viele Formen, jeder kann für sich das finden, was am besten funktioniert.

Filmstill Stella. Ein Leben.
© Majestic, Jürgen Olczyk
Zum Abschluss wieder zu dir: Wie definierst du Erfolg?

Etwas gefunden zu haben, das einen glücklich macht.

Was macht dich traurig?

All die schlimmen Dinge, die man nicht verhindern kann.

Worüber freust du dich?

Ich freue mich … (überlegt lange) … über Sandra Hüller, die kürzlich bei ihrer Rede, als sie den Europäischen Filmpreis gewonnen hat, gesagt hat, dass sich jetzt bitte alle Frieden vorstellen mögen. Und dann hat sie kurz gewartet und gesagt: „Macht weiter damit, wenn ihr wollt.“ Das finde ich sehr schön: Aus der Vorstellung heraus entstehen Dinge, die verändern.

Jannis Niewöhner wurde 1992 in Krefeld, Deutschland, geboren. Mit 10 Jahren stand er das erste Mal vor der Kamera. Seinen Durchbruch hatte er 2015 mit „Vier Könige“ (Regie: Therese von Eltz), im selben Jahr wurde er bei der Berlinale als „European Shooting Star“ gefeiert. Für seine darstellerische Arbeit in „Jugend ohne Gott“ (Alain Gsponer, 2018) und „Jonathan“ (Piotr Lewandowski) erhält er 2017 den Bayrischen Filmpreis als bester Nachwuchsschauspieler. Mehrere Nominierungen und Preise folgen. Weitere Hauptrollen spielte er in „Narziss & Goldmund“ (Stefan Ruzowitzky) und in „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ (Detlev Buck, 2020). Außerdem aktuell: Netflix-Serie „Munich – the Edge of War“ und der RTL+-Sechsteiler „Hagen“. 

Jannis Niewöhner – Instagram

„Stella. Ein Leben.“ – mit Paula Beer, Jannis Niewöhner, Katja Riemann, Lukas Miko, Joel Basman, Damian Hardung, Bekim Latifi, Gerdy Zint u.v.m.
Regie: Kilian Riedhof
Drehbuch: Marc Blöbaum, Jan Braren & Kilian Riedhof
Filmstart – Deutschland: 18. Jänner 2024, Österreich: 16. Februar 2024.

Stella. Ein Leben. – Filmverleih

Christof Spörk Eiertanz

Spaß und Ernst liegen ja bekanntlich nahe beieinander. Kabarettist Christof Spörk beherrscht beide Disziplinen: Er ist Profi-Humorist mit Tiefgang. Sein Programm „Eiertanz“ führt ihn ab Jänner durch Österreich, Italien, Deutschland und die Schweiz. Inhaltlich geht’s dieses Mal um uns, unser kompliziertes Wesen sowie das allgemeine „Herumeiern“, privat, beruflich, in der Gesellschaft und Politik. Im Interview mit funk tank erzählt der 51-Jährige von seiner Karriere und seinen Auszeiten, seinem Zugang zu Humor und Musik und verrät, warum es uns allen gut täte, nicht jeder Horrornachricht nachzujagen …

funk tank: Verehrter Herr Spörk, in Ihrem neuen Programm „Eiertanz“ geht es unter anderem um das menschliche Zweifeln, Zögern und „Herumeiern“. Woran könnte das liegen? Und wie schafft man es, einfach mal lässig und locker zu sein? Gibt es da schon eine Lösung und somit vielleicht die Rettung unser aller Leben?

Christof Spörk: Mein Programm gibt keine Antwort. Dafür bin ich zu lange auf der Welt, als dass ich mir so etwas zutrauen würde. In einem bin ich mir aber ziemlich sicher: Wir lassen uns zu sehr ablenken und laufen zunehmend den falschen Göttern nach. Und das, obwohl wir ja angeblich keine mehr haben.

