Christoph Baumgartner: Tor zu einer besseren Welt

Gut, wir könnten erzählen, dass Christoph Baumgartner 2023 innerhalb der Deutschen Bundesliga um 25,5 Millionen Euro von der TSG Hoffenheim zu RB Leipzig gewechselt und damit bis heute Österreichs Rekordtransfer ist. Oder dass er 2024 gegen die Slowakei weltweit das schnellste Tor der Länderspielgeschichte erzielt hat. Oder dass der hoch veranlagte Niederösterreicher seit seinem 15. Lebensjahr alle österreichischen Nachwuchsauswahlmannschaften durchlaufen hat und im Kalenderjahr 2024 mit sieben Treffern (und sieben Assists) der torgefährlichste Spieler im ÖFB-Team war. Doch all das bewundern wir jetzt nur am Rande. Denn diese Geschichte dreht sich um einen jungen Mann, der sich seines privilegierten Lebens nur allzu bewusst ist. Und deshalb handelt, ohne darüber zu reden – normalerweise …

Chancen für junge Mütter

Vor zwei Jahren gründete „Baumi“, wie ihn Fans und Freund*innen nennen, in Kakule im Osten Ugandas eine Schule für junge Frauen; den Anfang machten Friseurinnen- und Schneiderinnenkurse für 77 Teilnehmerinnen. Die Region, in der rund 35.000 Menschen leben, ist einerseits stark vom Klimawandel betroffen, der an sich fruchtbare Boden leidet massiv unter der anhaltenden Trockenheit. Dazu kommt, dass die Getreidepreise infolge des Konflikts in der Ukraine immens gestiegen sind: „Gerade junge Frauen“, sagt Christoph Baumgartner, „haben oft riesige Schwierigkeiten, sich und ihre Kinder zu ernähren.“

Die ostafrikanische Republik Uganda hat 1962 ihre Unabhängigkeit vom United Kingdom erklärt. In den 1970er-Jahren erlebte der Binnenstaat unter Diktator Idi Amin eine blutige Gewaltherrschaft, der mindestens 300.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Zu den größten Problemen der Gegenwart in dem Land mit seinen 48 Millionen Einwohner*innen, sagt Christoph Baumgartner, „gehört die Tatsache, dass es kaum Verhütungsmittel gibt und Frauen dadurch oft sehr früh schwanger werden, sich aber nicht auf finanzielle Unterstützung durch die Väter verlassen können. Die Folge ist, dass sie – sofern sie überhaupt zur Schule gehen konnten – die Ausbildung abbrechen müssen, um sich um die Kinder zu kümmern.“

Und daraus folgte bald der logische nächste Schritt der „Baumi Junior School“: „Unser Ziel ist es, Frauen eine Chance zu geben und ihnen die Möglichkeit zu einer Ausbildung zu bieten. Wir haben aber rasch erkannt, dass sie Unterstützung bei ihren Kindern brauchen. Also haben wir uns entschieden, qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer einzustellen und die Kinder selbst zu unterrichten.“ Und der Bedarf ist riesig, sagt Christoph Baumgartner: „Mittlerweile betreuen wir bereits 250 Kinder zwischen drei und acht Jahren. Sie stammen alle aus extrem armen Familien und bekommen bei uns nicht nur eine Chance auf Schulbildung, sondern oftmals auch die einzige richtige Mahlzeit des Tages.“

Ein unfassbar privilegiertes Leben

Doch warum engagiert sich Christoph Baumgartner ausgerechnet in Uganda, einem der ärmsten Länder der Welt? „Ich habe mich schon längere Zeit mit meiner Frau darüber unterhalten, dass ich mich irgendwo einbringen und helfen möchte. Als Fußballprofi führe ich ein unfassbar privilegiertes Leben und verdiene viel Geld. Aber wenn man ein bisschen über den Tellerrand hinausschaut, erkennt man, dass es nicht überall auf der Welt so schön ist und auch, dass es nicht allen Menschen so gut geht wie bei uns.“

Ein Freund habe ihn auf die Situation in Uganda aufmerksam gemacht: „Er war dort und hat mit einigen Leuten vor Ort gesprochen. Er hat mir im Detail erklärt, was benötigt wird und wie man so ein Hilfsprojekt praktisch umsetzen könnte. Ich war von Anfang an Feuer und Flamme und musste nicht lange nachdenken. ‚Okay‘, habe ich gesagt, ‚legen wir los!‘.“

Natürlich, in erster Linie besteht sein Engagement aus finanzkräftiger Unterstützung, sagt Christoph Baumgartner: „So ehrlich muss man sein. Aber ich habe von Anfang an gesagt: Ich schicke nicht einfach nur Geld hinunter. Ich bekomme regelmäßige Reports, ich möchte sehen, was mit dem Geld geschieht. Und ich bin in alle grundlegenden Entscheidungen eingebunden. Wir besprechen immer wieder, welche Schritte als nächstes gesetzt werden sollen. Und wenn diese Ideen umgesetzt werden und wir die positiven Effekte auf die Menschen sehen, macht das echt viel Freude.“

Fußballprofi Christoph Baumgartner
© ÖFB/Kelemen

Der Star im Hintergrund

Christoph Baumgartner spricht selten über sein Engagement, selbst auf seinem Instagram-Account teilt er nur sehr sporadisch Neuigkeiten aus Uganda: „Tatsächlich wollte ich das Projekt anfangs komplett für mich behalten. Und zwar aus einem einfachen Grund: Es geht Nullkommanull darum, mich irgendwie als super Typen hinzustellen. Es geht ausschließlich darum, anderen Menschen zu helfen.“

Dass er mittlerweile – selten, aber doch – ausgewählte Interviews wie jenes hier mit funk tank gibt, liegt an einem vorsichtigen Umdenken: „Ich weiß, dass ich als Fußballprofi eine gewisse Reichweite und vielleicht sogar eine gewisse Strahlkraft habe. Und die möchte ich nutzen, um Menschen in Österreich und Deutschland darauf aufmerksam zu machen, was anderswo geschieht und wie viel Glück wir eigentlich haben.“

Dabei verliert der 48-fache Teamspieler (Stand November 2024) aber die gesellschaftliche Realität in seiner Heimat keineswegs aus den Augen: „Mir ist bewusst, dass wir in Österreich und Deutschland momentan auch keine leichte Phase durchmachen. Aber ich glaube trotzdem, dass es uns hier in Mitteleuropa vergleichsweise sehr gut geht.“

Nächstenliebe ist nicht nur ein Wort

Christoph Baumgartner wurde 1999 in der Waldviertler Bezirkshauptstadt Horn geboren, sein Vater Alfons war selbst als Fußballer in Österreichs dritthöchster Spielklasse beim SV Horn aktiv (Bruder Dominik, 28, kickt heute beim Bundesliga-Verein WAC). Aufgewachsen ist er in St. Leonhard am Hornerwald, einer Marktgemeinde mit etwas mehr als 1.100 Einwohner*innen. „Dort kennt jede*r jede*n“, sagt Christoph Baumgartner. „Mich kennen alle, seit ich ein kleiner Knirps war. Ich habe jeden Sonntag in der Kirche ministriert. Ich bin zu Fuß in die Volksschule spaziert und habe am Weg kurz beim Bäcker reingeschaut und mir ein Weckerl geholt. Ich glaube, mein Leben war ganz normal und sehr entspannt.“

