Tirana: Bunter statt Bunker

Noch vor 30 Jahren wusste man wenig über das Land und seine Hauptstadt, das in der über vier Jahrzehnte dauernden Herrschaft von Enver Hoxha sogar in der Liste der kommunistischen Staaten eine Sonderstellung einnahm, die heute noch am ehesten mit Nordkorea vergleichbar ist. Obwohl an der Adria, zwischen dem heutigen Montenegro und Griechenland gelegen, war der Staat fast ein halbes Jahrhundert ein kultureller und politischer weißer Fleck mitten in Europa. Alle internationalen Verbindungen, sei es militärisch, wirtschaftlich, diplomatisch und sogar transitmäßig, waren bis aufs absolute Minimum gekappt; dazu ein grundsätzliches Religionsverbot und ein an Grausamkeit und Effizienz verwandten Organisationen wie Stasi und Securitate um nichts nachstehender Geheimdienst. Nach dem Tod Hoxhas 1985 und dem Zerfall des Ostblocks 1990 dauerte es daher noch bis in die späten 90er-Jahre, bis das Land auf die Beine kam und international Anschluss fand. Vor allem die Hauptstadt Tirana, deren Einwohner*innenzahl sich in rund drei Jahrzehnten mehr als verdoppelte, hat sich mittlerweile zu einer attraktiven Destination für internationale Gäste gemausert.

Durch das Nadelöhr

Davon merkt man bei der Ankunft am Mutter Teresa-Flughafen – die einzig sinnvolle Art einzureisen – anfangs wenig. Der ursprünglich rein militärisch genutzte Airport wurde kleinweise adaptiert und funktioniert ganz gut, platzt aber aus allen Nähten. Eine Bahnverbindung vom Flughafen sucht man vergeblich, mit einem der Unmengen von Taxis kommt man am besten in die Stadt. Beim heftigen Verkehrsaufkommen ist allerdings Geduld gefragt. Dafür wird man schon bei der Fahrt Richtung Skanderbeg-Platz, dem Mittelpunkt von Tirana, mit abwechslungsreichen Häuserfronten belohnt. Hier reihen sich gründerzeitliche Fassaden an gesichtslose Plattenbauten, zwischen hastig in den 90ern errichteten Geschmacklosigkeiten finden sich immer wieder kleine Vorgärten und grüne Innenhöfe. Entlang der fast schnurgeraden Hauptverkehrsstraßen wird man quasi wie in einer Kanüle ins Zentrum injiziert.

Arena Center Tirana
Arena Center © Unsplash/Dario Daniel Silva

Von Gelb bis Grün

Der 38.000 Quadratmeter große, komplett gepflasterte und punkto Bodenversiegelung weltmeisterliche Skanderbeg-Platz wird umgeben von architektonischen Landmarks, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Statue des Nationalhelden Skanderbeg, aber auch die über 200 Jahre alte Et’hem-Bey-Moschee samt Uhrturm repräsentieren die alte Kultur und Tradition des Landes. Das gegenüberliegende Nationalmuseum mit seinem elf Meter hohen und 40 Meter langen historischen Mosaik wirkt zwar aus der Zeit gefallen, beeindruckt aber dennoch. Dominiert wird der Rundumblick aber von modernen Highrise-Gebäuden im Umfeld. Ganz besonders das gerade in Bau befindliche Hotel Intercontinental, das sich mit seiner ungewöhnlichen gelben Fassade nach Entwürfen der deutschen Architekt*innen Bolles+Wilson schon jetzt zu einer Art Wahrzeichen mausert. Ebenso markant, weil von einer runden Grundfläche zu einem quadratischen Rooftop morphenden Gebäudeform, ist der TID Tower aus der Feder der Brüsseler 51N4E. Mit einer ungewöhnlichen Fassade kann auch der Downtown One punkten: Die niederländischen Architekt*innen von MVRDV haben mit einer modernen Erker-Interpretation wie mit riesigen Pixeln Form und Topografie von Albanien integriert. Wenn man sich am richtigen Punkt in der Stadt befindet, kann man als Kontrast im Vordergrund die noch nicht ganz fertige Große Moschee von Tirana bewundern. Ein gleichermaßen ungewöhnliches wie ästhetisches Gebäude ist der 4 Ever Green Tower mit seiner blaugrünen Fassade, erdacht von den Italienern Studio Archea. Sehenswert, auch aus der Nähe!

Die Große Moschee von Tirana und Downtown One
Die Große Moschee von Tirana und Downtown One © Markus Höller

International und national

Man sieht also, dass bei der Stadtplanung auf ein gutes Maß an Ideen aus unterschiedlichen Ecken Europas Wert gelegt wurde. Doch auch die lokale Architektur findet ihren Platz, am ungewöhnlichsten wohl in Form der schlicht Pyramide genannten ebensolchen. Das Ende der 80er-Jahre fertiggestellte, federführend von Enver Hoxhas Tochter Pranvera geplante und wenig attraktive Gebäude durchlief im Lauf der Zeit viele Nutzungsphasen. Vom personenkultigen Museum über Konferenz- und Ausstellungszentrum oder Büros internationaler Organisationen, Bar bzw. Disco bis hin zum provisorischen NATO-Posten erlebte der Bau einige Umwidmungen. Ein Abriss konnte verhindert werden, heute beherbergt der schrullige Klotz ein Kultur- und Bildungszentrum für Jugendliche, vor allem aber die Nutzung als gute Aussichtsplattform via der vielen Stufen rundum erfreut sich bei Einheimischen wie Tourist*innen großer Beliebtheit.

Bunk'Art 2 Museum Tirana
Bunk'Art 2 Museum © Markus Höller

Natürlich sind die Bunker immer noch ein großer Magnet für Besichtigungen und die Albaner*innen legen auch Wert darauf, ihre oft schmerzliche Historie nicht zu vergessen – sie wollen eben nicht nur darauf reduziert werden.

Streetstyle Tirana
Streetstyle Tirana © Markus Höller

Bewahren der Kultur

Natürlich sind die eingangs erwähnten Bunker immer noch ein großer Magnet für Besichtigungen und die Albaner*innen legen auch Wert darauf, ihre oft schmerzliche Historie nicht zu vergessen – sie wollen eben nicht nur darauf reduziert werden. Einen umfangreichen, wenn auch betroffen machenden Eindruck über die langen Jahre der Unterdrückung kann man sich im Bunk’Art 2 machen, einem in einem ehemaligen Regierungsbunker untergebrachten, unterirdischen Museum. Grundsätzlich lohnt es sich, auf eigene Faust die alten Strukturen der Stadt zu erkunden, vom bunten Markt Pazari i Ri bis zur romantisch gentrifizierten Festung aus dem 14. Jahrhundert gibt es hier Insta-Spots am laufenden Band. Und immer im Hintergrund: die bunten, spannenden und sehenswerten neuen Hochhäuser.

Streetstyle Tirana
Streetstyle Tirana © Markus Höller

Kurzinfo Tirana: Flüge von Wien nach Tirana finden mit Ryanair täglich, mit Austrian vier Mal und Wizzair drei Mal pro Woche statt. Vom Flughafen, aber auch in der Stadt kommt man am besten mit Taxis voran, denn der schlecht ausgebaute öffentliche Verkehr wird grundsätzlich mit Bussen abgewickelt. In Albanien zahlt man hauptsächlich bar in der Landeswährung Lek, Euro sind oft auch möglich. Kontaktlos- bzw. Kartenzahlung ist nicht weit verbreitet. Albanien ist nicht Teil der EU oder Schengenzone, man benötigt aber kein Visum. Das Mobilfunknetz ist gut ausgebaut, jedoch rechtzeitig auf Roaming-Optionen achten!

Hoteltipp: Das brandneue, erst im Frühjahr 2024 eröffnete Mercure Tirana liegt ideal auf ungefähr der halben Strecke an der Ausfallsstraße zwischen Zentrum und Flughafen. Moderne, großzügige Zimmer, Küche und Bar befinden sich auf tadellosem mitteleuropäischem Vierstern-Niveau. Von hier aus ist man mit dem Taxi für knappe 10 Euro in 15 Minuten direkt im Zentrum. Der Knüller ist jedoch der exzellente, saubere Rooftop-Pool samt angeschlossener Terrasse und Bar. Hier lässt es sich an heißen Tagen mit Fernblick auf die Stadt und die umliegenden Berge fein aushalten.

Compliance-Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung der Accor Group.

Sportler David Mzee: „Ich liebe es, Hindernisse zu überwinden“

Dieses Lachen wollte einfach nicht mehr aus seinem Gesicht verschwinden, erinnert sich David Mzee. Den ganzen Tag hatte er erfolglos versucht, hinter dem Motorboot aus dem Wasser zu starten und am Wakeboard über den Zürichsee zu brettern. Und dann, beim allerletzten Versuch des Tages, war es ihm gelungen: „Ich weiß nicht warum, aber plötzlich hat es geklappt. Die Sonne war am Untergehen und ich bin übers Wasser geschossen. Es war ein unvergleichlich cooles Gefühl. Und am Abend bin ich zu Hause gesessen, habe innerlich gezittert vor Freude und Adrenalin. Da war es wieder, dieses Gefühl der absoluten Freiheit!“

Das ist ja schräg!

David Mzee war 22 Jahre jung, als ein Unfall im November 2010 sein Leben für immer verändern sollte. Im Rahmen seines Sportstudiums probierte er einen Dreifachsalto vom Minitrampolin. Doch statt einer – wie sonst immer – sicheren Landung schlug er in der „Schnitzelgrube“, einer mit Schaumstoffwürfeln gefüllten Mulde, mit dem Kopf voran auf. Die tragische Folge: Bruch des sechsten und des siebten Halswirbels. „Ich bin Tetraplegiker, das heißt, dass sowohl Arme als auch Beine von meiner Querschnittslähmung betroffen sind“, erklärt David Mzee im Gespräch mit dem funk tank-Magazin.

Aufs Kitesurfen ist er schon kurz nach seiner Reha aufmerksam geworden, weil ein Kollege eines Tages mit einem Sitz für das Brett am Schoß durch die Klinik rollte. „Ich hätte nicht gedacht, dass man nicht nur als ‚Fußgänger‘, sondern auch als Rollstuhlfahrer Wassersport auf einem Brett ausüben kann.“ Doch der heute 36-jährige Schweizer brauchte nicht lange, um sich für die neuen Möglichkeiten zu begeistern.

Nicht zuletzt, weil ihm der Sport ein Gefühl zurückbrachte, das er schmerzlich vermisst hatte. „Ein Rollstuhl ist so konstruiert, dass praktisch immer alle vier Räder den Boden berühren. Du kannst nicht zur Seite kippen. Und du kannst deshalb diese Schräglage nicht genießen, wenn du dich flott in einer Kurve bewegst. Jetzt kann ich das wieder erleben – und habe jedes Mal einen fetten Grinser im Gesicht.“

David beginnt bei minus 100

David Mzee – der mit dem Schweizer Rollstuhlrugby-Nationalteam an mehreren Welt- und Europameisterschaften teilgenommen hat – war immer schon ein begeisterter Sportler mit spezieller Liebe zum Handball, zur Kampfkunst und zum Skifahren. Wassersport war früher aber kein großes Thema, obwohl er seine Ferien oft in Kenia, dem Heimatland seines Vaters, verbracht hat „und dort die meiste Zeit im Wasser war. Ich kann mich erinnern, dass ich gern getaucht bin und mir vorgestellt habe, dass ich fliege. Nirgends sonst konnte ich mich so spielerisch auf und ab bewegen.“

Kitesurfen und Wakeboarden hat er tatsächlich erst nach seinem Unfall für sich entdeckt: „Ich habe allerdings nicht bei null begonnen“, sagt David und lacht. „Da ich als Tetraplegiker körperlich ganz andere Voraussetzungen und Bedürfnisse habe als fast alle anderen Menschen, die diese Sportarten ausüben, und ich weder auf ihr Know-how noch auf bestehendes Material zurückgreifen konnte, musste ich bei minus 100 beginnen.“

Besonders herausfordernd war, dass es keine Vorbilder gab: „Das Skifahren neu zu erlernen war auch nicht einfach. Aber das haben schon andere Querschnittsgelähmte vor mir hinbekommen. Ich wusste also: Selbst wenn ich körperlich vielleicht etwas andere Voraussetzungen habe als sie, so ist es doch zumindest prinzipiell machbar. Also werde ich es sicher irgendwie schaffen!“