Worauf darf sich das Publikum sonst noch freuen, wenn Sie Ihr aktuelles Programm präsentieren – zum Beispiel am 30. Jänner und 22. März im Wiener Stadtsaal?

Auf einen hoffentlich unerwartet neuen Spörk, der einen kurz in eine andere Welt entführt.

Der Begriff „Multitalent“ wird ja oft inflationär verwendet. Bei Ihnen ist er aber wirklich passend. Sie sind Politikwissenschaftler, Kuba-Experte, Journalist, Musiker, Kabarettist ... und 4-facher Vater. Habe ich etwas vergessen? Beschreiben Sie sich bitte kurz selbst ...

Also das mit der vierfachen Vaterschaft hat relativ wenig mit Talent zu tun. Eher mit Glück. Ansonsten endet vermutlich als „Multitalent“, wer sich nie ganz entscheiden konnte. Mich interessiert einfach vieles und ich liebe die Abwechslung. Weniger freundliche Menschen haben mich auch schon als „unstet“ beschrieben. Dann nehme ich lieber das „Multitalent“.

Humor hat viel mit Überraschung und ungewöhnlichen Kombinationen zu tun. Und noch mehr mit gemeinsamer Kultur.

Sie wurden u.a. mit dem „Österreichischen Kabarettpreis“ und dem „Salzburger Stier“ ausgezeichnet. Wie wichtig sind Ihnen Preise? Sind Sie eitel? Und wird man mit den Jahren und der Erfahrung bescheidener oder trifft das Gegenteil zu?

Es wäre schon gelogen, würde ich behaupten, diese Preise nicht gerne bekommen zu haben. Auf jeden Fall waren es Bestätigungen, die mir als spätberufenen Solokabarettisten einen guten Start ermöglicht haben.

Und ja, ich glaube, ich war schon einmal eitler. Wenn ich heute in der Wiener Innenstadt in eine Auslage schaue, dann wirklich fast nur mehr, um die ausgestellte Ware zu betrachten. Ehrenwort. Das war früher sicher anders.

Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Stücke? Wer oder was beeinflusst Sie?

Ich beobachte. Ich lese. Und es gibt für alle Sketches oder Lieder immer sowas wie einen für mich wichtigen Anlass. Zumeist etwas, was mich stört. Oder auch etwas, was mir besonders wichtig ist. Pointen dienen da eher als Appetizer für ansonsten schwer Verdauliches.

Betrachtet man das Weltgeschehen, so schaut es gesellschaftlich, politisch und auch umwelttechnisch nicht gerade rosig aus. Als Kabarettist haben Sie sich dem Humor verschrieben, das Publikum erwartet Ihre lustige Seite. Wie gelingt Ihnen der Spagat zwischen Tiefe und Witz, und was machen Sie, wenn Ihnen eigentlich nicht nach Lachen zu Mute ist?

„Wenn du zu lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, hat Nietzsche gesagt. Deswegen sollte man vielleicht einfach einmal woanders hinschauen. In die Luft zum Beispiel. In den Wald. Auf den Berg. Oder ins Kabarett.

Mir persönlich hilft frische Luft, Bewegung und Natur. Kostet nicht nur fast nix. Sondern gar nix. Vielleicht manchmal ein wenig Überwindung.

Ich denke, es hilft nichts, wenn wir uns den Weltuntergang sorgenvoll herbei tweeten. Wir sollten natürlich politisch wach sein. Aber permanent Breaking News updaten macht zweifellos krank. Irgendetwas ist immer. Sensationsgier hat noch nie etwas verbessert. Ich halte es auch nicht aus, wenn sich Menschen online für alles Mögliche engagieren, aber den Nachbarn nicht mehr grüßen.

Ist Humor eigentlich lernbar? Wen oder was finden Sie persönlich besonders lustig?