Der offensive Mittelfeldspieler gilt als ehrgeizig und zielstrebig: Im Sportgymnasium St. Pölten hatte er die 7. Klasse übersprungen, nach der Matura wechselte er aus der St. Pöltener Fußballakademie nach Deutschland und machte auch im Nachwuchs der TSG Hoffenheim auf sich aufmerksam. Was ihn als Kind besonders geprägt hat, war der Zusammenhalt im Dorf. „Wenn zum Beispiel irgendwer ein Haus gebaut hat, haben immer alle mitgeholfen, die Nachbar*innen, Freund*innen, Verwandte – einfach alle sind nach ihrer Arbeit noch für zwei, drei Stunden auf die Baustelle gekommen. Ich habe also früh gesehen, wie wichtig die Gemeinschaft und die Familie ist. Und daran halte ich auch in der großen, turbulenten Fußballwelt fest.“

Christoph Baumgartner ist ein gläubiger Mensch; bevor er das Spielfeld betritt, bekreuzigt er sich, nach erzielten Toren schickt er einen Gruß in Richtung Himmel. „Ich will mich mit meinem Engagement keinesfalls als heiliger Samariter hinstellen. Ich glaube aber auch, dass Nächstenliebe nicht nur ein Wort ist, sondern ein motivierender Faktor in meinem Leben. Sich gegenseitig zu unterstützen, ist unglaublich viel wert.“

© Christoph Baumgartner Training School

Als Fußballprofi führe ich ein unfassbar privilegiertes Leben und verdiene viel Geld. Aber wenn man ein bisschen über den Tellerrand hinausschaut, erkennt man, dass es nicht überall auf der Welt so schön ist und auch, dass es nicht allen Menschen so gut geht wie bei uns.

Engagierte Zukunftsvision

Er selbst, sagt Christoph Baumgartner, hat es bisher leider noch nicht geschafft, die „Baumi Junior School“ in Uganda zu besuchen. Denn so privilegiert das Leben eines Fußballprofis sein mag: Zeit ist letztendlich Mangelware. „Dazu kommt, dass die Anreise nach Kakule recht beschwerlich ist. Der internationale Flughafen Entebbe ist mehrere Autostunden entfernt – allerdings nicht über die Autobahn, sondern über Stock und Stein. Aber es ist definitiv mein Ziel, mit meiner Frau und meiner Familie hinzureisen und die Fortschritte mit eigenen Augen zu sehen.“

Und derer gibt es immer wieder neue zu feiern. Etwa die zwölf Brunnen, die im Frühjahr 2024 repariert werden konnten und den Menschen ständigen Zugang zu sauberem Trinkwasser ermöglichen. Die nächsten großen Schritte bestehen in einer Verbesserung der Infrastruktur der „Baumi Junior School“: „Aktuell haben wir uns in einem Gebäude eingemietet, das natürlich nichts von jenen Standards aufweist, die wir von Schulen in Österreich gewöhnt sind. Kurzfristig besteht das Ziel darin, die Sanitäranlagen auf Vordermann zu bringen.“

Das große, längerfristige Ziel ist tatsächlich ein eigenes Schulgebäude, sagt Christoph Baumgartner: „Wir stehen aktuell in Verhandlungen. Ein Grundstück würde man uns zur Verfügung stellen, schließlich sind auch die Verantwortlichen vor Ort sehr glücklich darüber, dass es jemanden gibt, der ihnen helfen möchte.“ Doch mit der Infrastruktur allein ist es nicht getan, sagt Christoph Baumgartner: „Wir bekommen immer mehr Anfragen von Müttern und Kindern. Also müssen wir die Kapazität an Lehrerinnen und Lehrern erhöhen. Es bringt ja nichts, wenn die Klassen komplett überfüllt sind und einzelne Kinder deshalb auf der Strecke bleiben.“

Die Fussballer Amadou Haidara und Christoph Baumgartner vom RB Leipzig beim Training
Amadou Haidara und Christoph Baumgartner vom RB Leipzig beim Training © RB Leipzig/Motivio

Charakterstarke Typen

Das Feedback, das Christoph Baumgartner bisher auf sein Engagement bekommen hat, sei durchwegs positiv. Nicht zuletzt von Mitspielern, die selbst unter unterschiedlichsten Umständen in verschiedenen Teilen Afrikas aufgewachsen sind – etwa von Amadou Haidara, einem aus Mali stammenden Teamkollegen bei RB Leipzig: „Er ist auf mich zugekommen und hat gesagt: ‚Baumi, was du machst, ist überragend. Es geht dich eigentlich nichts an und trotzdem unterstützt du die Menschen in Afrika!‘ Das sind Momente, in denen ich merke: Ja, es ist einfach richtig, was ich tue.“

Und tatsächlich glaubt Christoph Baumgartner, dass ihn seine Art zu helfen sogar zum besseren Fußballer macht: „Wir haben im österreichischen Nationalteam viele Jungs, die privat verschiedene Hilfsorganisationen unterstützen. Und das zeichnet uns auf dem Platz aus: dass jeder für den anderen da ist. Das macht uns menschlich reifer und lässt uns als Mannschaft wachsen.“

Christoph Baumgartner, geboren 1999 in Horn, ist Fußballprofi in Diensten des deutschen Topklubs RB Leipzig, sein Marktwert liegt (Stand Dezember 2024) bei 18 Millionen Euro. 2020 gab der offensive Mittelfeldspieler sein Debüt für das österreichische Nationalteam; im März 2024 stellte der Niederösterreicher einen Weltrekord auf: Im Testspiel gegen die Slowakei erzielte er 6,3 Sekunden nach Spielbeginn das 1:0, das schnellste Länderspieltor aller Zeiten.

Christoph Baumgartner – Instagram

Nachhaltig Schenken: Grüner als der Weihnachtsbaum

Wir könnten darüber jammern, wie komplex selbst das Schenken wurde, wenn man darum bemüht ist, nachhaltig jemandem eine Freude zu machen. Oder aber wir sagen: Schön, dass wir die Entscheidungsfreiheit haben, nachhaltig schenken zu können. Wir wissen aber auch: Nicht alles, was grün scheint, ist es auch – Stichwort „Greenwashing“.
In den vergangenen Jahren fand viel Umdenken statt, Re- und Upcycling wurden aus der Nische geholt und wer Secondhand kauft, liegt im Trend. Organisationen wie Humana oder Caritas – erst kürzlich eröffnete ein carla-Shop am Wiener Stephansplatz – sind sozusagen Routiniers auf diesem Gebiet, Freitag kreiert seit 30 Jahren Taschen und Co. aus alten Lkw-Planen.
In dieser Story möchten wir ein paar jüngere und auch kleinere Unternehmen und Initiativen vorstellen, die alten Produkten ein neues Leben einhauchen bzw. Materialien verarbeiten, die andernfalls womöglich im Müll gelandet wären.
Einiges davon ist Handarbeit, nicht alle haben einen eigenen Shop, den man physisch besuchen kann. Wird’s mit der Bestellung für Weihnachten zu knapp, sind Wertgutscheine, die per Post zugestellt werden, die Lösung. Denn auch das ist nachhaltig: Treffen die Beschenkten selbst die finale Entscheidung, verstaubt das Geschenk mit ziemlicher Sicherheit nicht im Regal.

Viele Newcomer bei refurbed

2017 von Peter Windischhofer, Kilian Kaminski und Jürgen Riedl in Wien gegründet, avancierte refurbed bis heute zu einem Unternehmen mit rund 300 Mitarbeiter*innen, das in bereits elf Ländern präsent ist. Wer schon einmal clever in ein refurbishtes, also professionell erneuertes Smartphone oder Laptop investiert hat, dem ist der Name vermutlich längst ein Begriff. Weniger bekannt ist hingegen, dass zu den mehr als 18.000 Produkten auch Haushaltsgeräte zählen. Als strahlende Newcomer gelten etwa der Thermomix von Vorwerk oder Dyson-Geräte, und zwar vom Akkustaubsauger bis hin zu Haarpflegeprodukten, die vom Hersteller selbst refurbisht werden. Die refurbed-Pros kurz gefasst: Man kauft rundum erneuerte Ware um bis zu 40 Prozent günstiger und erhält dafür mindestens zwölf Monate Garantie.