Beim Wakeboarden und speziell beim Kitesurfen war es anders, sagt David Mzee: „Meines Wissens bin ich der erste Tetraplegiker in der Schweiz, der diese Sportarten ausübt. Es war also gar nicht sicher, ob es überhaupt möglich ist.“ Doch gerade solche Situationen motivieren ihn zusätzlich: „Ich liebe es, an mir zu arbeiten und Hindernisse zu überwinden. Ich liebe es, neue Bewegungserfahrungen zu sammeln und damit neue Fähigkeiten in mir freizuschalten.“

Extremsportler David Mzee am Wasser beim Sport
© Dave Brunner

Alles ist anders

Der Grad – und damit die körperlichen Folgen – seiner Verletzung gestalten den Wassersport besonders herausfordernd. Das beginnt damit, dass er immer auf Hilfe angewiesen ist, um in den hautengen Neoprenanzug zu schlüpfen; außerdem spürt man im Wasser die Kälte schneller und stärker, wenn man die Beine und den Rumpf nicht bewegen kann. Dazu kommt, dass David Mzee seine Sportgeräte grundsätzlich anders als andere Menschen unter Kontrolle bringen muss: „Ich habe einerseits keine Rumpfkontrolle. Und andererseits fehlt es mir in den Fingern sowohl an Kraft als auch an Feinmotorik. Das heißt, ich kann mich weder beim Wakeboarden noch beim Kitesurfen am Griff richtig festhalten.“

Deshalb legt David Mzee besonderes Augenmerk auf sein Equipment, das er mithilfe von Freunden technisch immer weiter entwickelt und verfeinert: „Vereinfacht gesagt geht es darum: Da ich die Kraft, die über den Wind im Segel oder den Motor des Bootes entsteht, nicht über meine Hände aufnehmen und nutzen kann, muss ich sie irgendwie auf meine Sitzschale übertragen, um mich so über Wasser ziehen lassen zu können.“

Akribischer Tüftler

Allein der Ordner „Evolution Kite Material“ auf seinem Computer umfasst mittlerweile mehr als 300 Dokumente, erzählt David Mzee. „Es sind so viele Dinge, die es zu beachten gilt. Und es gibt so viele Faktoren, die reguläres Equipment für mich richtig gefährlich machen.“ Als grundsätzliches Problem erweist sich das physikalische Prinzip, das jeden Boardsport im Wasser erst ermöglicht: Je größer das eingetauchte Volumen eines Festkörpers, also etwa eines Surfbretts, ist, umso höher ist der Auftrieb. „Diese Auftriebskraft ist sehr wichtig“, sagt David Mzee, „sie kann aber zum schlimmsten Feind eines Rollstuhlfahrers werden. Denn wenn das Board, auf dem du festgeschnallt bist, kentert und sich umdreht, bist du unter Wasser gefangen und kannst dich aus eigener Kraft nicht mehr zurückdrehen.“

Also tüftelt er an technischen Möglichkeiten, seine eigene Sicherheit am Wasser zu verbessern: „Mittlerweile habe ich mir in Norddeutschland ein eigenes Brett bauen lassen. Ein echter Gamechanger für mich war aber die neue Sitzschale, die ein befreundeter Techniker mit mir gemeinsam entworfen hat und aus der ich mich notfalls viel leichter lösen kann. Wenn ich denke, mit welchem Material ich vor ein paar Jahren begonnen habe, dann fühle ich mich heute deutlich sicherer …“

Immer neue Ziele

Woher seine – neu gewonnene – Leidenschaft für den Wassersport kommt, sagt David Mzee, war ihm selbst lange nicht bewusst. „Vor Kurzem habe ich aber darüber nachgedacht und dabei ist mir etwas klar geworden: Wasser ist ein Element, in dem die Bedeutung der Beine nicht ganz so groß ist. Der Mensch ist ohnehin nicht wirklich fürs Wasser gemacht und wird sich darin nie so gut und souverän bewegen wie ein Fisch. Ob man seine Beine bewegen kann, macht offenbar gar nicht so viel Unterschied und deshalb fühle ich mich im Wasser weniger eingeschränkt.“

Anders als bei anderen Sportarten, die er schon vor seinem Unfall beherrscht hat: „Mein großes Glück ist, dass ich beim Kitesurfen und Wakeboarden keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Deshalb haben mich die vielen misslungenen Versuche am Anfang nicht frustriert.“ Beim Skifahren hingegen wirkt sich der Vergleich durchaus auf die Psyche aus, sagt David Mzee: „Ich weiß, wie gut ich vorher war, und das führt heute zu einem Verlustgefühl. Es ärgert mich, dass ich am Monoski keine schwarzen Pisten mehr fahren kann, weil sie einfach zu steil für mich sind.“

Umso schöner ist es, dass er weiterhin neue Sportarten für sich entdecken und damit neue Fähigkeiten freischalten kann: „Im Frühjahr war ich in Australien und hatte die Möglichkeit, den Wave Garden zu besuchen. Ich war davor zwar noch nie Wellenreiten, aber es hat mir sofort riesigen Spaß gemacht.“

Adaptive surfing heißt diese spezielle Sportart, bei der Menschen auf dem Brett liegend mit den Wellen spielen können. „Ich habe gemerkt: Je wuchtiger die künstlich generierte Welle ist, umso besser spürt man sie. Mit mir war Sam Bloom im Wasser, die dreifache australische Weltmeisterin, und sie hat mir großen Mut gemacht. Sie hat gesagt, wenn ich so weitermache, kann ich eines Tages auch an der WM in Hawaii teilnehmen. Und das würde mich sehr reizen; Hawaii steht schon lang auf meiner Bucketlist …“

Extremsportler David Mzee beim Anziehen vor dem Sport im Rollstuhl
© Dave Brunner

Der Mensch ist ohnehin nicht wirklich fürs Wasser gemacht und wird sich darin nie so gut und souverän bewegen wie ein Fisch. Ob man seine Beine bewegen kann, macht offenbar gar nicht so viel Unterschied und deshalb fühle ich mich im Wasser weniger eingeschränkt.

Extremsportler David Mzee am Wasser beim Surfen
© Ken Leanfore for Wings For Life World Run

Eine Frage der Perspektive

Dabei betreibt David, der im Herbst zum zweiten Mal Vater einer Tochter wird, den Sport in erster Linie zum Ausgleich. 2016 – also sechs Jahre nach seinem Unfall – hat er nämlich sein „Bewegungswissenschaften und Sport“-Studium an der renommierten ETH Zürich doch noch abgeschlossen – als Jahrgangsbester mit Summa cum laude! Seither arbeitet David als einziger Schweizer Sportlehrer im Rollstuhl, außerdem hält er regelmäßig Vorträge: „Was mich daran fasziniert, ist aber gar nicht so sehr das Referieren selbst, sondern das anschließende Q&A. Ich liebe diesen Teil, den ich nicht unter Kontrolle habe, sondern in dem ich spontan reagieren muss.“

Dass er sein Leben mit so großer Zuversicht gestalten kann, liegt – wie er im Zoom-Gespräch erzählt – daran, dass immer der Blickwinkel die Perspektive bestimmt: „Mein Vater stammt ja aus Kenia und dadurch habe ich auch Dinge gesehen und erlebt, die anderen Menschen vielleicht fremd sind. Wir müssen erkennen, wie viel Glück wir haben und wie dankbar wir den Generationen vor uns sein müssen, die uns dieses Leben ermöglicht haben.“

Zumal eine so schwere Verletzung wie seine in der alten Heimat seines Vaters ganz andere Konsequenzen nach sich gezogen hätte, wie David zu erzählen weiß: „In Kenia wäre mein Leben nach dem Sturz anders verlaufen. Mein Vater hat mir die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der ungefähr zur gleichen Zeit einen ähnlichen Unfall hatte. Seine Möglichkeiten danach waren so weit weg von denen, die ich hier in der Schweiz vorgefunden habe.“

Cooles Umfeld

Dazu gehört, dass David seit 2016 an einer klinischen Studie der ETH Lausanne teilnimmt, die von der Wings For Life Foundation und der Internationalen Stiftung für Forschung in der Paraplegie gefördert wird. Im Zuge eines komplexen medizinischen Verfahrens wurde ihm eine Elektrode aufs Rückenmark implantiert. Dank dieses Neurostimulators ist es ihm mittlerweile möglich, mithilfe eines Rollators eigenständig Schritte zu gehen. Die Technik selbst wird stetig weiterentwickelt, im Herbst könnte Davids aktuelles Ansteuerungstool, das im Bauchraum implantiert wurde, durch ein verbessertes Gerät ersetzt werden: „Wenn alles wie erhofft funktioniert, könnten meine Bewegungen ein bisschen geschmeidiger werden.“

Egal, ob im Sport oder im Alltag: Widrigkeiten spornen David Mzee erst recht an. Wobei er selbst gar nicht zu philosophisch werden möchte: „Bei der Frage, wie ich all diese Hindernisse in meinem Leben überwinden kann, fallen mir als Erstes meine Familie und meine Freundinnen und Freunde ein. Ich habe einfach ein cooles Umfeld, und das macht es relativ einfach, selbst immer wieder die nötige Stärke zum Weitermachen aufzubringen.“ Zum Schluss gönnt uns David noch einmal ein spitzbübisches Lachen: „Und wenn jemand sagt: ‚Das kannst du nicht!’, dann spornt mich das erst so richtig an!“

Extremsportler David Mzee mit seinem Rollator gehend
© Romina Amato for Wings For Life World Run

David Mzee, 36, lebt mit Freundin und Tochter in der Nähe von Zürich. Der Sportlehrer und Motivationsredner ist seit einem Sportunfall 2010 querschnittsgelähmt. Der Tetraplegiker nimmt an einer klinischen Studie der ETH Lausanne (Schweiz) teil; eine Elektrode auf seinem Rückenmark ermöglicht es ihm, mithilfe eines Rollators eigenständig Schritte zu gehen.

David Mzee – Website

David Mzee – Limit/less 

Dave Brunner – Fotograf – Website

Dave Brunner – Fotograf – Instagram

Reisen, aber richtig: Denkanstöße für Fernwehgeplagte

Das „Reisen veredelt den Geist und räumt mit Vorurteilen auf“, stellte Oscar Wilde vor über 100 Jahren fest, als der Tourismus noch in den Kinderschuhen steckte. Reisen ohne unmittelbare Notwendigkeit? Das war lange Zeit ein Privileg der gesellschaftlichen Oberschicht. Im 18. Jahrhundert kamen in Europa Bildungsreisen in Mode, auf denen junge Menschen Kunst und Kultur anderer Länder aufsogen und so ihren Horizont erweiterten. Einer der bekanntesten Teilnehmer dieser sogenannten „Grand Tour“ war Johann Wolfgang von Goethe, dessen Italienreise sich auf fast zwei Jahre ausdehnte. Da er dabei seine kreativen Reserven auffüllte und unentwegt forschte, malte und schrieb, könnte man sagen, es war eine der ersten „Workations“ der Welt. Mit der Industrialisierung suchten dann auch andere Bevölkerungsgruppen nach Erholung von den überfüllten Städten in der umliegenden Natur. Vom sogenannten Fremdenverkehr zum heutigen Massenphänomen ging es dann recht schnell. Dass dies schon früh negative Auswirkungen zeigte und sich dadurch passende Initiativen für Natur- und Umweltschutz entwickelten, war nur (öko)logisch. Heute sucht man händeringend Möglichkeiten, Reisen und Klimaschutz zu verbinden – auch, wenn sich diese beiden Dinge gegenseitig ausschließen. Was also bringt der neue Ökotourismus und wie leicht lässt er sich umsetzen?

Wie man sich bettet …

Schon bei der Unterkunftsrecherche zu Hause merkt man: Immer mehr Hotels setzen auf nachhaltige Konzepte. Von Baumhäusern aus recyceltem Holz über die Eco-Lodge bis hin zum energieautarken Ferienhaus ist alles dabei. Gut so, denn das Wohnen im Urlaub verbraucht schließlich eine Menge Energie und Ressourcen. Laut der Organisation Global Nature Fund produziert ein Hotelgast pro Tag beispielsweise rund 1,38 Kilogramm Abfall, ob er will oder nicht.