Humor kann man so wie alles analysieren, und somit wohl auch erlernen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das irgendwer braucht. Ich habe vor Jahren ein Buch über Witze gelesen. Sagen wir so, es lesen wollen. Es war das fadeste Buch ever … Humor hat viel mit Überraschung und ungewöhnlichen Kombinationen zu tun. Und noch mehr mit gemeinsamer Kultur. Deswegen ist die Schnittmenge zwischen österreichischem Humor und – sagen wir – norddeutschem Humor trotz gemeinsamer Sprache ziemlich klein. Wahrscheinlich könnten wir etwa mit den Slowenen und Tschechen mehr lachen, nur gibt es da leider ein kleines Verständnisproblem …

Finden Ihre Kinder Sie witzig?

Meine Kinder? Die lachen viel und gerne, aber selten wegen mir. Für die bin ich vermutlich ein Norddeutscher ... Nein, da hab ich wohl eine andere Funktion.

Kabarettist Christof Spörk mit neuem Programm "Eiertanz"
© Jeff Mangione
Mit den Global Kryner sind Sie 2005 beim Eurovision Song Contest angetreten. Wie war es, in diese spezielle Welt einzutauchen, und was wurde aus der Band?

Das war schon sehr geil. Ich bin heute froh, diese Erfahrung gemacht zu haben. Wir waren zehn Tage in Kiew. Es war ein europäisches Fest. Vor Ort war es großartig. Der Eurovision Song Contest ist bei aller möglichen Kritik in erster Linie leichtfüßige Lebensfreude. Also genau das Gegenteil jenes Abgrunds, den uns die Putins, Trumps und all die anderen bösen Männer unserer Zeit gerade als den letzten Schrei verkaufen wollen.

Global Kryner ist 2013, also acht Jahre nach dem Song Contest, in Pension gegangen. Wir haben ein Jahrzehnt lange halb Mitteleuropa bereist und viele großartige Erfahrungen gemacht. Man kann sagen, meine Rock’n’Roll-Zeit war diese Band.

Sie haben u.a. Jazzgesang, Klavier, Ziehharmonika und Klarinette gelernt. Auch Ihre Kabarett-Programme bestehen großteils aus Musik. Was wäre ein Leben ohne Musik? Und welchen Stellenwert hat Musik für Sie?

Leben ohne Musik ist ein Widerspruch in sich. Musik ohne Leben, das gibt es hingegen. Künstliche Intelligenz kann das zum Beispiel recht gut. Im Ernst: Es gibt für mich kein Leben ohne Musik. Obwohl ich wahrscheinlich zu den Wenighörern gehöre. Ich halte es nicht aus, bedudelt zu werden. Entweder ich höre zu oder nicht. Vielleicht ist da einfach ein Hebel falsch gestellt in meinem Gehirn.

Da Sie auch „der Philosoph unter den Kabarettist*innen“ genannt werden, eine philosophische Frage zum Schluss. Was wünschen Sie sich persönlich für das heurige Jahr und was für die gesamte Menschheit? Wie können wir bewusst, glücklich und zufrieden unseren Alltag meistern – trotz aller Umstände des Lebens?

Schön wäre es, wenn wir erkennen, dass wir selbst es sind, die über den Lauf der Weltgeschichte entscheiden. Über das Schlechte in der Welt sudern und gleichzeitig jede schwachsinnige Horrornachricht und jedes Schnäppchen am Smartphone anzuklicken, bedeutet nur, dass wir die Mechanismen unserer schönen, neuen Welt noch nicht durchschaut hat.

Ich singe in meinem Programm „Eiertanz“ einen Kanon mit dem Publikum. Und der Text ist: „Macht euch die Technik untertan!“ Das wäre doch ein guter Anfang.

Christof Spörk ist Politikwissenschaftler, Kuba-Experte, Journalist, Musiker, Kabarettist. Sein neues Kabarettprogramm führt ihn heuer durch viele Städte in Österreich, Italien, Deutschland und in der Schweiz. Er gastiert u.a. am 30. Jänner und 22. März 2024 im Wiener Stadtsaal.

Christof Spörk

Stadtsaal Wien