Moodbild refurbed
© refurbed

Wie wär’s mit einer Tasche aus Omas Pelz?

Das Modesegment, in dem sich Giorgia Adam-Richter und Patrick Adam heimisch fühlen, ist ganz schön sensibel. Es geht um Pelz, um echten Pelz. Doch bevor hier jemand seine Farbkübel holt, muss ein essenzielles „Aber“ vorausgeschickt werden: Das Ehepaar verarbeitet ausschließlich Pelz von bestehenden Modellen; sie schenken sozusagen Mamas und Omas alten Jacken und Mänteln ein neues Leben.
Das Paar machte sich 2016 mit Refurried selbstständig; ihr Shop und ihre Werkstatt befinden sich in Tulln an der Donau. Das Upcyceln von Pelzen funktioniert bei ihnen so: Kund*innen kommen mit ihren Erbstücken oder suchen sich aus dem Lagerbestand der beiden ein Teil aus, das umgearbeitet werden soll. Ist der mitgebrachte Pelz „in Ordnung“, kann daraus ein stylisches neues Stück entstehen, aber auch etwa ein Rucksack, eine Haube oder ein wärmendes Futter für einen Parka, denn Giorgia Adam-Richter studierte Modedesign in München. „Pelz ist ein sehr gutes Material: Es wärmt und ist atmungsaktiv, Löcher können repariert werden und er hat eine Lebenszeit von Jahrzehnten“, erklärt das Paar. Neuen Pelz verwenden sie nicht, aber alten wegzuwerfen, halten die beiden für respektlos.

Giorgia Adam-Richter und Patrick Adam von Refurried
Giorgia Adam-Richter und Patrick Adam von Refurried © Viktória Kery-Erdélyi

Kompromisslos: Unterwäsche von Ebenbild

Seit Jahren designen und nähen Jennifer und Sophie gemeinsam Unterwäsche. Mit einem kleinen Dachgeschoßatelier oberhalb einer Spenglerei legten sie los, mittlerweile betreiben die Freundinnen und Geschäftspartnerinnen einen zauberhaften Laden im siebten Wiener Gemeindebezirk. Einer ihrer Glaubenssätze: „Wir wissen, dass wir die perfekte Passform brauchen, um uns einen Platz in deinem Kleiderschrank zu verdienen.“
Ihre Idee entstand aus ihrer kritischen Auseinandersetzung damit, wie Körper bis heute gesehen oder dargestellt werden. Niemand sollte für Schönheit leiden müssen, finden sie, und ebenso, dass jeder Körper genauso schön ist, wie er ist: dünn und dick, mit kleinen und großen Brüsten, mit straffer Haut oder Cellulite.
Ihre Modelle schneidern sie mit hohem Anspruch an Ästhetik und Komfort und auch unserem Planeten möchten sie Leid ersparen: Die Ebenbild-Teile werden in Wien handgemacht und zwar aus nachhaltigen Materialien; dazu zählen etwa Spitze aus recyceltem Garn oder Jersey aus österreichischer Tencel-Faser. Schnelllebige Kollektionen kommen für Jennifer und Sophie nicht in Frage, manchmal macht der Stoff, den sie bekommen, die Musik. Ein Beispiel ist die Leo-Unterwäsche von ihnen: „Diese Teile haben wir aus Deadstock-Material genäht“, beschreibt Jennifer. Das bedeutet: Die beiden kaufen und verarbeiten auch Restbestände, mit denen große Unternehmen nichts anfangen könnten. Selbst das Thema Verpackung beackerten sie akribisch: Verschickt werden die Ebenbild-Teile in Graspapier und Papier aus Zuckerrohr.

Unterwäsche von Ebenbild
© Ebenbild

Wir wissen, dass wir die perfekte Passform brauchen, um uns einen Platz in deinem Kleiderschrank zu verdienen.

Robuste Unikate

Quasi mehrfach grün ist Mišo Čurčić de Jongs Label Beware of Mainstream: Seine Modelle haben die Farbe grün, weil sie aus Militärseesäcken hergestellt werden und sie eben aufgrund des robusten Materials nahezu unzerstörbar sind. Der in Perchtoldsdorf lebende zweifache Vater zäumte das Pferd sozusagen von hinten auf: Vor mehr als zehn Jahren entwickelte er mit dem Blink-Werbeagentur-Chef Michi Braun „Beware of Mainstream“ als Kampagnentitel für ein Unternehmen, das sich schließlich nicht drübertraute. Also ließ Mišo zunächst spaßhalber Sticker drucken, die sich mithilfe von Social Media verbreiteten, und lernte so die deutsche Kostümdesignerin Ulrike Janich kennen, die mit altem Militärstoff arbeitete. Als er sich von ihr einen Parka nach seinen Ideen schneidern ließ, legte er damit den Grundstein zu seinem heutigen Label „Beware of Mainstream“. Heute umfasst seine Kollektion Jacken, Röcke, Taschen und Hüte. Auch wagt sich Mišo immer wieder über neue Wege; so entstanden im vergangenen Sommer etwa Röcke und Kleider aus alten Hemden. Schnellentschlossene Schenker*innen könnten Glück haben: Zwar wird für gewöhnlich jedes Teil auf Anfrage handgeschneidert, die aktuelle Kollektion aus Militärseesäcken ist aber derzeit tatsächlich in einer kleinen Stückzahl vorrätig.

Forever blue

Mehr als 100 Jahre hat die Indigofärberei Koó im burgenländischen Steinberg bereits auf dem Buckel; Joseph Koó führt sie in dritter Generation gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Miriam Schwack. Der sogenannte Handblaudruck, den das Paar praktiziert, wurde kürzlich sogar in die internationale UNESCO-Liste für Immaterielles Weltkulturerbe aufgenommen. Eine Vielzahl an außergewöhnlichen Kooperationen bereichern die Erfolgsgeschichte und den idyllischen Shop neben der Werkstatt: mit Designerinnen wie Susanne Bisovsky und Lena Hoschek, der Hutmanufaktur Mühlbauer und mehreren Modeschulen. Parallel dazu blieben die Koós aber auch ihren Klassikern treu: Zum Sortiment gehören heute stets Schürzen, Dirndl, Tischtücher, Einkaufstaschen und Hemden. Wie langlebig ihre Produkte sind, erfahren die Koós beispielsweise auch dann, wenn nach vielen Jahren etwa das eine oder andere Hemd „zur Reparatur“ kommt. „Die Farbe und unsere Stoffe halten, da tauschen wir gerne den Kragen oder die Manschetten aus“, erklärt Joseph Koó.

Neue Chancen für Menschen und Produkte

Möbel, Taschen, Schmuck und mehr entstehen in den Werkstätten von gabarage, einer bemerkenswerten Initiative, die sich aufs Upcyceln spezialisiert hat, und Menschen beschäftigt, die es am Arbeitsmarkt schwerer haben: Menschen mit chronischen (Sucht)Erkrankungen, mit psychischen Erkrankungen, mit Migrationshintergrund und junge Menschen, die aufgrund ihrer herausfordernden Vergangenheit eine neue Perspektive brauchen.
Spektakulär ist die Vielfalt, die gabarage sowohl online als auch in den Stores in Wien, Neusiedl am See und St. Pölten anbietet: Man findet blitzblau-gelbe Sitzmöbel aus fehlerhaften Mülltonnen, eine Lampe aus ehemaligen Verkehrslichtern, ein Collier aus Zifferblättern alter Armbanduhren oder zeitlose Deko, die sich auch aktuell gut auf dem Weihnachtsbaum macht.