Wie aber stellt man sicher, dass man nicht schon bei der Buchung in die Greenwashing-Falle tappt? Daniela Jahn gründete mit ihrem Herzensprojekt Hiersein ein Empfehlungsportal für nachhaltige Unterkünfte in Deutschland, das eine Entscheidungshilfe für klimabewusste Reisende sein soll. „Ich empfehle immer, zuerst die Webseite zu checken. Denn Unterkünfte, die nachhaltig betrieben werden, sind meist sehr transparent und kommunizieren das auch. Zum Beispiel konkrete Hinweise darauf, ob Gastgeber*innen ihre eigene Energie produzieren, ob und wie sie den Wasser- und Müllverbrauch reduzieren, ob der Garten mit Regen- und Brauchwasser gewässert wird, die Betten mit fair gehandelter Wäsche bezogen sind, regionale und fair gehandelte Mahlzeiten serviert werden etc.“, so die Expertin. Eine gute Orientierung könnten darüber hinaus Nachhaltigkeits-Zertifikate und -Siegel geben, auch wenn die schiere Menge oft einem unüberwindbaren Dschungel ähnelt. „Ein paar gute Beispiele sind aber Viabono, GreenBrand sowie das EU Ecolabel.“ Vorsicht sei geboten, wenn Unterkünfte ihren öffentlichen Auftritt mit „grünen“ Worthülsen ohne Erläuterung pflastern: „Je mehr, desto skeptischer wäre ich. Bezeichnet sich eine Unterkunft als klimaneutral, erwarte ich als Gast schon, dass man mir erklärt, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden, die diese Aussage rechtfertigen. Vor allem dann, wenn Energiefresser im Einsatz sind wie Klimaanlagen oder Outdoor-Jacuzzis, die sogar im Winter in Betrieb sind“, so Jahn. Erst kürzlich habe sie wieder ein gutes Beispiel entdeckt: „Ein selbsternanntes Bio-Hotel, das auf seiner Webseite ein Foto seines Frühstücksbüfetts zeigte, auf dem in Plastik abgepackte Marmeladen und Südfrüchte abgebildet waren. Von Regionalität oder Plastikreduzierung keine Spur.“ Dabei gäbe es neben regionaler und saisonaler Verköstigung auch bei den größten Ressourcenverbrauchern bereits bessere Lösungen. „Eine smarte Bauweise mit natürlichen Materialien reduziert den Energieverbrauch für Heizung oder Kühlung. Und statt jedes Hotelzimmer mit einer Minibar auszustatten, lieber einen Kühlschrank in einem Gemeinschaftsbereich aufstellen und mit gekühlten Getränken bestücken.“ Beim Thema Enttäuschung am Frühstücksbüfett müssen wir uns alle an den Ohren nehmen, denn: Wie lebenswichtig sind Erdbeeren im Winter, Avocados oder Ananas?

Moodbild Reisen per Zug
© Josh Nezon/Unsplash

Der größte Ressourcenverbrauch, so Jahn, findet aber gar nicht in der Unterkunft statt, sondern bei An- und Abreise. „Mit der Wahl des Transportmittels hat jede*r Einzelne von uns eine wichtige Stellschraube in der Hand, um den Part seiner Reise zu beeinflussen, der den größten Klimafußabdruck verursacht. Ein Trend bei Unterkünften: Sie bieten Gästen einen Rabatt, wenn man anstatt mit dem Pkw per Bahn anreist. Vor Ort wird dann ein Abholservice angeboten, der öffentlicher Personennahverkehr ist oft kostenlos mit der Gästekarte oder es stehen Fahrräder zum Ausleihen bereit.“ Zumindest für den deutschsprachigen Bereich und vor allem bei Wanderurlauben wäre dies also locker umzusetzen.

Belohnungen fürs Umdenken

Bekannt für ihre nachhaltige Entwicklung, führte die dänische Hauptstadt Kopenhagen kürzlich ein kreatives Projekt ein: CopenPay ist eine Initiative, die umweltbewusstes Handeln vor Ort in eine Währung für kulturelle Erlebnisse verwandelt. Man möchte die Besucher*innen für Aktionen wie Radfahren, die Teilnahme an Aufräumarbeiten oder die freiwillige Mitarbeit in städtischen Bauernhöfen mit einer Vielzahl an Erfahrungen belohnen. Dazu gehören gratis Museumsführungen, Kajakverleih oder ein kostenloses vegetarisches Mittagessen. Das legt den Fokus auf die Frage: Wie kann ich mich vor Ort möglichst umweltschonend verhalten, wenn ich schon um das Fliegen nicht herumkomme?

Achtung, jetzt wird’s ungemütlich

Apropos Fliegen. Die Reiseindustrie ist ein bedeutender Faktor für den globalen CO2-Ausstoß, ganz klar. Flugreisen sind hierbei die größten Übeltäter, gefolgt von Kreuzfahrten. Beim Fliegen wird nicht nur das klimaschädliche CO2 ausgestoßen, durch die Verbrennung von Kerosin entstehen dabei auch andere Substanzen wie Aerosole, Stickoxide und Wasserdampf. In Flughöhe werden diese nur sehr langsam abgebaut und wirken daher stark auf die Erderwärmung ein – laut Deutschem Umweltbundesamt sogar zwischen fünf und acht Prozent. Das mag nicht viel klingen, ist aber bedeutend, vor allem mit Blick in die Zukunft. Da hilft auch die Auswahl der Zieldestination nichts. Costa Rica beispielsweise gilt als wahrer Pionier in Sachen Ökotourismus. Das Problem ist allerdings die Anreise: Ein direkter Hin- und Rückflug von Wien nach Costa Rica verursacht laut dem CO2-Rechner des Kompensationsdienstleisters atmosfair rund 6,6 Tonnen CO2-Äquivalente pro Person. Zum Vergleich: Das ist eine dreimal so hohe Klimaauswirkung wie ein Jahr Autofahren. Laut wissenschaftlichen Erkenntnissen dürfte man, um die globale Erderwärmung kollektiv zu verlangsamen, aber nur 1,5 Tonnen CO2-Emissionen verursachen – pro Jahr wohlgemerkt. Ein Glücksfall fürs Klima ist, dass sich nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Weltbevölkerung regelmäßige Flugreisen überhaupt leisten kann. Nur rund fünf bis zehn Prozent aller Menschen steigen jedes Jahr ins Flugzeug. Noch. Denn laut dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt wird sich die Zahl der Flugpassagier*innen zwischen 2016 und 2040 verdoppelt haben – Tendenz steigend.

Moodbild Nachhaltig Reisen
© Marvin Meyer/Unsplash

Ein Muss: lokal essen statt in der Fast-Food-Kette, Souvenirs in kleinen Handwerksbetrieben kaufen, statt Billigware aus China und Erlebnisse bei ortsansässigen Unternehmen buchen, statt auf internationalen Buchungsplattformen. Kurz gesagt: die Wertschöpfung des Tourismus im Land lassen.

Nur Mut

Zugegeben, es sind Fakten wie diese, die zermürben und oft sogar dazu führen, unsere eigenen Nachhaltigkeitsbemühungen gleich ganz über Bord zu werfen. Viel sinnvoller ist aber, die Debatte als Chance zu nutzen, um die eigene Einstellung zum Reisen ganz neu zu überdenken. Weshalb halten wir es für ein Muss, jedes Jahr in den Flieger zu steigen? Wollen wir an diesen Ort, weil wir ihn auf der Reiseliste abhaken oder ihn wirklich erkunden möchten? Ist der Sandstrand auf den weit entfernten Malediven wirklich um so viel besser als im Süden Europas oder lediglich ein tolles Fotomotiv für Social Media? Reisen wir in dieses Land, um seine Kultur zu verstehen, oder einfach, weil alle sagen, dass man es einmal im Leben gesehen haben muss? Wie viel Mehrwert bekommt man auf dieser Reise? Denn viel zu oft entwickelt sich ein Automatismus, der vom Gefühl, „urlaubsreif“ zu sein, viel zu schnell zum Klick auf die Buchungswebsite führt. Fast so, als könnte man Stress und Alltagssorgen nicht zu Hause am See, sondern erst beim Security-Check am Flughafen abhängen.

In Zeit investieren

Im 19. Jahrhundert reiste man wochen- und monatelang per Orient-Express nach Istanbul oder mit dem Dampfschiff nach Ägypten. Verreisen war eine große Sache, ging ja auch nicht anders. Seit einiger Zeit gibt es einen Trend, der dem gar nicht so unähnlich ist: Slow Travel. Statt in kürzester Zeit zahlreiche Orte zu besuchen, bleibt man länger an einem Fleck. Entspannte Zeit genießen, statt Sightseeing in Höchstgeschwindigkeit. Das reduziert den CO2-Ausstoß und ermöglicht tiefere kulturelle Erlebnisse – so weit, so gut. Was man dafür aber braucht, ist genauso wertvoll und für viele rarer als Geld: nämlich Zeit. Außerdem ist das richtige Mindset von Vorteil, um die längere Anreise, die dabei oft per Zug erfolgt, bereits als entschleunigenden Teil des Urlaubs zu sehen, statt als verlorene Zeit. Kein Wunder, dass diese Art des Reisens vor allem bei Remote Workern und der jungen Gen-Z immer beliebter wird.

Trotz des höheren Verbrauchs an kostbaren Urlaubstagen und den potenziellen Ärgernissen durch hohe Zugpreise und noch höhere Verspätungswahrscheinlichkeit birgt Slow Travel aber auch das Potenzial, neue und kreativere Arten des Reisens zu erforschen. Den Städtetrip nach London zu planen beispielsweise und von dort aus das sehenswerte Umland mit dem Zug erkunden. Oder zwei Länder Europas per Zugreise zu verbinden, um sich dadurch zwei weitere Flüge zu ersparen. Das beliebte Motto „Der Weg ist das Ziel“ also einfach mal wörtlich zu nehmen.

Anders denken

Tourismus ist aber nicht per se schlecht. Durch die Suche nach nachhaltigen Nutzungsmöglichkeiten der Natur trägt er in vielen lateinamerikanischen sowie afrikanischen Ländern wie Tansania, Namibia, Costa Rica und Ecuador zur Finanzierung von Schutzgebieten bei, ohne Schäden zu verursachen. Auch Christian Hlade, Gründer der Organisation WeltWeitWandern, ist sich sicher, dass man das Reisen einfach nur ganz neu verstehen muss: „Von A nach B zu reisen hat einen Energieaufwand, das lässt sich nicht ändern. Gleichzeitig steckt aber so viel Potenzial dahinter. Denn dass die Klimakatastrophe sehr oft Menschen in ärmeren Ländern betrifft, bekommt man erst so richtig mit, wenn man dorthin reist. Dann ist das Thema plötzlich greifbar und real. Es ist also wichtig, dass wir uns in Europa nicht in unsere Wohlstandsblase einigeln, sondern unseren Horizont erweitern. Da müssen auch Reiseanbieter wie wir ihre Hausaufgaben machen.“ Bewegt man sich zu Fuß durch ein Land, passiert außerdem viel nonverbale Kommunikation und man erlebt den Ort intensiver, ist sich der Wanderexperte sicher: „Eine reine Kulturreise spielt sich nur im Kopf ab: Jahreszahlen, Museen, Geschichte. Wandern dagegen geht durch den ganzen Körper. Man geht miteinander, beobachtet, singt und kocht abends gemeinsam im Zeltlager. Man ist im Hier und Jetzt.“ Ein Muss: lokal essen statt in der Fast-Food-Kette, Souvenirs in kleinen Handwerksbetrieben kaufen, statt Billigware aus China und Erlebnisse bei ortsansässigen Unternehmen buchen, statt auf internationalen Buchungsplattformen. Kurz gesagt: die Wertschöpfung des Tourismus im Land lassen.

Christian Hlade von WeltWeitWandern
Christian Hlade von WeltWeitWandern © WeltWeitWandern

Tourismus auf Augenhöhe

Eine zentrale Rolle, so Hlade, spielt dabei ein Guide, der die Gruppe in seine eigene Kultur führt. „Nur jemand, der in der Region verwurzelt ist, kann authentisch diese Vermittlerrolle übernehmen und auch einmal Stopp sagen.“ Sein Geheimtipp für ruhiges Slow Travelling ist übrigens Bosnien, denn dort genießt man nicht nur wunderschöne Landschaften, das Land könnte Tourismuseinnahmen auch dringend brauchen. „Hotspots im nahegelegenen Kroatien werden überrannt, weil sie ständig beworben werden. Bosnien oder Bulgarien stehen dem aber um nichts nach. Gut gemachte Tourismuskonzepte könnten in solchen Ländern sehr viel bewirken.“ Man sollte in Zukunft eher die Rankings der beliebtesten Destinationen nehmen und diese dann bewusst meiden. Denn der sogenannte „Overtourism“, bei dem Reiseziele von Touristenmassen überrannt werden, ist ein großes Problem, das in den nächsten Jahrzehnten sogar noch wachsen soll. In weniger berühmten Orten rund um den Globus, so Hlade, ist die Seele des Landes weit besser spürbar als in den Tourismus-Hotspots. Oft versäumt man es auch, die Bucket-List an die eigenen Werte anzupassen und findet sich dann in Destinationen wieder, die kaum Positives zum Leben beitragen. Statt unvergesslichen, schönen Urlaubserinnerungen gibt’s danach lediglich einen mentalen Haken dahinter.

„Man reist nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen“ – dieses Zitat von Goethe sollte man heutzutage vielleicht überdenken. Zumindest, wenn das Reisen kein Urlaub, sondern eher ein Weglaufen vorm Alltag ist. Und wer weiß, was alles passiert, wenn wir das Bereisen ferner Länder nicht mehr als Selbstverständlichkeit sehen, sondern als Privileg?!

Reiseplattformen mit Mehrwert sind beispielsweise Fairaway, Anders Reisen, Bookitgreen, Green Pearls oder Ethical Traveler.

Best Practice: das klimapositive Hotel Luise in Erlangen in Deutschland mit „nachwachsenden“ Zimmern inkl. Bett aus Kokosnuss- und Algenfasern, Teppich aus recycelten Fischernetzen und Wänden aus gepresstem Stroh.

Christina Roth Handwerk auf höchstem Niveau

Der alte, naturbelassene Holzboden knarzt bei jedem Schritt. Es riecht nach Leder und Leim. Es riecht nach Bodenständigkeit. Die Zeit scheint vor langer, langer Zeit stehen geblieben zu sein, hier, in der 50 Quadratmeter großen Werkstatt von Christina Roth in der Salzburger Getreidegasse. So, wie die 36-jährige Handwerkerin in ihrer Lederwerkstatt näht, schleift und hämmert, so haben ihre Vorgänger*innen vor hundert Jahren auch schon gearbeitet: „Wir verwenden heute vielleicht bessere Werkzeuge als früher. Aber eigentlich bräuchten wir noch immer keinen Strom, um per Hand wunderschöne Einzelstücke zu fertigen.“

Die Lust am Neuen

Die gebürtige Steirerin war auf dem besten Weg, eine steile Businesskarriere zu machen – ehe sie sich bei einem privaten Besuch in einer Lederwerkstatt unsterblich in dieses traditionsreiche Handwerk verliebte. Anders als vielleicht manch andere Aus- und Umsteiger*innen war Christina Roth von ihrem vorherigen Beruf aber weder gefrustet, noch unter- oder überfordert.

Im Gegenteil. Aber nach fünf Jahren als Projektmanagerin bei einem großen Salzburger Energy-Drink-Hersteller und zwei weiteren Jahren in der aufstrebenden Welt der Kryptowährungen (inklusive Vorbereitung eines Börsengangs), wollte sie mit Ende 20 einfach wissen, was das Berufsleben sonst noch zu bieten hat: „Tatsächlich hatte ich nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt oder ich etwas grundlegend in meinem Leben ändern müsste. Mir hat meine Arbeit Spaß gemacht – aber ich war neugierig und wollte neue Erfahrungen sammeln.“

Dennoch war das Handwerk anfangs in erster Linie als Ausgleich zum doch recht digitalen Alltag gedacht: „Ich habe meine Ausbildung nebenbei begonnen und mir zum Beispiel drei Wochen Urlaub genommen, um bei Tsuyoshi Yamashita, dem bekanntesten Ledermeister in Japan, einen Kurs zu absolvieren.“ Deshalb erscheint ihr der Schritt in die Selbstständigkeit selbst als gar nicht so mutig, wie er auf Außenstehende vielleicht wirken mag: „Ich bin ja nicht eines schönen Morgens aufgewacht und habe mir gedacht, dass ich jetzt mein Leben komplett umkremple. Es war eine langsame Entwicklung.“

Lederware vom Feinsten – Christina Roth bei der Arbeit
© Chris Perkles

Wir müssen Nischen finden und Dinge tun, die Maschinen nicht können. Wir dürfen nicht schnell und billig produzieren, sondern müssen mit den aufwendigsten Techniken und den allerbesten Materialien arbeiten. Und wir müssen unsere ganze Liebe und Energie in unsere Produkte stecken.

Unter Druck lernt es sich besser

Mit der bewussten Entscheidung für das Handwerk ist Christina Roth sehr zufrieden: „Ich finde die Art, wie ich heute arbeite, viel schöner. Es ist so ruhig in der Werkstatt, wir hören nicht einmal Radio. Ich konzentriere mich ganz auf die Aufgabe, die vor mir liegt.“ Ein wesentlicher Unterschied zu früher ist die haptische Komponente ihrer Tätigkeit – und das konkrete, im wahrsten Sinn des Wortes greifbare Ergebnis ihrer Bemühungen: „In der Früh suche ich mir ein Stück Leder heraus und am Ende des Tages liegt ein fertiges Produkt vor mir, das ich allein mit meinen Händen und ein paar Werkzeugen geschaffen habe.“

Bei aller Handwerksromantik kann und will Christina Roth (die zwei Masterstudien zum Thema Management in Barcelona und Graz absolviert hat) ihren Ehrgeiz gar nicht zügeln: „Ich hätte ja zu Red Bull zurückkehren und dort weiter Karriere machen können. Das heißt aber nicht, dass ich jetzt nicht genauso große Ziele habe. Ich bin grundsätzlich sehr ehrgeizig. Und deshalb will ich handwerklich die Beste der Welt werden.“

Und dafür ist sie in den ersten fünf Jahren seit der Gründung ihrer CR Ledermanufaktur einen ungewöhnlichen und manchmal beschwerlichen Weg gegangen, wie sie im Gespräch mit funk tank erzählt: „Ich musste – und muss immer noch – sehr viel lernen. Deshalb habe ich zu jedem Auftrag ‚Ja‘ gesagt. Auch und gerade, wenn ich nicht wusste, wie das eigentlich funktioniert. So war ich stets gezwungen, mir selbst neue Techniken beizubringen. Ich hätte es mir leicht machen und mich von Anfang an auf Geldbörsen und Reisepass-Hüllen spezialisieren können. Aber so war ich unter Druck gezwungen, mich und meine handwerklichen Fähigkeiten stetig zu verbessern.“

Muskulöse Hände

Die Bandbreite von Produkten, die Christina Roth in ihrer Ledermanufaktur herstellen kann, ist groß; sie reicht von jeder Art von (maßgefertigten) Taschen und Gürteln über Geldbörsen und Uhrbänder hin zu Gerätehüllen und edlen Buch- und Speisekarten-Einbänden. Was sie – anders als in ihren früheren Jobs – dafür nicht braucht, ist ein Computer: „Den verwende ich nur für die Buchhaltung und um Anfragen von Kundinnen und Kunden zu beantworten. Ansonsten arbeite ich so, wie schon vor hundert Jahren gearbeitet wurde und zeichne Schnittmuster nicht digital, sondern traditionell am Karton.“

Die Beschäftigung mit dem robusten Werkstoff Leder verlangt sehr viel Geduld – und körperliche Kraft; je nach Größe einer Tasche oder eines Gürtels sind zum Beispiel Dutzende, ja Hunderte Nadelstiche notwendig: „Es gibt Fotos aus meinen Anfangstagen, da waren meine Finger viel zarter als heute. Durch die Arbeit mit Leder sind meine Hände wesentlich muskulöser geworden.

Lederware und Arbeitsmaterial vom Feinsten – Christina Roth bei der Arbeit
© Chris Perkles

Ich bin grundsätzlich sehr ehrgeizig. Und deshalb will ich handwerklich die Beste der Welt werden.

Maurerin statt Architektin

Gleichzeitig – und auch das fasziniert Christina Roth – verlangen edle Lederwaren sehr viel Gefühl und ein sehr gutes Auge: „Eine Geldbörse besteht aus rund 20 Teilen und alle sind unterschiedlich dick. Wenn wir Leder spalten, bewegen wir uns im Bereich von Zehntelmillimetern. Damit das Produkt am Ende schön in der Hand liegt, muss ich sehr präzise arbeiten.“

Ein Großteil ihrer Werke sind Auftragsarbeiten: „Ich muss gestehen, dass ich selbst keinen großen kreativen Anspruch habe und nicht zwingend jeden Tag irgendetwas Neues designen muss. Kreativ bin ich vor allem in der Wahl meiner Techniken: Wie kann ich Wünsche meiner Kundinnen und Kunden am besten umsetzen? Wenn man so will, dann bin ich eher eine Maurerin, die das Haus aufzieht, und weniger die Architektin, die dieses Haus plant …“

Ein Ort atmet Geschichte

Christina Roth hat ihren Betrieb 2019 an einer prominenten Adresse eröffnet: in der Getreidegasse, mitten in der Salzburger Altstadt, in einem mehr als 500 Jahre alten Gebäude; das elegante Stiegenhaus ist mit edlem Marmor verkleidet. Im Erdgeschoss ist jener Schmiedebetrieb beheimatet, der seit Generationen die berühmten schmiedeeisernen Zunftzeichen in Salzburgs exklusivster Fußgängerzone herstellt.

Natürlich war die Location gerade am Anfang eine zusätzliche finanzielle Bürde, sagt Christina Roth: „Aber man muss dem Handwerk und seiner großen Tradition Respekt zollen. Außerdem ist es für mich selbst ein viel schöneres Gefühl, jeden Morgen durch dieses geschichtsträchtige Gassengewirr zur Arbeit zu gehen, als irgendwo in einem gesichtslosen 70er-Jahre-Bau neben irgendeiner dreispurigen Straße zu sitzen.“

Einfach nur stolz

Für ihren Traum war – und ist – Christina Roth bereit, große Mühen und Strapazen auf sich zu nehmen. Um ihr Gewerbe überhaupt anmelden und ausüben zu dürfen, absolvierte sie im niederösterreichischen Lilienfeld die Berufsschule: „Ich musste mir die Ausbildung selbst finanzieren, konnte aber nebenbei nicht viel arbeiten.“

Auch der Aufbau der Werkstatt war von entbehrungsreichen Versuchen und Irrtümern begleitet: „Natürlich braucht man Werkzeug und gewisse Maschinen. Wenn du dir einen Hammer kaufst und dann draufkommst, dass es doch nicht der richtige ist, hast du halt 35 Euro in den Sand gesetzt. Aber wenn du dir eine Spaltmaschine um 7.000 Euro kaufst, fünf Monate darauf wartest, die Stromleitungen umbauen musst – und dann draufkommst, dass dieses 250 Kilo schwere Trumm doch nicht so funktioniert, wie du es dir erwartet hast, ist das sehr frustrierend.“

Dazu kam speziell in den ersten Jahren die Unzufriedenheit mit den eigenen Fähigkeiten, sagt Christina Roth: „Du hast ein Bild im Kopf und weißt theoretisch genau, was du machen müsstest. Aber deine Hände schaffen es einfach nicht, diese Ideen umzusetzen.“ Umso schöner ist das Gefühl, wenn ein Projekt schlussendlich doch perfekt gelingt – wie zuletzt der eigenhändige Nachbau einer legendären Birkin Bag aus dem Hause Hermès: „Sie ist nicht für den Verkauf gedacht. Ich wollte nur wissen, ob ich es technisch kann. In solchen Momenten vergisst man all die Opfer, die man bringen musste, und ist einfach nur stolz.“

Das Handwerk darf nicht aussterben

Christina Roth gibt ihre Begeisterung für traditionelles – und traditionsreiches – Handwerk mit großer Leidenschaft weiter. Und das nicht nur, weil es ihr Freude macht, ihr Wissen weiterzuvermitteln, sondern auch aus einem ideellen Ansatz: „Wir müssen alle in die Gesamtentwicklung dieses Kulturguts einzahlen. Wenn jeder nur auf sich schaut, wird das Handwerk nämlich irgendwann aussterben.“

Ihr Lehrling Carolina ist aktuell tatsächlich eine von nur zwei angehenden Ledergalanteriewarenerzeuger*innen in ganz Österreich: „Ich war damals sogar die einzige in meinem Jahrgang. Das hat mir schon damals zu denken gegeben: Wenn nur ein oder zwei Menschen von acht Millionen im Land diesen Beruf erlernen wollen, dann muss irgendjemand zeigen, wie schön dieser Beruf ist.“

Diese Rolle übernimmt sie nicht nur, indem sie ihren Arbeitsalltag immer wieder auf ihren Social-Media-Kanälen dokumentiert, sondern auch mit Online-Kursen oder Workshops direkt in ihrer Werkstatt: „Und zuletzt war ich deshalb wieder einmal für eine Woche in den Niederlanden. Ich liebe es ganz einfach, mein Wissen und meine Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen, die sich fürs Handwerk begeistern.“

Lederware und Arbeitsmaterial vom Feinsten – Christina Roth bei der Arbeit
© Chris Perkles

Wir alle tragen Verantwortung

Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema in Christina Roths Philosophie – bei der Herkunft des Leders aus dem EU-Raum ebenso wie bei den Gerbmethoden: „Ich achte darauf, dass das Leder möglichst chromfrei und im Optimalfall rein pflanzlich gegerbt wurde. Du spürst einfach den Unterschied, ob Leder chemisch in zwei Stunden in einer riesigen Trommel gegerbt wurde oder langsam und schonend, so wie früher.“