Moodbild gabarage
Deko von gabarage © A. Schroedl

Feurige Idee

Als der Begriff Upcyceln noch kaum bekannt war, nämlich bereits 2005, gründeten die Brüder Robert und Marin Klüsener in Köln ihr Label Feuerwear: Gebrauchte Feuerwehrschläuche werden zu Taschen, Rucksäcken und Accessoires verarbeitet. Der Online-Versand aus Deutschland könnte vor Weihnachten zeitlich knapp werden, über die Händlersuche auf der Website findet ihr aber auch einige Shops in Österreich, die „Feuerwear“ direkt zum Verkauf anbieten.

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© Feuerwear

Nachhaltige Geschenke finden sich u. a. bei den Unternehmen und Initiativen Humana, Caritas, carla, Freitag, refurbed, Refurried, Ebenbild, Beware of Mainstream, Koó, gabarage und Feuerwear.

Green Hushing in der Modewelt

Nachhaltigkeit ist ein Thema, das uns seit Jahren begleitet, und mal ehrlich: oft kann man es nicht mehr hören. Alle sind plötzlich „grün“, jedes Unternehmen scheint zu tun, was es kann. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber oft heraus, dass wir bei diesem Thema noch immer auf der Stelle treten. Nachhaltigkeitsziele sind zwar formuliert, aber oft bleibt unklar, was tatsächlich passiert. In diesem Zusammenhang taucht ein neuer Begriff auf: Green Hushing. Besonders im Rahmen der vergangenen Fashion Week in Kopenhagen fiel er oft. Green Hushing beschreibt das Phänomen, dass Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsbemühungen bewusst nicht mehr öffentlich machen. Auch oder sogar besonders dann, wenn man tatsächlich viel dafür tut. Auf Nachfragen reagierte die Designriege der skandinavischen Modemetropole cool: Man sei hier bereits einen Schritt weiter und habe Nachhaltigkeit sowieso bereits in die Marken-DNA integriert. Und sieht man die Pionierarbeit, die die Kopenhagener Fashion Week in Sachen umweltschonender Maßnahmen leistet, glaubt man ihnen das auch. Aber wie sieht es in unseren Breitengraden aus? Ist es wirklich an der Zeit, nicht mehr darüber zu reden und stattdessen nur noch zu handeln? Oder hilft das Unternehmen nicht nur, ihre dürftigen Bemühungen ganz verebben zu lassen?

Das Role Model Skandinavien

Wenn wir über Vorbilder in Sachen Nachhaltigkeit nachdenken, blicken wir oft nach Skandinavien. Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark sind uns in vielen Aspekten weit voraus. Einer der Hauptgründe dafür: In skandinavischen Ländern wird langfristiger gedacht. Politische Entscheidungen werden nicht in Wahlzyklen getroffen, sondern auf Generationen ausgerichtet. Erfolge werden genauso offen kommuniziert wie Rückschläge, und genau diese Offenheit trägt dazu bei, dass Menschen bereit sind, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. Der Schlüssel liegt in der Mischung aus klarer Kommunikation, langfristigen Zielen und der Integration von Nachhaltigkeit in die Bildung – von der Schule bis zum Erwachsenenalter. So wird das Thema nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis gelebt. Das Phänomen Green Hushing wurzelt aber nicht nur in dieser berechtigten Selbstsicherheit. Wie überall rund um den Globus herrscht auch hier noch Verunsicherung.

„Green Hushing ist nicht nur in der Modebranche ein Thema, sondern in Skandinavien in allen Branchen“, sagt Charlotte Frydenlund Michelsen. Sie ist Co-Founder und Consultant bei True Nordic Impact und steht Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Umweltziele beratend zur Seite. „Viele der größeren Modemarken wie Samsøe Samsøe, Ganni, Acne Studios und Filippa K kommunizieren über ihre Nachhaltigkeitsbemühungen recht klein auf ihren Websites oder durch die Veröffentlichung von jährlichen Umweltberichten“, erzählt die Expertin. Bei den kleineren oder neueren Marken ist man jedoch etwas zurückhaltender. Einige von ihnen heben nur bestimmte Bereiche ihrer Bemühungen hervor, z. B. die von ihnen verwendeten Materialien, während andere es vorziehen, sich völlig zurückzuhalten. „Ich glaube, einer der Gründe für das Schweigen ist auch die Angst, dass man ihnen vorwirft, nicht genug zu tun oder Greenwashing zu betreiben, was ihrem Ruf schaden kann. In Dänemark zum Beispiel gab es in letzter Zeit immer mehr Fälle, in denen Marken und Online-Plattformen wegen irreführender Nachhaltigkeitsaussagen angeprangert wurden.“ Anfang dieses Jahres kündigte die unabhängige dänische Behörde Forbrugerombudsmanden auch noch an, dass sie ihre Bemühungen zur Untersuchung von Greenwashing in der Textilindustrie verstärken wird. Das lässt Marken besonders vorsichtig werden.

Portraitfoto Charlotte Frydenlund Michelsen
Charlotte Frydenlund Michelsen © Charlotte Frydenlund Michelsen

Während es zweifellos Zeit ist, große Schritte in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft zu machen, bleibt das Reden darüber genauso wichtig wie das Handeln selbst.

Ein Kampf durch den Zertifikat-Dschungel

Vor allem durch die neuen EU-Verordnungen reicht es nicht mehr aus, nur von Nachhaltigkeit zu sprechen. Die Unternehmen müssen nun konkrete Maßnahmen vorweisen, die nicht nur ihre eigenen Betriebsabläufe berücksichtigen, sondern z. B. auch die Auswirkungen auf ihre Lieferkette und die Gemeinden, in denen ihre Produkte oder Dienstleistungen verwendet werden. „Außerdem müssen sie jetzt konkrete Nachhaltigkeitsansprüche kommunizieren, anstatt allgemeine Begriffe zu verwenden, und ihre Fortschritte ausreichend dokumentieren“, so Charlotte. Die vielen neuen und teils komplizierten EU-Vorschriften sind aber auch eine Herausforderung, sogar für bereits „grüne“ Labels, wie die Expertin noch anfügt: „Wir sehen viele Marken, die unbedingt vorankommen wollen, aber angesichts der sich noch entwickelnden Vorschriften ist es für sie schwierig, genau zu wissen, welche Anforderungen gestellt werden und worauf sie ihren Schwerpunkt legen sollten.“

Außerdem kann es überwältigend sein, sich in der Vielzahl der verfügbaren Zertifizierungen und freiwilligen Verpflichtungen zurechtzufinden, wie z. B. das Nordic Swan Ecolabel, das EU Ecolabel, GOTS, GRS, Fairtrade, B Corp, Higg Index und die Science Based Targets Initiative, um nur einige zu nennen. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Märkte und großen Modehändler jeweils ihre eigenen Zertifizierungsanforderungen haben. „In der Modebranche besteht meiner Meinung nach eines der Hauptprobleme darin, dass es noch keinen universellen Standard für die Messung oder Kommunikation von Nachhaltigkeit gibt. Dies führt dazu, dass die Verbraucher*innen versuchen, selbst zu entscheiden, ob ein Produkt wirklich nachhaltig ist, und sich oft nur auf einzelne Faktoren wie den Anteil an recyceltem Material konzentrieren“, so Michelsen. „Da spielen aber noch viele andere ökologische und soziale Faktoren eine Rolle, und ohne klare Informationen von Seiten der Marken können die Verbraucher*innen nur schwer eine wirklich fundierte Entscheidung treffen“, sagt sie weiter. Gerade durch das Sprechen über Nachhaltigkeit – sei es in den Medien, im Alltag oder in der Politik – schaffen wir in diesem Wirrwarr ein Bewusstsein und bieten Möglichkeiten zur Weiterbildung. Denn letztlich kann nur derjenige handeln, der auch weiß, was zu tun ist. Und hier schließt sich der Kreis: Während es zweifellos Zeit ist, große Schritte in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft zu machen, bleibt das Reden darüber genauso wichtig wie das Handeln selbst.