Es sind diese Details, die ihre Arbeit von Massenware unterscheiden, sagt Christina Roth, die sich große Gedanken über die Zukunft des Handwerks ganz allgemein macht: „Wir müssen Nischen finden und Dinge tun, die Maschinen nicht können. Wir dürfen nicht schnell und billig produzieren, sondern müssen mit den aufwendigsten Techniken und den allerbesten Materialien arbeiten. Und wir müssen unsere ganze Liebe und Energie in unsere Produkte stecken.“

Lederwaren können zudem repariert und restauriert werden (ein wichtiger Teil von Christina Roths Geschäftsmodell): „Mir ist bewusst, dass Lederverarbeitung per se nicht das Allerbeste fürs Tierwohl ist. Aber wenn ich hundert Jahre alte Taschen zum Restaurieren bekomme und sehe, in welch gutem Zustand das Material immer noch ist, dann ist das doch ein Beweis für nachhaltige Qualität.“ Und natürlich liegt es in unser aller Verantwortung, beim Shopping bewusste Entscheidungen zu treffen: „Ich kann mir 25 billige Plastikgürtel kaufen, die zwar vegan sind, aber nach kurzer Zeit kaputt gehen. Ich kann aber auch in ein, zwei schöne Ledergürtel investieren, mit denen ich viele Jahre meine Freude hab’ …“

Es geht voran

Christina Roth blickt der Zukunft motiviert und voller Ideen entgegen. Ihr Betrieb soll weiter wachsen und das Angebot erweitert werden. Ein Webshop ist gerade in Planung, außerdem wälzt die Steirerin den Gedanken, mit ihrer Werkstatt in die alte Heimat zurückzukehren und in Salzburg ein Showatelier mit Verkaufsfläche zu eröffnen. Die Rückkehr in die Steiermark wäre aber kein Schritt zurück. Im Gegenteil: „Ich mache einfach Dinge, die ich mag und die mir guttun.“

Christina Roth, 36, ist Ledergalanteriewarenherstellerin und führt in der Salzburger Altstadt ihre CR Lederwerkstatt, wo sie nicht nur exklusive Einzelstücke herstellt, sondern auch alte Lederprodukte restauriert und repariert. Ihr Wissen gibt die gebürtige Steirerin gern an andere handwerksbegeisterte Menschen weiter.

Christina Roth

Kurze Nächte im „neuen Norden“ Tallinn

Am „Raekoja plats“, dem Rathausplatz von Tallinn, reihen sich die Cafés mit Gastgärten rund um das mittelalterliche Ensemble. Die Pflastersteine der Stadt zeugen von einer alten Geschichte. Schon im Mittelalter war Tallinn als Hansestadt wichtiger Handels- und Knotenpunkt. Heute ist die estnische Hauptstadt einmal mehr im Fokus internationaler Beziehungen.

Am Nebentisch spricht ein älterer britischer Soldat, schon ein paar Guinness intus, über Kampferfahrungen aus früheren Zeiten. Über der Stadt fliegen NATO-Helikopter Richtung russischer Grenze. Der nördlichste der drei baltischen Staaten mit nur knapp 1,5 Millionen Einwohner*innen ist auch Schauplatz der neuen Konfliktlinie zwischen Russland und dem Westen. Obwohl diese Gegebenheiten präsent sind, könnte man sie im Herzen der Altstadt fast vergessen. Denn die „am besten erhaltene mittelalterliche Altstadt“ mit UNESCO-Gütesiegel wirkt an manchen Ecken tatsächlich wie die Kulisse aus einem Märchen- oder Fantasyfilm. Von den Aussichtsplattformen hoch über der Stadt sieht man in der Architektur gut die verschiedenen Einflüsse auf Land und Stadt. Die Handelshäuser der vergangenen Hansestadt, die realsozialistischen Betonmonumente der Sowjetzeit und viele skandinavisch anmutende Bauten mit Ziegelsteinen und Holzdächern. Doch eines der zentralen Kernelemente des jüngeren Estlands drückt sich nicht unbedingt durch die Architektur und Analoges aus (von ein paar verstreuten Glashochhäusern abgesehen).

Der mittelalterliche Rathausplatz mit Cafes und Schanigaerten in Tallinn
Der mittelalterliche Rathausplatz mit Cafés und Schanigärten © Fergus Sweeney

Digitale Pionierarbeit

In den letzten Jahren hat sich Estland zum digitalen Pionier entwickelt. Als kleines Land setzte man schon früh voll auf die Digitalisierung in sämtlichen Gesellschaftsbereichen. Bei Amtswegen von der Hochzeit bis zur Firmengründung. Aber auch im öffentlichen Nahverkehr, den Restaurants und beim Einchecken im Hotel wird alles digital und sehr unkompliziert gehandhabt. Und viele der Möglichkeiten sind auch für Tourist*innen verfügbar. Mit der sogenannten e-residency kann man auf der ganzen Welt um ein paar hundert Euro einen virtuellen Wohnsitz in Estland beantragen, die Bestätigung zum Abholen gibt es dann bei der estnischen Botschaft/dem Konsulat ein paar Tage später. Besonders gerne genutzt wird die e-residency natürlich zur Firmengründung, nicht nur für globale Unternehmen, die eine virtuelle Niederlassung in der EU wollen, sondern auch von vielen europäischen, etwa aus Deutschland, die den vergleichsweise schnellen und unbürokratischen Ablauf schätzen.

Über 105.000 e-residents aus 176 Ländern gibt es, diese haben in den letzten Jahren über 27.000 Firmen gegründet.
Durch das Programm und andere verschiedene digitale Initiativen der letzten Jahre wurde ein Ökosystem geschaffen, das Firmen wie den Uber-Konkurrenten Bolt, mittlerweile ein globales Milliardenunternehmen, hervorgebracht hat. Menschen aus der ganzen Welt gründen hier nicht nur ihre Firma, sondern sind auch immer öfter physisch vor Ort. Gleichzeitig gibt es rege internationale Austauschprogramme für Student*innen, die der Stadt (460.000 Einwohner*innen) ein kosmopolitisches Flair geben.

Am Rand der Altstadt findet sich moderne Street Art in Tallinn
Am Rand der Altstadt findet sich moderne Street Art © Fergus Sweeney

Saunas und Startups

Ein Fixpunkt der neuen digitalen Szene ist das Latitude 59 Festival, das Ende Mai zum 12. Mal auf einem ehemaligen Fabrikgelände in der Nähe des Tallinner Hafens stattfindet. Zusätzlich werden, verteilt auf die Stadt, mehrere Side-Events geboten. Investor*innen, Startups und Expert*innen aus der ganzen Welt kommen hier für drei Tage zusammen, um sich auszutauschen und die Zukunft auszuloten. Das passiert nicht nur in klassischen Event-Räumen, sondern auch in Örtlichkeiten wie dem Sauna-Treffpunkt Iglupark, wo man direkt von der Schwitzhütte den Sprung ins Baltische Meer zur Abkühlung nehmen kann.

„Wir haben hier im Baltikum eine besondere Situation. Die Grenzen, die wir aus der jüngeren Geschichte gewohnt waren, gelten nicht mehr. Das Baltikum hat, auch historisch, so viele Gemeinsamkeiten mit den skandinavischen Ländern“, erzählt Vincent Weir im Rahmen des Festivals. Der junge Amerikaner ist über mehrere Umwege aus Texas in Stockholm gelandet. Dort hat er mehrere Funktionen bei Fonds und Netzwerken und ist im ständigen Austausch mit baltischen Startups und Entscheidungsträger*innen. „Ich spreche daher gerne von den New Nordics, die sich vor allem durch Kooperation und Innovation auszeichnen. Dazu kommt eine Prise gesundes Wettbewerbsdenken und der Wunsch, die Herausforderungen der Gesellschaft bezüglich Lebensqualität, sozialen Standards und Nachhaltigkeit zu meistern“, so Weir. Diesen Zugang teilen viele der Festival-Gäste, die estnischen ebenso wie die angereisten.

Abkühlen und Sonnen im Baltischen Meer nach dem Saunagang im Iglupark in Tallinn
Abkühlen und Sonnen im Baltischen Meer nach dem Saunagang im Iglupark © Fergus Sweeney

In den letzten Jahren hat sich Estland zum digitalen Pionier entwickelt. Als kleines Land setzte man schon früh voll auf die Digitalisierung in sämtlichen Gesellschaftsbereichen.

Bunte Farben und AI-Visuals bei einer Afterparty des Latitude 59 Festival in Tallinn
Bunte Farben und AI-Visuals bei einer Afterparty des Latitude 59 Festival © Fergus Sweeney

Die Stadt im Kreislauf

Diesen Mindset findet man nicht nur im Rahmen des Festivals, wo es keine Wegwerfbecher und Verpackungen gibt, sondern auch an anderen Orten in der Stadt. So gibt es beispielsweise an jedem Mülleimer eigene Recycling-Fächer, generell wird die Kreislaufwirtschaft hier großgeschrieben. Zahlreiche Pilotprojekte testen, etwa im Bereich der Logistik, emissionsfreie Alternativen zum Status quo. Auch in der lokalen Wirtschaft ist der Nachhaltigkeitsgedanke stark verankert. Etwa im Restaurant Rataskaevu 16, wo von einem jungen Team frische regionale Zutaten aus dem Meer und dem waldreichen Umland mit frischem Brot serviert werden. Qualität, Preis-Leistungs-Verhältnis und die kulinarische Vielfalt der Stadt überzeugen.

Aufgrund der verhältnismäßig hohen Lage kommt in den Sommermonaten hinzu, dass die Sonne gefühlt kaum untergeht, auch nach 22 Uhr scheint sie noch und ist bereits um 4 Uhr in der Früh wieder da – kurze Nächte sind also vorprogrammiert. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Gemüt der Menschen und sorgt für jede Menge Energie. Im Gespräch mit der lokalen Bevölkerung hört man allerdings durchaus durch, dass es in den Wintermonaten genau umgekehrt ist. Daher werden die Sommermonate besonders genossen.

Von Wien aus fliegt Ryanair 2x wöchentlich direkt nach Tallinn, ansonsten gibt es Flüge über Riga oder Helsinki (mit der Fähre nur 2 Stunden entfernt, mehrere Verbindungen täglich).

Zahlungsmittel ist seit 2011 der Euro. Zahlreiche Hotels befinden sich in der mittelalterlichen Altstadt oder rund um den Hafen.

Der öffentliche Verkehr ist bestens ausgebaut (auch zum Flughafen), die meisten Sehenswürdigkeiten sind fußläufig erreichbar, zusätzlich gibt es den Fahrtendienst Bolt (mit dem auch Räder und Roller ausgeliehen werden können) und klassische Taxis.

Visit Tallinn

Frischer Ohrenschmaus von Sonos

Sonos Ace nennt sich der erste Kopfhörer von Sonos, und das ist schon mal eine Ansage. In einem Segment, wo globale Player wie Sennheiser, Sony oder Bose mit jahrzehntelanger Erfahrung Consumern und Audiophilen gleichermaßen die Ohren umschmeicheln, hat man es als Newcomer schwer. Selbst Kopfhörer wie Beats by Dre werden mehr als Accessoire statt ernstzunehmendes Hi-Fi-Produkt wahrgenommen, und sogar Gigant Apple wägt seine Schritte in dem Segment vorsichtig ab. Kein Wunder, sind doch die Kund*innen in den letzten Jahren mit zig Features verwöhnt: Noise Cancelling, perfekte Soundqualität via Bluetooth oder Kabel, höchster Tragekomfort, natürlich eine App dazu und last but not least ein Design, mit dem man sich sehen lassen kann. Knifflige Vorgabe!

Ass beim ersten Aufschlag

Wenn man also den Sonos Ace auspackt, fällt einem gleich das elegante Aufbewahrungsetui auf. Hergestellt aus 75 % recyceltem Filz aus Plastikflaschen, enthält es den flach zusammengelegten Kopfhörer – erhältlich in Weiß oder Schwarz – sowie zwei Kabel. Eines mit USB-C-Anschlüssen an beiden Enden zum Laden des Ace, eines fungiert als USB-C zu 3,5 mm Klinke, für den Fall, dass man kabelgebunden hören möchte. Der Kopfhörer selbst ist robust und schlicht designt, besteht ebenfalls aus recycelbaren Materialien bzw. veganem Lederimitat und sitzt auf Anhieb gut auf dem Kopf und über den Ohren. Das Pairing und die Tonübertragung via Bluetooth 5.4 funktionieren einwandfrei, auch die App ist intuitiv und verrät einige Funktionen, auf die ich später noch zurückkomme.

Die Bedienung erfolgt über haptisch gut ertastbare Schalter, auf ein Touchpanel hat man bewusst verzichtet. Unter anderem aus dem Grund, damit zwischen den 40 mm Treibern und der Außenschale der Kopfhörer keine störende Elektronik befindet. Apropos Elektronik: Diese ist kompakt verbaut, abgesehen von den Treibern befinden sich insgesamt acht Mikrofone am Gerät, um Umgebungsgeräusche für das Active Noise Cancelling (ANC) oder Sprache in der Funktion als Headset aufzunehmen. Und noch mehr, aber auch dazu später!

Beim Noise Cancelling gibt es fast die Höchstnote, denn das Ausblenden der Umwelt ist hier auf einem Level mit den eingangs erwähnten Mitbewerber*innen erste Sahne. Allerdings mit einem kleinen Manko: ANC lässt sich nur ein- oder ausschalten, es gibt keine Möglichkeit, einen eigenen Mix via App zu erstellen. Die Soundqualität ist sehr gut, der recht lineare Frequenzgang (ohne den bei Consumer-Produkten unnötigen Bass-Boost) sorgt für ermüdungsfreies Hören. Getestet auf einem Flug nach London: 2,5 Stunden Netflix-Mäusekino am Smartphone ohne Dauergequatsche, Babygeschrei und Turbinenbrummen, dafür mit einwandfreiem Kinosound. Bravo! Den Akku scheint das sowieso kaum zu kümmern, der blieb fast voll. Kein Wunder, laut Herstellerangabe hält er auch mit ANC bis zu 30 Stunden. Falls er doch mal leer wird: Eine Quickcharge-Funktion pumpt in nur drei Minuten Saft für drei Stunden in den Kopfhörer!

Moodbild Sonos Ace Kopfhörer
© Sonos

Getestet auf einem Flug nach London: 2,5 Stunden Netflix-Mäusekino am Smartphone ohne Dauergequatsche, Babygeschrei und Turbinenbrummen, dafür mit einwandfreiem Kinosound. Bravo!

Auch daheim ein Winner

Kommen wir zu den angeteaserten Zusatzfunktionen. Sonos war so nett, mir zum Testgerät auch den High-End-Soundbar Sonos Arc bereitzustellen, denn in den eigenen vier Wänden spielt der Kopfhörer dann noch einige zusätzliche technische Gustostückerl. Verbunden mit der Soundbar und gesteuert über die App, können die Headphones mit der sogenannten True Cinema-Funktion die Raumakustik vermessen und durch Room Modeling den Charakter der Raumakustik via Soundbar auch im Kopfhörer exakt abbilden. Wenn man also im Beisein von Partner*in oder Familie den TV-Ton nur im Kopfhörer haben möchte, hört man genau so wie mit der Soundbar.

Doch der wahre Clou ist das dynamische Head Tracking. Der Sonos Ace erkennt via Bewegungssensoren die Standardposition des Trägers/der Trägerin und in weiterer Folge, wo beim Ton „vorne“ ist. Bewegt man nun den Kopf, bleibt dieses „vorne“ auch relativ zur Kopfposition dort – das räumliche Klangbild bleibt in 3D-Audio mit Dolby Atmos erhalten. Witzigerweise funktioniert das auch mit dem Handy, im Flugzeug blieb der Dialog vom Film auch bei einem Blick aus dem Fenster da, wo er gefühlt herkommt, nämlich beim Bildschirm.

Gibt es irgendwas zu bemängeln? Ja, aber nur wenig. Wie schon erwähnt, wäre es fein, wenn man den Grad des ANC steuern könnte, auch ein wenig mehr Möglichkeiten beim Equalizer wären wünschenswert. Punkto Komfort ist er bei der typischen „Um-den-Hals-geschlungen“-Trageweise nicht sehr bequem, man kann die Ohrhörer auch nur in eine Richtung umklappen – genau so nämlich, dass man beim Aufsetzen nicht gleich die richtige Seite links bzw. rechts hat. Dies ist aber am Kopfhörer selbst dank einiger deutlich erkennbarer Markierungen problemlos ersichtlich.

Fazit

Für Erstlinge ist der Ace ein grundsolides, technisch und optisch einwandfreies Produkt, das mit dem alteingesessenen Mitbewerb locker mithalten kann. Teilweise sogar mehr als das: Die tauschbaren Ohrpolster sind mittels Magneten befestigt und nicht mit umständlichen Bajonettverschlüssen, die Einbindung ins Home-Entertainment via Sonos Arc sucht ihresgleichen. Für diese freilich heißt es, ziemlich in die Tasche greifen. Muss aber nicht sein, der Ace ist auch singulär ein tadelloses Gerät für unterwegs und daheim, mit einem UVP von 499 Euro bewegt er sich preislich durchaus im selben Feld wie ähnliche Produkte.

Der kalifornische Hersteller Sonos ist für seine innovativen Lautsprecher und Hi-Fi-Produkte bekannt. Mit dem Sonos Ace hat das Unternehmen jetzt erstmals einen Kopfhörer auf den Markt gebracht.

Sonos

Exzellenz am Tresen

Geboren in Washington, D.C., Volksschule in Penzing und Peking, dann Nigeria und wieder Penzing. Man ahnt es schon: Paulines Eltern sind entweder handwerklich viel auf Montage, Reporter*innen, Armeeangehörige – oder im diplomatischen Korps. Nun, Letzteres ist zutreffend. Und obwohl es naheliegend gewesen wäre, mit elterlichem Rückenwind eine ähnliche Laufbahn einzuschlagen, entschied sich die junge Polly dann doch ganz anders. Nämlich für die Gastronomie. So viel zu den Klischees über Diplomat*innenkinder. Das polyglotte Mädel entwickelte schon früh ein Faible für Drinks und das Mixen dieser. Und damit sind nicht die Teenager-typischen Kreationen wie Cola Rot und Vodka Bull gemeint, sondern ausgeklügelte Cocktails. Es folgte eine Lehre zur Restaurant- und Hotelfachfrau und im fliegenden Wechsel ging es gleich weiter in die heiligen Hallen der Academy of Modern Bartending in München.

Spirituosen-Expertin Polly Scholz mit Gin-Flasche
© Kurt Keinrath

My Bar is my Castle

Freilich lernt man einen anspruchsvollen Job wie Bartender nicht nur in Berufsschule und Akademie, sondern in erster Linie im knochenharten Alltag (oder Allnacht?). Also hieß es Vollgas geben am Christkindlmarkt und bei diversen Events wie Harley-Treffen oder Gin-Markt – da kommt man mit Kreativität und Wissen allein nicht weiter. Ausdauer, Belastbarkeit und Charme sind das zusätzliche, unentbehrliche Rüstzeug, das Polly so schon früh in die Arbeit am Bartresen mitbrachte. Und so ist es wenig verwunderlich, dass die junge Dame mit nicht mal 25 Lenzen den begehrten Titel „Chef de Bar“, noch dazu im renommierten Wiener Hotel Sans Souci, führen durfte. Mit wöchentlichen Cocktailkursen und Champagner-Tastings schärfte sie dort nicht nur ihre Getränke-Expertise, sondern Storytelling und ein gewisses pädagogisches Element. Fähigkeiten, die ihr wenig später völlig neue Möglichkeiten eröffneten.

Die Oberliga ruft

Ein schöner Job und guter Ruf allein nützen natürlich auf Dauer wenig, wenn man hungrig bzw. durstig nach mehr ist. Ein Wechsel in die seit Jahren schwer angesagte Wiener Josef Cocktail Bar katapultierte Polly schließlich mitten ins Interesse von Presse und Industrie. Mit einem zweiten Platz bei der Worldclass 2022, der Auszeichnung zur „Rookie Bartenderin des Jahres“ durch Falstaff sowie Siegen bei der Worldclass Speed Challenge in der DACH-Region und der prestigeträchtigen Laphroaig-Challenge waren alle Augen der Branche auf Polly gerichtet. So auch meine, vor allem aufgrund der letzteren Auszeichnung, denn als Whisky-Fetischist (ganz besonders Islay) war ich beim ersten Schluck eines ihrer Signature-Cocktails überzeugt.

Spirituosen-Expertin Polly Scholz bei der Arbeit
© Aaron Jiang Photography

Nicht wenige Männer meines Alters stellen sich beim schottischen Destillat oft ein wenig weinerlich an. Nicht so Polly.

Internationales Parkett

Immer wieder konnte ich bei diversen Events Pollys erstaunlich tiefes Wissen um Produkte, Gefühl für Mixkunst und vor allem kreativ (jedoch nicht unnötig fancy) gemixte Ideen bestaunen. Davon angetan war auch der japanische Spirituosen-Riese Suntory, der mit Topmarken wie Jim Beam, Maker’s Mark, Hibiki, Roku, Bowmore oder Laphroaig zu den wichtigsten internationalen Playern im Spirituosen-Business zählt. Noch während Polly an der angesehenen IHK-Akademie in München ihre Barmixer-Gesellin absolvierte – die Barmeisterin ist gerade in Arbeit – angelten sich die Japaner Polly als Brand Ambassador. Und so schließt sich der Kreis: die Eltern Botschafter*innen, die Tochter auch. Anders halt. Eine ehrenvolle, aber auch verantwortungsvolle Aufgabe, denn es gilt nicht nur, die Produkte und Philosophie des Konzerns zu repräsentieren, sondern auch reichlich Wissen anzusammeln.

Jet, Set, Go!

Dazu gehört vor allem das Kennenlernen der Ursprünge von Produkten wie Whisky oder Gin. Bei einer gemeinsamen, von Suntory gesponsorten Reise mit einer fröhlichen Truppe an Expert*innen und Journalist*innen zu den Islay-Brennereien Bowmore und Laphroaig lernte ich Polly näher kennen. Immer professionell, freundlich und konzentriert bei der Arbeit, aber auch ausgesprochen ausdauernd und trinkfest in der Freizeit. Work hard, party hard – wichtige Eigenschaften, die ich bei Erwachsenen leider oft vermisse. Erst recht bei einer so schwierigen Materie wie dem extrem rauchigen, getorften Whisky der Insel. Nicht wenige Männer meines Alters stellen sich beim schottischen Destillat oft ein wenig weinerlich an. Nicht so Polly. Sehr ungewöhnlich und sehr sympathisch, wenn eine junge Dame aus gutem Haus Whisky bechern kann wie ein schottischer Matrose, jedoch dabei ganz klar unterscheiden kann, ob Sherryfass oder Virgin Oak hier eine Rolle spielt, welcher weiße Portwein dazu einen guten Cocktail-Partner abgäbe und welches Glas wohl passen würde. You get the idea. Drink-Nerds, unite!

Aktuell ist Polly gerade von einer umfangreichen Tour durch japanische Destillerien zurück. Die Chancen stehen gut, sie dort und da und überall in bekannten Bars bei einem Gastauftritt anzutreffen. Ein Tipp von mir: Fragt sie dann nach einem „Islay Chipmunk“ und der Geschichte dazu …

Pauline „Polly“ Scholz, Jahrgang 1997, ist als Brand Ambassador mit dem Abhalten von Tastings, Masterclasses und Guestshifts beschäftigt. Zuständig für das gesamte japanische Portfolio von House of Suntory, stärkt sie als Markenbotschafterin die Marktposition in der Gastronomie. Die persönliche Betreuung der Barszene ist nicht nur ihre professionelle Verantwortung, sondern auch persönliche Leidenschaft.