Man will, aber kann nicht

„Kürzlich stieß ich auf eine Verbraucherstudie von Opinion aus dem Jahr 2024, die sich auf skandinavische Verbraucher*innen konzentrierte. Und die ergab, dass 85 % der Menschen bereit sind, ihren Lebensstil zu ändern, um der Natur zu helfen. Dennoch sind sich viele unsicher, welche Produkte wirklich verantwortungsvoll sind. Ich denke, dass diese Verwirrung dazu führen kann, dass die Menschen bei dem bleiben, was sie gewohnt sind, anstatt das „Risiko“ einzugehen, umwelt- und klimaschonendere Optionen zu kaufen. Man könnte ja auf Greenwashing reinfallen und das ist ärgerlich“, sagt die Unternehmerin. Green Hushing ist also eigentlich ein Dilemma: Wenn Unternehmen oder Regierungen nicht mehr über ihre Maßnahmen sprechen, bleibt unklar, was wirklich passiert. Wenn niemand transparent über Fortschritte oder Hindernisse berichtet, können wir auch keine Lehren aus Fehlern ziehen und uns gemeinsam verbessern. Nachhaltigkeit ist ein komplexes Thema und oft mit Herausforderungen verbunden. Rückschläge gehören dazu, aber sie sollten nicht verschwiegen, sondern offen angesprochen werden. Diese Transparenz schafft Vertrauen und motiviert andere, ebenfalls aktiv zu werden. Wenn wir öffentlich über unsere Erfolge und Misserfolge sprechen, inspirieren wir andere dazu, selbst Teil der Lösung zu werden.

Moodbild Green Hushing Modewelt Copenhagen Fashion Week
© Bryndis Thorsteinsdottir

Charlotte Frydenlund Michelsen leitet das Unternehmen True Nordic Impact in Dänemark. Die allgemeine Verwirrung, wenn es um tatsächlich nachhaltige Maßnahmen geht, war der Grund, warum Michelsen das Unternehmen ins Leben rief. Gemeinsam mit ihrem Team wollen sie Unternehmen dabei helfen, ihre Umweltbemühungen zu priorisieren und einen sinnvollen Beitrag für die Zukunft zu leisten.

Eine Verbraucherstudie aus dem Jahr 2024 zeigt, dass 85 % der Menschen in Skandinavien bereit sind, ihren Lebensstil zu ändern, um der Natur zu helfen. Dennoch sind sich viele unsicher, welche Produkte wirklich verantwortungsvoll sind.

Green Hushing bezeichnet die Tendenz von Unternehmen und Labels, ihre Nachhaltigkeitsmaßnahmen und Umweltziele bewusst nicht öffentlich zu kommunizieren, selbst wenn sie tatsächlich umweltfreundliche Schritte unternehmen. Der Grund dafür ist häufig die Sorge vor Kritik, etwa weil die Maßnahmen als Greenwashing ausgelegt oder als unzureichend wahrgenommen werden könnten.

True Nordic Impact

Adaptive Clothing: Mehr als nur Kleidung

Inklusive Mode erleichtert den Alltag von Menschen mit Behinderungen. Sie weist Merkmale auf, die es einfacher machen, sich an- und auszuziehen. „Anpassungsfähige Kleidung ist so konzipiert, dass sie den Komfort- und Zugangsbedürfnissen eines breiten Spektrums von Behinderungen, chronischen Erkrankungen, altersbedingten Bedürfnissen und postoperativen Personen gerecht wird“, weiß Victoria Jenkins vom Modelabel Unhidden. Smarte Reiß- oder Klettverschluss-Systeme, gewiefte Details und praktische Lösungen, die Mainstream-Mode oft vernachlässigt, sorgen hier für besseren Tragekomfort. Laut WHO würde jede fünfte Person adaptive Mode benötigen, der Markt sieht aber anders aus.

Die stärkste Ausdrucksform

Das große Problem in der Modeindustrie: Die meisten Unternehmen ignorieren mit ihren Massenproduktionen und Standardgrößen die individuellen Bedürfnisse wie die Berücksichtigung von Prothesen, Rollstühlen und sensorischen Sensibilitäten. Adaptive Clothing fördert die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen und stellt Inklusion als eine Notwendigkeit dar. „Auch Menschen mit Behinderungen möchten sich ihren Vorstellungen entsprechend kleiden. Das ist aktuell leider nicht der Fall. Momentan sind wir noch viel zu oft gezwungen, auf Kleidung auszuweichen, die mit unseren Behinderungen vereinbar ist, unabhängig davon, ob sie uns gefallen oder nicht. Wir sind Teil der Gesellschaft und Mode war schon immer die stärkste Ausdrucksform des eigenen Stils“, erklärt Rebekka Pimperl, Unternehmensberaterin für Barrierefreiheit.

Laut der Expertin geht es nicht darum, etwas Bestehendes zu nehmen und es dann an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen anzupassen, sondern Kleidungsstücke zu kreieren, die jede*r nutzen kann. Dem entgegenwirken kann man unter anderem, indem Menschen mit Behinderungen mehr Sichtbarkeit erlangen. Das kann z. B. durch Werbekampagnen, die Einbindung von Models mit Behinderungen in Fashion Shows, Shootings und auf Social Media erreicht werden. Wichtig bei dieser Entwicklung ist, dass auch die Unternehmen dazulernen und für all die Veränderungen offen sind.

Ein Punkt, der dabei oft vergessen wird: das Shopping-Erlebnis selbst und die dazugehörige Barrierefreiheit. Die räumliche und strukturelle Ebene ist essenziell, da das Einkaufen in physischen Stores oft mit noch mehr Barrieren einhergeht wie mit mangelnder Zugänglichkeit, fehlender Ausstattung oder unzureichendem Platz in Umkleiden.

Vielfältige Realität

Um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, ist es wichtig, dass die Modeindustrie offen für Innovationen bleibt. Noch sind es wenige Brands, die integrative Mode designen, aber das Bewusstsein in der Branche steigt. Diese Kreativen öffnen bestehende Konzepte, um Fashion für alle zugänglich zu machen – von Alltagskleidung bis hin zu extravaganten Kreationen. „Es geht nicht darum, dass jede Marke adaptive Produkte auf den Markt bringen muss, aber jedes Unternehmen sollte sich engagieren, diverse Mitarbeiter*innen einstellen und mit Betroffenen zusammenarbeiten, um das wirklich vielfältige Spektrum der Gesellschaft besser zu repräsentieren. Das ist es, was immer noch fehlt. Die Schönheitsideale, die von dieser Industrie oft verbreitet werden, haben nichts mit der Realität zu tun, denn die ist vielfältiger“, so die britische Modedesignerin Victoria Jenkins. Auch für Jenkins ist entscheidend, dass die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Modebranche verbessert wird, um eine echte Veränderung herbeizuführen.

„Ich würde mir wünschen, dass Menschen mit Behinderungen endlich jene Sichtbarkeit bekommen, die sie verdienen – vor allem in der Modeindustrie. Denn auch im 21. Jahrhundert gibt es kaum repräsentative Models im Rollstuhl usw. und genau dort müsste angesetzt werden, wenn man behauptet, dass Inklusion und Diversität im eigenen Unternehmen großgeschrieben werden“, sagt die österreichische Expertin Rebekka Pimperl.

Rebekka Pimperl, Expertin für Inklusion und Barrierefreiheit
Rebekka Pimperl, Expertin für Inklusion und Barrierefreiheit © www.instagram.com/rebekkas_inklusions_blog/

Wir sind Teil der Gesellschaft und Mode war schon immer die stärkste Ausdrucksform des eigenen Stils.