Polly Scholz – Instagram

Der Ziachameister

Die Liebe zur Musik, erzählt Andreas Nöß, ist ihm praktisch in die Wiege gelegt worden. „Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt, dass meine Eltern Mitglieder einer Dreig’sang-Gruppe waren und zu Hause geprobt haben. Seit ich reden konnte, bin ich daneben gesessen und habe mit meiner Mama die erste Stimme mitgesungen.“ Seine eigentliche Bestimmung ist aber die Ziehharmonika, umgangssprachlich die „Ziach“. „Mich hat von Anfang an fasziniert, dass du gleichzeitig Melodie und Bass spielen kannst. Du brauchst niemanden sonst für eine g’scheite Musi‘.“

Dabei hat der 28-jährige Oberbayer durchaus ein großes Herz für harmonievolles Gruppengefüge – sei es früher mit dem punkig wilden Wamba Brass Club oder heute nebenbei mit seinen zünftigen Schreinerbuam. „Tatsächlich habe ich kurz mit dem Gedanken an eine Karriere als Profi-Musiker gespielt. Aber um mit den großen Kalibern mithalten zu können, hätte ich schon viel früher wesentlich intensiver üben müssen.“ Lieber wurde er Harmonikabauer – oder, wie es so schön im Amtsdeutsch heißt: Handzuginstrumentenmacher. „So kombiniere ich meine Begeisterung für die Musik mit der Leidenschaft fürs Handwerk und der Faszination für die Ziach.“

Portrait des Harmonikabauers Andreas Nöß auf dem Berg
© erlebe.bayern/Bernhard Huber

Instrumente statt Möbel

Andi stammt aus Steingaden, einem bayerischen Erholungsort mit rund 3.000 Einwohner*innen, in der Nähe von Schloss Neuschwanstein und unweit der Grenze zu Österreich. Einige Gipfel der Tannheimer Berge in Tirol sind bei klarem Wetter schön zu sehen. Volksmusik gehört hier – unbeschadet von jeglicher (österreichischer) Leitkultur-Debatte – zum guten Ton, zum Alltag. „Steingaden ist ein ruhiger Ort – aber es hat gut zehn Kneipen und Lokale, in denen immer was los ist. Außerdem hat es ein unglaublich aktives Vereinsleben. Egal, ob Musikverein, Trachtenverein, Fischereiverein oder Schützenverein, alle versuchen, die Jugend mit einzubinden.“

Gelernt hat Andi sein Handwerk beim traditionsreichen Harmonikabauer Öllerer in Freilassing, die Meisterprüfung hat er 2018 als Jahresbester abgelegt. Ehe er die Ausbildung beginnen durfte, absolvierte er auf Empfehlung seines Lehrherren noch eine Schreinerlehre (das bayrische Äquivalent zum österreichischen Tischler). „Das ist auch ein schöner Beruf. Aber ich baue lieber Musikinstrumente als Möbel.“ Seine Entscheidung, die Werkstatt dem Rampenlicht vorzuziehen, bereut er keinen Moment. „Ich bin so zufrieden mit meinem Leben, dass ich mit niemandem auf der Welt tauschen möchte, nicht einmal für einen Tag.“

Forscher Geist

Andi, der im Herbst zum zweiten Mal Vater wird, hat sich seine Werkstatt im Untergeschoß des Wohnhauses eingerichtet. Hier, in seinem knapp 20 Quadratmeter großen Reich, verbindet der Ziachameister volkstümliche Tradition mit moderner Technik, wobei er die Tradition des beliebten Volksmusikinstruments mit einem spitzbübischen Augenzwinkern betrachtet. „Schau, im Vergleich zur Geige oder zu diversen Blasinstrumenten steckt die Harmonika mit ihren knapp 200 Jahren ja quasi noch in den Kinderschuhen.“

Dementsprechend groß sind aus seiner Sicht die Verbesserungsmöglichkeiten, an denen er gemeinsam mit Hardi Schmid, dem Schreiner seines Vertrauens, tüftelt. „Wir schauen ganz genau, welche Wehwehchen dieses Instrument hat und wie wir sie in den Griff bekommen.“ Besonders intensiv haben sie sich zuletzt mit der komplexen Anordnung der einzelnen Tastenhebel im Inneren des Instruments befasst. „Wir haben eine neue Diskantmechanik entwickelt und zum Patent angemeldet.“ Wie die Verbesserung im Detail zustande kommt, kann und will Andi („Betriebsgeheimnis!“) nicht erklären. Nur so viel: „Von außen kannst du keinen Unterschied erkennen. Aber der Spieler/die Spielerin merkt, dass das Spielgefühl wesentlich geschmeidiger ist.“

Detailaufnahme einer steirischen Harmonika, die von Andreas Nöß gebaut wurde
© erlebe.bayern/Bernhard Huber

Klang nach Maß

2019 hat sich Andi, der neben der Ziach auch Gitarre und Posaune spielt, mit seinem Meisterbetrieb „Nöß Harmonikabau“ selbständig gemacht. Mit einem speziellen Angebot an maßgefertigten, sechs bis siebeneinhalb Kilo schweren „Ziacha“ (wie die Mehrzahl korrekterweise heißt). Wobei die Wahl des Holzes tatsächlich in erster Linie optischen Vorlieben folgt, weil die Tonerzeugung über die metallenen Stimmplatten im Inneren entsteht und nicht – wie etwa bei Geigen oder akustischen Gitarren – über den Korpus.

„Im Endeffekt“, verspricht der Instrumentenbauer, „können wir alles individualisieren, von den Tonarten über das Material der Knöpfe hin zur Balgfarbe und dem Muster der Tragegurten.“ Wobei das, wie er sagt, andere Ziach-Hersteller*innen natürlich ebenfalls anbieten. „Auf Wunsch kann ich aber auch die Mechanik des Instruments und damit den Tastendruck ganz individuell den Ansprüchen der Spieler anpassen. Und das Tremolo, also die Schwebung und damit das Klangbild von ganz flach bis richtig krachig, kannst du dir bei uns ebenfalls maßfertigen lassen.“

Was Andi, der sich auch mit dem Reparieren von Harmonikas regional einen guten Namen gemacht hat, hingegen nicht anbietet, sind Instrumente für Linkshänder*innen, wie er lachend hinzufügen möchte. „Wenn ich alles seitenverkehrt aufbauen müsste, wären die Fehlerquellen unüberschaubar. Da ist es wirklich g’scheiter, du lernst, wie ein Rechtshänder/eine Rechtshänderin zu spielen …“

Die erste Ziach für Stofferl Well

Die allererste Ziach aus dem Hause „Nöß Harmonikabau“ spielt übrigens eine (Volks-)Musiklegende, die weit über die bayerischen Grenzen hinaus bekannt ist. Christoph „Stofferl“ Well, jüngster der drei Well-Brüder, die schon unter dem Namen Biermösl Blosn Volksmusik mit satirischen Texten verbunden haben und immer noch gemeinsam mit Gerhard Polt (und manchmal mit dem Toten Hosen-Frontmann Campino) für urige und gleichzeitig ironische Stimmung sorgen. „Der Stofferl hat vor ein paar Jahren eine Sendung für den Bayerischen Rundfunk bei uns gedreht. Da ging es eigentlich um meine damalige Band, aber danach hat er sich sehr für meine Ziach interessiert und gesagt: „Wenn du dich dann einmal selbständig machst, dann baust du dein erstes Instrument für mich!“

Und das hat Andi gemacht. „Als es so weit war, habe ich ihn angerufen und ihn gefragt, ob sein Angebot noch steht, und er hat gesagt: „Logisch!“ Der Arbeit für Stofferl Well gingen – wie immer bei Maßanfertigungen – wichtige Gespräche voraus. „Er hat sich für eine kleine Ziach, eine Dreireiher entschieden, weil große Instrumente für ihn unhandlich sind. Gestimmt haben wir sie auf ein mittleres Tremolo, genauso wie er es haben wollte. Ich glaube, er dürfte recht zufrieden sein, zumindest habe ich bis heute keine Beschwerden von ihm gehört …“

Portrait des Harmonikabauers Andreas Nöß
© erlebe.bayern/Bernhard Huber

Ich bin so zufrieden mit meinem Leben, dass ich mit niemandem auf der Welt tauschen möchte, nicht einmal für einen Tag.

Qualität braucht Zeit

„Der Bau einer Ziach – pardon, eines Handzuginstruments – verlangt Geduld – ich baue jede Taste aus neun Einzelteilen zusammen –, eine ruhige Hand und ein ausgezeichnetes Gehör. Außerdem ein Verständnis, wie man so unterschiedliche Materialien wie Holz, Leder, Filz, Papier, Pappe und Metall optimal miteinander verbindet.“ Bis zu 150 Arbeitsstunden stecken in einer Nöß-Ziach. Pro Monat kann Andi im Schnitt ein Instrument fertigen. Dass diese handwerkliche Qualität ihren Preis hat, ist seinen Kund*innen bewusst und auch, dass sie mittlerweile gewisse Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. „Die nächsten eineinhalb Jahre bin ich jedenfalls schon gut ausgelastet.“

Grundlage seiner Unternehmensphilosophie ist, das Holz und dutzende weitere Einzelteile möglichst von lokalen oder regionalen Anbieter*innen zu beziehen. „Ich will nichts aus dem Internet bestellen, nur weil es irgendwo billiger produziert worden ist. Ich brauche persönliche Ansprechpartner*innen, die – genau wie ich – größten Wert auf Qualität legen.“

Zudem sorgt der Kontakt zu Metaller*innen, Holztandler*innen und Trachtenschneider*innen im engsten Umfeld ja auch wieder für gute Unterhaltung für die ganze Familie. „Die Balgschoner kann ich mit dem Rad abholen. Speziell für mich gefertigte Metallteile bringt meine Frau mit, wenn sie mit dem Buam spazieren geht, und die Riemen holt die Mama ab, wenn sie den Opa besuchen fährt.“ Und so klingt Andis Ziach so richtig nach dem echten Leben.

Andreas Nöß, Jahrgang 1995, baut zu Hause im bayerischen Steingaden Steirische Harmonikas, die allerdings ursprünglich in Wien erfunden wurden und ohne einen auch heute noch nachvollziehbaren Grund „Steirische“ genannt werden. Bei Andi heißen diese diatonischen, wechseltönigen Handzuginstrumente mit Knopf-Tastatur ohnehin „Ziach“.

Andreas Nöß Website / Facebook / Instagram

ESO: So muss Community!

Die Zahlen sind beeindruckend: Seit der Erstveröffentlichung im April 2014 hat ESO eine beeindruckende globale Community von über 24 Millionen Spieler*innen aufgebaut. Kurze Erklärung dazu: ESO ist ein MMORPG (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game), also ein Online Abenteuer in einer offenen Spielewelt. In der fiktiven Welt von Tamriel angesiedelt, spielt es etwa ein Jahrtausend vor den Ereignissen von „The Elder Scrolls V: Skyrim“, einem der bekanntesten und besten Spiele seiner Art. Das Besondere an ESO ist die Konsequenz, mit der der Entwickler ZeniMax Online regelmäßig Erweiterungen veröffentlicht. Darunter große jährliche Ergänzungen der Spielewelt wie „Morrowind“, „Summerset“, „Elsweyr“, „Greymoor“ und „Blackwood“, die jeweils neue Gebiete, Geschichten und Systeme oder die Einführung neuer Spieler*innenklassen bieten. Das jüngste Kapitel „Gold Road“ wurde dabei ebenfalls im Rahmen des Community Events in Amsterdam vorgestellt.

Attraktionen überall

Tausende Besucher*innen und mehr als 200 Medienmenschen (darunter nur zwei aus Österreich!) strömten zu dem zweitägigen Event. In der Eventlocation Sugar Factory zogen die Veranstalter*innen alle Register, um das typisch mittelalterliche fantastische Flair des Games wiederzugeben. Zusätzlich zu einer großen Bühne, auf der nebst Keynote von Game Director Matt Firor auch Paneldiskussionen, Showacts, ein Cosplay Wettbewerb und sogar ein Solo-Auftritt eines bekannten Band-Frontmanns (dazu später mehr) stattfanden, gab es jede Menge zu bestaunen. Ein unfassbar detailreiches Diorama zum Beispiel, Concept Art im Großformat, Foto Spots, eine mit zahlreichen Rechnern bestückte Anspielstation zum Testen von „Gold Road“ und vieles mehr. Gastro-Stationen reichten Zünftiges wie Chili oder Chicken und Getränke sowieso. In diversen kleinen Workshops konnten Interessierte die Kalligrafie des Games, Lederhandwerk oder das Mixen eines Tranks lernen. In einer Kampfarena gaben sich wackere Recken in voller, echter Rüstung ordentlich auf die Glocke, in der eigens eingerichteten chilligen Taverne gönnte man sich Ruhe vom Rummel.

Verkleidete Nerds am ESO Event 2024 in Amsterdam
© Markus Höller/funk tank

Halli Galli für die Community

„Rummel“ trifft es eigentlich ganz gut. Das ganze Event muss man sich wie einen Indoor-Themen-Kirtag vorstellen. Teilweise über den ganzen Globus verteilte Zocker*innen kamen hier mitunter erstmals im echten Leben zusammen. Es wurden Erfahrungen ausgetauscht und die teils aufwändigen, originalgetreu gefertigten Cosplay-Kostüme bewundert. Bewerbe vom Axtwurf bis zur Claw-Machine sorgten für Kurzweil, wertvolle Preise warteten außerdem. Nebenbei gab es immer wieder die Möglichkeit, an Round Tables mit den Entwickler*innen teilzunehmen oder Vorträgen zu spezifischen Eigenschaften und Perspektiven des Games zu lauschen. Und am ersten Abend der Veranstaltung bot zum Abschluss kein Geringerer als Matt Heafy, Chef der Band Trivium, ein Solo-Akustikset, denn die Band kollaborierte in der Vergangenheit mit dem Game. Dementsprechend begeistert war das Publikum. Eine launige Auswahl an Coversongs, u.a. von Elvis und Leonard Cohen, wechselte sich mit Trivium-Material ab. Eine Darbietung des „Peaches“ Songs aus Super Mario Bros wurde klarerweise von Game-Nerds ausgiebig gefeiert. Heafy stand am nächsten Tag trotz Jetlag und Verkühlung dann noch geduldig für ein Meet & Greet bereit, die Fans trugen teils beachtliche Mengen an Material zum Signieren heran.

Matt Heafy live am ESO Event 2024 in Amsterdam
Matt Heafy live am ESO Event 2024 in Amsterdam © Markus Höller/funk tank

Wohlfühl-Community

Man könnte jetzt denken, dass es bei einem derartigen Aufwand und entsprechend viel Programm hektisch, laut oder gedrängt zur Sache geht, aber weit gefehlt. Das heterogene, wenn auch typischerweise deutlich männerlastige Publikum deckt nicht nur praktisch alle Regionen der Welt, sondern auch alle Altersklassen ab. Vom grauhaarigen Altvorderen – wie mir – über die Berliner Influencerin und den Cosplayer aus den USA bis zum Jungzocker aus Linz vereint alle die Begeisterung für das Spiel. Dessen Stärke ist nämlich die Vielfalt der möglichen wählbaren Charaktere und Spielstile. Wie mich Game Director Matt Firor höchstselbst in einer Unterhaltung wissen ließ: „Wir haben Spieler*innen, die jedes Jahr im Juni das neue Kapitel installieren und zwei Wochen lang spielen und ein weiteres Jahr lang nicht zurückkommen. Und dann spielen sie das neue Kapitel. OK! Das ist eine vollkommen akzeptable Art, ESO zu spielen. Wir haben Spieler*innen, die seit zehn Jahren spielen und keine neuen Kapitel haben. Sie spielen einfach das Basisspiel und PvP und Housing. Wissen Sie, ich habe das schon hundert Mal gesagt: Wenn Sie fünf ESO-Spieler*innen bitten, ESO zu beschreiben, werden Sie fünf verschiedene Spiele hören, weil die Leute es einfach unterschiedlich erleben.“ Alles kann, nichts muss sowohl in der virtuellen Spielewelt als auch beim Live-Event der Community sein.

Das Publikum beim ESO Event in Amsterdam im April 2024
© Markus Höller/funk tank

Alles kann, nichts muss sowohl in der virtuellen Spielewelt als auch beim Live-Event der Community sein.

Grand Tour

Die äußerst sympathische und unterhaltsame Veranstaltung in Amsterdam war erst der Auftakt zu einer 15-monatigen Reihe. Diese Feierlichkeiten finden nicht nur in realweltlichen Veranstaltungen statt, sondern auch in der Online Welt von Tamriel. Es wird in-game Aktivitäten und Herausforderungen geben, die es den Spieler*innen ermöglichen, spezielle Jubiläumsbelohnungen zu verdienen. Diese Events sind so gestaltet, dass sie sowohl neue Spieler*innen als auch Veteran*innen ansprechen. Ein besonderes Highlight der Feierlichkeiten ist eine Sonderausgabe des traditionellen „ESO Tavern“ Events, das am 13. und 14. Juli 2024 in Deutschland stattfinden wird. Wer Amsterdam verpasst hat oder wem Schweden, USA, Japan oder Australien zu weit weg sind, hat die Möglichkeit, hier ähnlich aufregend in die Welt von ESO einzutauchen. Es lohnt sich!

„Gold Road“ ist die neueste Erweiterung zum populären Online-Rollenspiel „The Elder Scrolls Online“ (ESO) von Entwickler ZeniMax Online Studios. Publisher Bethesda Softworks veröffentlicht diesen neuen Teil als Standalone-Version oder Add-On am 3. Juni 2024 für PC/Mac sowie später am 18. Juni 2024 für Xbox and PlayStation Konsolen.

10 Jahre „The Elder Scrolls Online“

Die Zukunft und das Wohnen

Alles, was erfunden werden kann, wurde bereits erfunden.“
„Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt.“
Die beiden charmanten Zitate waren kürzlich Teil einer fesselnden Keynote Speech der Zukunftsforscherin Christiane Varga, der Bund Österreichischer Innenarchitektur (BÖIA) hatte sie eingeladen.
Von wem sie stammen? Der Herr, der meinte, alle Innovation gebe es bereits auf Erden, war Charles Duell, Chef des amerikanischen Patentamts. Die offensichtlich falsche Einschätzung traf er vor mehr als 120 Jahren. Thomas Watson, seines Zeichens IBM-Geschäftsführer, war der Schöpfer der heute geradezu absurd klingenden Prognose, fünf Computer würden reichen.
Wir schmunzeln. Doch die beiden Herren tappten in die Falle, in die war allesamt stolpern, wenn wir nicht bewusst unseren Horizont laufend erweitern. Christiane Varga führt weiter aus: „Wir neigen dazu, in der Gegenwart Dinge aus der Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Wenn wir zu linear denken, machen wir Fehlprognosen.“ Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir zwar einen Bereich im Kopf haben, in dem der Fokus auf Kreativität und Potenzialentfaltung liegt und wie eine Zukunftsmaschine fungiert, aber eben auch einen anderen, in dem das Hirn, sprich der Kopf, lieber Energie sparen und sich nicht mit Dingen auseinandersetzen möchte, die es noch nicht kennt. Der „Zukunftsvermeider“ verführt uns sozusagen zum Tunnelblick, „und das ist in Zeiten, in denen die Dinge so komplex sind, fatal“, sagt Christiane Varga.

Neugierig bleiben

Straußengleich den Kopf in den Sand zu stecken, vertreibt unsere Vorbehalte gegenüber der künstlichen Intelligenz (KI) logischerweise nicht. Die KI generell zu verteufeln, sie nehme uns unsere Jobs weg, wäre quasi linear gedacht. „Es stimmt, es werden schon jetzt bestimmte Tätigkeitsbereiche ersetzt. Ich glaube aber vielmehr: Menschen werden nicht durch die KI ersetzt, sondern durch Menschen, die sich damit auskennen.“
Die gute Nachricht ist: Um vorfreudig in die Zukunft zu blicken, braucht es etwas Urmenschliches – und zwar das sogenannte divergente Denken. „Es bedeutet, unser Gehirn vernetzt zu nutzen und abseits ausgetretener Pfade zu denken. Das divergente Denken ist kein Synonym für Kreativität, sondern die Voraussetzung dafür“, erklärt die Zukunftsforscherin. Das Erstaunliche dabei ist, dass vor allem Kindergartenkinder als divergente Genies gelten. Ein Experiment veranschaulicht das schön. Die Frage war: Wozu kann man eine Büroklammer benutzen? – Mehr als 100 Antworten galten dabei als herausragend. „Dies erreichen 98 Prozent der Kindergartenkinder, immerhin 32 Prozent bei den Zehnjährigen, nur mehr 12 Prozent bei den 15-Jährigen und ganze 2 Prozent bei den Erwachsenen“, zitiert sie aus „Breaking Point and Beyond. Mastering the Future Today“ von George Land und Beth Jarman.
„Unser Blick verengt sich also mit zunehmendem Alter. Wir können aber dagegen steuern, indem wir neugierig bleiben, neue Perspektiven wählen und bewusst den Austausch außerhalb unserer Bubbles forcieren“, zählt Christiane Varga auf.

Speakerin, Soziologin und Zukunftsforscherin Christiane Varga
Speakerin, Soziologin und Zukunftsforscherin Christiane Varga © Sophie Menegaldo

Die KI „übersetzt“ Bild aus dem Kopf

Vieles davon hat sich der dynamische Vorstand des Bundes Österreichischer Architektur (BÖIA) zum Ziel gesetzt. Der Verein blickt auf mehr als sechs Jahrzehnte Geschichte zurück. Seit dem Rebranding 2022 wird seine Mission – Netzwerken, Interessensvertretung und Weiterbildung – sukzessive mit neuem Leben erfüllt. „Future Interior: KI & Visionen in der Gestaltung“ war der erfolgreiche Auftakt einer neuen Eventreihe. Visionäre Vortragende waren dabei – neben Christiane Varga – Franz Riebenbauer, Gründer und Creative Director des gleichnamigen Studios, sowie die Architekten und Designer Georg Popp und Simon Hirtz, die unter anderem an der New Design University unterrichten.
Franz Riebenbauer, der sowohl an der „Angewandten“ in Wien als auch an der University of California in Los Angeles einen Lehrauftrag hat, nahm das Publikum auf einen rasanten Ritt durch die Welt jener Artificial Intelligence (AI)-Tools mit, die er und sein Team bereits in ihren Alltag integrieren. Dabei berichtete er unter anderem von einem schönen Aha-Erlebnis, als er kürzlich an einem Konzept für eine aufwändige Leuchteninstallation arbeitete. „Auf Basis unserer Beschreibung gab die KI genau das Bild wieder, das ich in meinem Kopf hatte.“
Das bedeute aber nicht automatisch eine Zeitersparnis, es käme vielmehr zu Verschiebungen im Arbeitsprozess, führte er aus. Der Gedanke wurde beim Event vielfach aufgegriffen. In einem Punkt schienen sich die meisten einig: Der Einsatz entsprechender KI-Tools schafft für Innenarchitekt*innen neue Möglichkeiten, um noch präziser auf die Wünsche der Kund*innen einzugehen. Menschliche Qualitäten wie Beziehungsfähigkeit und Empathie sind hierbei also ebenso gefragt, wie bei der Realisierung von Projekten, bei der Budget, Umsetzungsmöglichkeiten und ausführende Unternehmen auf einen Nenner gebracht werden sollen.

Unser Blick verengt sich also mit zunehmendem Alter. Wir können aber dagegen steuern, indem wir neugierig bleiben, neue Perspektiven wählen und bewusst den Austausch außerhalb unserer Bubbles forcieren.

Homecoming

Was wollen wir eigentlich umgesetzt haben bzw. wie wollen wir heute und morgen leben? „Ob Wohnhaus oder Firma, die Tendenz geht zu langfristigen Nutzungskonzepten“, sagt BÖIA-Geschäftsführerin Martina Fürnkranz. Räume können dementsprechend weitsichtig multifunktional geplant werden, „damit zum Beispiel der Kinderbereich in einem Haus später in eine Einliegerwohnung umgewandelt werden kann, um sie zu vermieten und die Pension aufzubessern.“ Was einst als „öko“ belächelt wurde, ist heute zeitgemäß. Gesundes und nachhaltiges Wohnen beinhaltet etwa Möbel aus geöltem Massivholz statt kurzlebigen Plastikteilen. Gefragt sind Modelle mit modernem und zeitlosem Design, die in Österreich oder in der EU produziert wurden. Parallel dazu wächst das Bewusstsein für individuelle Schätze. „Omas Erbstück oder ein aus dem Urlaub mitgebrachtes Teil sollen ebenso schön zur Einrichtung passen“, beschreibt Martina Fürnkranz. Der Trend zu Reduktion hält auch beim Wohnen Einzug. Das betrifft sowohl die Fläche, auf der man lebt – „zwei Personen, die auf 200 Quadratmeter wohnen, wird es in Zukunft immer seltener geben“ – als auch die Möbel, die man sich anschafft. „Gute Teile sind multifunktional, wie zum Beispiel ein ausziehbarer Schreibtisch fürs Homeoffice oder ein Beistelltisch, der zum Hocker wird, wenn Gäste kommen“, sagt Martina Fürnkranz.
Nachdem das Wohnen sukzessive teurer wurde, liegt es für sie auf der Hand, dass sich die Menschen auch langfristige Lösungen für die Einrichtung wünschen. Ganz oben stehen dabei weiterhin gut durchdachte Konzepte für Bad und Küche – die zumeist größten Investitionen. Ein Upgrade erlebt aktuell der Stellenwert des Eingangsbereichs. „Man kommt nach Hause und will Post, Jacke, Handy und Schlüssel ablegen. Wohin mit all dem, ohne das sofort ein Chaos entsteht?“, fragt Martina Fürnkranz. „Wenn es für all das einen eigenen Platz gibt, hat der Vorraum eine ganz andere Wirkung, und es ist ein viel schöneres Heimkommen.“

Der Vorstand vom BÖIA – Bund Österreichischer Innenarchitektur
Der Vorstand vom BÖIA – Bund Österreichischer Innenarchitektur © Sophie Menegaldo

Der BÖIA – Bund Österreichischer Innenarchitektur ist ein österreichweiter Interessensverband von Innenarchitektinnen und Innenarchitekten sowie im Bereich Innenarchitektur, Raum- und Objektgestaltung Tätigen. 

Bund Österreichischer Innenarchitektur