Zugänglichkeit für den Mainstream

Spannend ist, dass vor allem High Street Labels federführend hinsichtlich Adaptive Fashion sind und diese sowohl besser zugänglich als auch preisgünstig anbieten. Das zeigt, dass das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in der Modebranche zunehmend wächst. Ein klarer Vorreiter in diesem Bereich ist der Onlinehändler Zalando, der bereits seit 2022 adaptive Modekollektionen präsentiert. „Wir sind darum bemüht, dass sich unsere Kund*innen inkludiert fühlen. Um das zu erreichen, zelebrieren und respektieren wir Diversität durch unsere Bilder, Sprache und Narrative. Daher ist es einer der Kernpunkte unserer Strategie, repräsentative Inhalte zu zeigen, die Menschen willkommen heißen, die in der Geschichte der Modebranche bisher zu wenig Beachtung gefunden haben“, verrät Hacinta Naidoo, Head of Diversity & Inclusion bei Zalando. „Um behinderte Menschen zu unterstützen, muss über mehrere Berührungspunkte hinweg gedacht werden“. Dazu gehört für den Onlineshop auch, dass er diverse Talente authentisch in seine Marketingkampagnen einbindet und einen speziellen Adaptive Fashion Hub im Zalando Fashion Store bereitstellt, der den Kund*innen hilft, die adaptiven Features zu entdecken. „Wir möchten weitere Brands dazu ermutigen, in den Bereich der adaptiven Mode zu investieren, denn wir wissen, dass sich beeinträchtigte Menschen eine größere Auswahl an verschiedenen Marken wünschen, genau wie jeder andere Mensch“, so Hacinta Naidoo.

Auch die Modekette Primark bietet ein großes Adaptive Wear Sortiment. „Wir sind stolz darauf, Spezialprodukte, die normalerweise teurer und nur online erhältlich sind, zu erschwinglichen Preisen im stationären Einzelhandel anbieten zu können“, sagt Charlie Magadah-Williams, Leiterin für Diversität und Inklusion bei Primark.

Klare Botschaft

Was jetzt schon klar ist: Adaptive Mode ist ein Zeichen der Wertschätzung für die Individualität jeder Person und anerkennt, dass Schönheit und Stil vielfältig sind. Diese Mode fördert die Akzeptanz und das Verständnis für Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft, indem sie die verschiedenen Facetten menschlicher Erfahrungen sichtbar macht. Adaptive Mode ist also ein entscheidender Punkt auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Zukunft. Sie stellt sicher, dass alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Einschränkungen, die gleichen Chancen auf Teilhabe, Selbstentfaltung und persönlichen Ausdruck haben. Mit dem zunehmenden Bewusstsein für diese Themen in der Modebranche gibt es einen Lichtblick: die Hoffnung auf eine Zukunft, in der Inklusion und Vielfalt nicht nur angestrebt, sondern aktiv gelebt werden. Durch diesen Wandel wird die Gesellschaft nicht nur gerechter, sondern öffnet Perspektiven, die den Horizont von allen Menschen erweitern.

Moodbild Adaptive Fashion von Primark
© Primark

Die Britin Victoria Jenkins verfügt über mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung in der Modebranche. Sie gründete 2016 ihre preisgekrönte adaptive Modemarke Unhidden als Teil ihrer Mission, universelles Design durch die Brille ihrer eigenen Reise mit Behinderung zu normalisieren. Unhidden brachte die erste Kollektion im Jahr 2020 auf den Markt und war auch die erste adaptive Marke, die Mitglied des British Fashion Council wurde und in dem Bereich auf der London Fashion Week präsentieren durfte.

Unhidden

Rebekka Pimperl ist Influencerin und Expertin für Barrierefreiheit in Österreich. Aufgrund ihrer Glasknochenkrankheit sitzt sie im Rollstuhl. Sie engagiert sich aktiv für Inklusion und kämpft dafür, dass Menschen mit Behinderungen sichtbarer in der Gesellschaft werden. Ihr Motto: „Nicht in Watte packen lassen, sondern Veränderungen selbst vorantreiben!“

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Von Upcycling bis Kleidung aus dem Labor: Mode heute und morgen

Viele Fakten über unseren Modekonsum stimmen ganz schön nachdenklich. Dass man jährlich mehr als 100 Milliarden Kleidungsstücke produziert, beispielsweise, und ein großer Teil davon ungetragen auf Mülldeponien landet oder die Natur verschmutzt. Oder auch die Tatsache, dass die meisten dieser Produkte innerhalb von nur fünf Jahren nach dem Kauf weggeworfen werden. Dennoch erwartet man, dass die weltweite Kleidungsnachfrage noch steigt. Neue, umweltfreundlichere Materialien herzustellen und an effektiven Recycling- und Abfallsystemen für Textilabfälle zu arbeiten, sind wichtige Schritte, packen das Problem allerdings nicht an der Wurzel. Der wahre Übeltäter ist immer noch die Überproduktion. Neue Kleidung aus bereits bestehenden Materialresten herzustellen, ist daher aktuell die effektivste Maßnahme, wenn man diesen Problemen entgegenwirken möchte. Upcycling spart Ressourcen, rettet Stoffe vor dem Müll – und ist glücklicherweise gerade voll im Trend. Labels wie E.L.V. Denim aus Großbritannien, Avenir aus Deutschland oder ReJean Denim aus Glasgow zählen zu den Vorreiter*innen dieser nachhaltigen Technik. Vielversprechenden Nachwuchs gibt es aber auch in Österreich.

Kleine Schritte, große Wirkung

„Wir wollen zeigen, dass man auch aus alten Textilien etwas Schönes machen kann, das qualitativ sogar besser ist als Fast Fashion“, erzählen Maryna und Olha, zwei Studentinnen, die seit drei Jahren das Wiener Modelabel Nearon führen. „Anfangs hatten wir die Materialbeschaffung stark unterschätzt. Man weiß zwar, dass es tonnenweise ausrangierte Textilien gibt, nur muss man erst einmal herausfinden, wie man an sie herankommt.“ Die beiden schrieben mehr als 50 Sortierungswerke an, nur drei antworteten. Das Problem: Bei solch vergleichsweise kleinen Mengen wittern Unternehmen kein Geschäft. „Die Sortierungswerke taten sich schwer, unser Konzept zu verstehen und dass es sogar gut für sie ist. Second-Hand- oder Vintage-Shops nehmen keine Ware an, die Flecken oder Löcher hat. Wir allerdings schon, denn diese fehlerhaften Teile schneiden wir einfach weg. Ein Konzept wie unseres ist noch zu neu für sie. Was wir kaufen, ist ja eigentlich Abfall, der sonst verbrannt wird“, erzählt Maryna.

Mittlerweile fanden die beiden passende Sortierungswerke rund um Österreich. „Wir bestellen meist eine halbe Tonne alter Jeans – für die ist diese Menge allerdings nichts.“ Aber Faktoren wie Transport, Waschen und Lagerung sind für ein kleines Label eben schwierig zu handhaben. Maryna und Olha sehen sich als Aktivistinnen und plädieren stets dafür, jeden Kauf gut zu überlegen: „In unserem Heimatland der Ukraine gibt es im Moment wirklich wichtigere Themen, über die man sich sorgen muss. Aber in wohlhabenden Ländern leben wir im Überfluss und man hat den Luxus, es sich aussuchen zu können, wo man seine Kleidung kauft. Da wäre es wichtig, Marken auszuwählen, die fair bezahlen oder auf bereits Bestehendes zurückgreifen. Es gibt in jeder Stadt unzählige Second-Hand-Shops und viele Online-Plattformen – Ausreden gelten also nicht.“ Und nachhaltigere Alternativen wird es in Zukunft wohl noch häufiger geben, verspricht zumindest die Wissenschaft.

Mode von Nearon
© Nearon

Eine Revolution im Hintergrund

Als Model Bella Hadid ein weißes Slipdress live auf dem Runway der Coperni-Show auf den Körper gesprüht wurde, liefen die Smartphones heiß. So etwas hatte Social Media noch nicht gesehen. Das war vor zwei Jahren. Für Sabine Seymour war diese Aktion damals schon ein alter Hut. „Solche aufsprühbaren Textilien, wie sie das Unternehmen Fabrican für Coperni zeigte, gibt es seit 20 Jahren“, erzählt die Wissenschaftlerin und Unternehmerin, die sich bereits in den 90ern auf das Thema Science Fashion spezialisierte. Tatsächlich wurde Fabrican schon 2003 gegründet und die Sprühtextilien vom Time Magazine als eine der „50 Best Inventions of 2010“ prämiert. Bis es zum viralen Social-Media-Moment kommt, sind viele dieser erstaunlichen neuen Materialien meist nur in Wissenschaftskreisen bekannt. „Dabei gibt es unzählige spannende Projekte in dem Bereich“, sagt Seymour, die sich mit ihren Unternehmen Moondial und Pony Earth unter anderem auf die Integration von Technologie und KI in Textilien spezialisiert. Die Zukunft der Mode hat für sie schon längst gestartet – nur eben im Hintergrund. „Es gibt bereits Färbetechniken mit Algen oder Bakterien. Im Myzelium, also den fadenförmigen Zellen eines Pilzes, steckt großes Potenzial. Oder neue Naturfasern aus agrarwirtschaftlichen Abfällen wie Reishülsen, Stroh oder Hanf“, schwärmt sie weiter. Seymour muss es wissen: Die Österreicherin wurde an der Parsons School of Design in New York zur ersten Professorin für Fashionable Technology ernannt, ein Begriff, den sie mit ihrem gleichnamigen Buch prägte, das 2008 erschien.

Growing Patterns Living Pigments by studio LIA
Growing Patterns Living Pigments by studio LIA © Florian Voggeneder

Es gibt bereits Färbetechniken mit Algen oder Bakterien. Im Myzelium, also den fadenförmigen Zellen eines Pilzes, steckt großes Potenzial. Oder neue Naturfasern aus agrarwirtschaftlichen Abfällen wie Reishülsen, Stroh oder Hanf.

Science what?

Science Fashion ist ein Bereich, der gerade Fahrt aufnimmt. Gründe dafür sind neben technologischem Fortschritt vor allem die Notwendigkeit von ressourcensparenden und umweltschonenden Textilien und Verarbeitungsweisen für die Zukunft. Science Fashion oder auch BioTech Fashion kombiniert dabei Designprinzipien mit wissenschaftlichen Disziplinen wie Technik, Ergonomie, Physiologie und Biologie. Man bewegt sich dabei in zwei Richtungen: Zum einen ist das tragbare Technologie, also Textilien, die elektronische Impulse senden und damit den Körper bemessen. Zum anderen Biomimikry oder Biomimetik, die sich die Natur zum Vorbild nimmt. Biologische Prozesse lassen sich nämlich digitalisieren, indem man die Codes der chemischen Zusammensetzung von DNA in die Einsen und Nullen der Computersprache umwandelt. Führend auf diesem, zugegeben sehr abstrakten Forschungsgebiet sind derzeit Frauen. Designerin Suzanne Lee beispielsweise entwickelte gemeinsam mit dem Zentrum für Synthetische Biologie am Imperial College London ein visionäres Forschungsprojekt zu Kleidung, die aus bakterieller Zellulose wächst. Unter Einsatz harmloser Bakterien werden Zellulose-Nanofasern gesponnen und gleichzeitig zu einem textilähnlichen Material geformt, das in einer Grünteelösung gezüchtet und in einer Passform getrocknet werden kann. Die Professorin und Pionierin im Bereich Science Fashion Carole Collet arbeitet wiederum seit Jahren daran, das Zellwachstum in Pflanzen so zu programmieren, dass sie bestimmte Funktionen für uns erfüllen. Geht es nach Collet, züchten wir im Jahr 2050 z. B. eine hybride Erdbeerpflanze, die gleichzeitig Erdbeeren und an den Wurzeln eine feine textile Spitze produziert.

Ich bin noch nicht überzeugt von teuren Materialien, die man im Labor wachsen lässt. Ich halte mehr davon, Neues aus etwas zu machen, das wir derzeit wegwerfen.

Wohin die Reise geht

Im Moment sind solche Quantensprünge noch Zukunftsmusik, erklärt Sabine Seymour: „Die Forschung macht derzeit wahnsinnig große Fortschritte, für die Industrie steckt das Thema dagegen noch in den Kinderschuhen. Denn im Moment ist die Produktion neuer Bio-Materialien nicht skalierbar und damit zu teuer.“ Dennoch erreichen vereinzelte Innovationen bereits große Modehäuser: Stella McCartney stellte z. B. einen Jumpsuit vor, der mit den von Elissa Brunato und ihrem Unternehmen Radiant Matter entwickelten, biologisch abbaubaren „BioSequins“-Pailletten bestickt wurde. Auch Julia Moser ist der Meinung: Textilien auf Kosten der Umwelt zu färben, war gestern, Muster nachhaltig wachsen zu lassen, ist die Zukunft. Die junge Österreicherin widmet ihre Forschung dem Färben mit lebenden Bakterien, u. a. mit dem Projekt Growing Patterns Living Pigments. Dieser Prozess könnte in Zukunft viele Ressourcen schonen sowie Umweltverschmutzung eindämmen. Julias Färbemethode benötigt nämlich kaum Wasser und keinerlei schädliche Chemikalien. Eine Eigenheit haben die Färbehelfer allerdings: Muster und Farben sind nicht vorhersehbar. „Alles Naturgegebene enthält Unregelmäßigkeiten. So wie kein Blatt eines Baumes je ident ist, verhalten sich auch die Bakterienstämme nie gleich“, erzählt Moser. „Besonders spannend ist, dass es nicht irrelevant zu sein scheint, welche Person die Tätigkeit ausführt. Bei Bakterien handelt es sich um lebendige Organismen, die ihren eigenen Willen haben und reagieren“, erzählt Julia Moser fasziniert.

Ein gemeinsames Mindset für die Zukunft

Für Expert*innen wie Sabine Seymour sind Errungenschaften wie diese in Zukunft nur sinnvoll, wenn man sie nicht genauso verschwenderisch einsetzt wie bestehende Verfahren: „Ich bin noch nicht überzeugt von teuren Materialien, die man im Labor wachsen lässt. Ich halte mehr davon, Neues aus etwas zu machen, das wir derzeit wegwerfen.“ Denn das nachhaltigste Material bringt nichts Gutes, wenn die Produktion dafür enorm viel Energie oder Wasser verbraucht. Wirklich realistisch wird es erst, wenn diese Materialien einen Price Point erreichen, der nicht im Luxussektor liegt. Science Fashion, so die Wissenschaftlerin, schafft ihren Impact erst im Großen. Und bis dahin heißt es: Zufrieden sein mit dem, was man bereits hat.

Jährlich werden mehr als 100 Milliarden Kleidungsstücke produziert, viele davon landen aufgrund der Überproduktion im Müll. Dennoch steigt die weltweite Nachfrage nach Textilien. Österreichische Modelabel wie Nearon oder Tech-Fachfrau Sabine Seymour sorgen dafür, dass die Mode der Gegenwart und Zukunft umweltfreundlicher ist. Auch international ist nachhaltige Mode total im Trend.

Nearon

Pony Earth

Growing Patterns Living Pigments

Tirana: Bunter statt Bunker

Noch vor 30 Jahren wusste man wenig über das Land und seine Hauptstadt, das in der über vier Jahrzehnte dauernden Herrschaft von Enver Hoxha sogar in der Liste der kommunistischen Staaten eine Sonderstellung einnahm, die heute noch am ehesten mit Nordkorea vergleichbar ist. Obwohl an der Adria, zwischen dem heutigen Montenegro und Griechenland gelegen, war der Staat fast ein halbes Jahrhundert ein kultureller und politischer weißer Fleck mitten in Europa. Alle internationalen Verbindungen, sei es militärisch, wirtschaftlich, diplomatisch und sogar transitmäßig, waren bis aufs absolute Minimum gekappt; dazu ein grundsätzliches Religionsverbot und ein an Grausamkeit und Effizienz verwandten Organisationen wie Stasi und Securitate um nichts nachstehender Geheimdienst. Nach dem Tod Hoxhas 1985 und dem Zerfall des Ostblocks 1990 dauerte es daher noch bis in die späten 90er-Jahre, bis das Land auf die Beine kam und international Anschluss fand. Vor allem die Hauptstadt Tirana, deren Einwohner*innenzahl sich in rund drei Jahrzehnten mehr als verdoppelte, hat sich mittlerweile zu einer attraktiven Destination für internationale Gäste gemausert.

Durch das Nadelöhr

Davon merkt man bei der Ankunft am Mutter Teresa-Flughafen – die einzig sinnvolle Art einzureisen – anfangs wenig. Der ursprünglich rein militärisch genutzte Airport wurde kleinweise adaptiert und funktioniert ganz gut, platzt aber aus allen Nähten. Eine Bahnverbindung vom Flughafen sucht man vergeblich, mit einem der Unmengen von Taxis kommt man am besten in die Stadt. Beim heftigen Verkehrsaufkommen ist allerdings Geduld gefragt. Dafür wird man schon bei der Fahrt Richtung Skanderbeg-Platz, dem Mittelpunkt von Tirana, mit abwechslungsreichen Häuserfronten belohnt. Hier reihen sich gründerzeitliche Fassaden an gesichtslose Plattenbauten, zwischen hastig in den 90ern errichteten Geschmacklosigkeiten finden sich immer wieder kleine Vorgärten und grüne Innenhöfe. Entlang der fast schnurgeraden Hauptverkehrsstraßen wird man quasi wie in einer Kanüle ins Zentrum injiziert.

Arena Center Tirana
Arena Center © Unsplash/Dario Daniel Silva

Von Gelb bis Grün

Der 38.000 Quadratmeter große, komplett gepflasterte und punkto Bodenversiegelung weltmeisterliche Skanderbeg-Platz wird umgeben von architektonischen Landmarks, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Statue des Nationalhelden Skanderbeg, aber auch die über 200 Jahre alte Et’hem-Bey-Moschee samt Uhrturm repräsentieren die alte Kultur und Tradition des Landes. Das gegenüberliegende Nationalmuseum mit seinem elf Meter hohen und 40 Meter langen historischen Mosaik wirkt zwar aus der Zeit gefallen, beeindruckt aber dennoch. Dominiert wird der Rundumblick aber von modernen Highrise-Gebäuden im Umfeld. Ganz besonders das gerade in Bau befindliche Hotel Intercontinental, das sich mit seiner ungewöhnlichen gelben Fassade nach Entwürfen der deutschen Architekt*innen Bolles+Wilson schon jetzt zu einer Art Wahrzeichen mausert. Ebenso markant, weil von einer runden Grundfläche zu einem quadratischen Rooftop morphenden Gebäudeform, ist der TID Tower aus der Feder der Brüsseler 51N4E. Mit einer ungewöhnlichen Fassade kann auch der Downtown One punkten: Die niederländischen Architekt*innen von MVRDV haben mit einer modernen Erker-Interpretation wie mit riesigen Pixeln Form und Topografie von Albanien integriert. Wenn man sich am richtigen Punkt in der Stadt befindet, kann man als Kontrast im Vordergrund die noch nicht ganz fertige Große Moschee von Tirana bewundern. Ein gleichermaßen ungewöhnliches wie ästhetisches Gebäude ist der 4 Ever Green Tower mit seiner blaugrünen Fassade, erdacht von den Italienern Studio Archea. Sehenswert, auch aus der Nähe!

Die Große Moschee von Tirana und Downtown One
Die Große Moschee von Tirana und Downtown One © Markus Höller

International und national

Man sieht also, dass bei der Stadtplanung auf ein gutes Maß an Ideen aus unterschiedlichen Ecken Europas Wert gelegt wurde. Doch auch die lokale Architektur findet ihren Platz, am ungewöhnlichsten wohl in Form der schlicht Pyramide genannten ebensolchen. Das Ende der 80er-Jahre fertiggestellte, federführend von Enver Hoxhas Tochter Pranvera geplante und wenig attraktive Gebäude durchlief im Lauf der Zeit viele Nutzungsphasen. Vom personenkultigen Museum über Konferenz- und Ausstellungszentrum oder Büros internationaler Organisationen, Bar bzw. Disco bis hin zum provisorischen NATO-Posten erlebte der Bau einige Umwidmungen. Ein Abriss konnte verhindert werden, heute beherbergt der schrullige Klotz ein Kultur- und Bildungszentrum für Jugendliche, vor allem aber die Nutzung als gute Aussichtsplattform via der vielen Stufen rundum erfreut sich bei Einheimischen wie Tourist*innen großer Beliebtheit.

Bunk'Art 2 Museum Tirana
Bunk'Art 2 Museum © Markus Höller

Natürlich sind die Bunker immer noch ein großer Magnet für Besichtigungen und die Albaner*innen legen auch Wert darauf, ihre oft schmerzliche Historie nicht zu vergessen – sie wollen eben nicht nur darauf reduziert werden.

Streetstyle Tirana
Streetstyle Tirana © Markus Höller

Bewahren der Kultur

Natürlich sind die eingangs erwähnten Bunker immer noch ein großer Magnet für Besichtigungen und die Albaner*innen legen auch Wert darauf, ihre oft schmerzliche Historie nicht zu vergessen – sie wollen eben nicht nur darauf reduziert werden. Einen umfangreichen, wenn auch betroffen machenden Eindruck über die langen Jahre der Unterdrückung kann man sich im Bunk’Art 2 machen, einem in einem ehemaligen Regierungsbunker untergebrachten, unterirdischen Museum. Grundsätzlich lohnt es sich, auf eigene Faust die alten Strukturen der Stadt zu erkunden, vom bunten Markt Pazari i Ri bis zur romantisch gentrifizierten Festung aus dem 14. Jahrhundert gibt es hier Insta-Spots am laufenden Band. Und immer im Hintergrund: die bunten, spannenden und sehenswerten neuen Hochhäuser.

Streetstyle Tirana
Streetstyle Tirana © Markus Höller

Kurzinfo Tirana: Flüge von Wien nach Tirana finden mit Ryanair täglich, mit Austrian vier Mal und Wizzair drei Mal pro Woche statt. Vom Flughafen, aber auch in der Stadt kommt man am besten mit Taxis voran, denn der schlecht ausgebaute öffentliche Verkehr wird grundsätzlich mit Bussen abgewickelt. In Albanien zahlt man hauptsächlich bar in der Landeswährung Lek, Euro sind oft auch möglich. Kontaktlos- bzw. Kartenzahlung ist nicht weit verbreitet. Albanien ist nicht Teil der EU oder Schengenzone, man benötigt aber kein Visum. Das Mobilfunknetz ist gut ausgebaut, jedoch rechtzeitig auf Roaming-Optionen achten!

Hoteltipp: Das brandneue, erst im Frühjahr 2024 eröffnete Mercure Tirana liegt ideal auf ungefähr der halben Strecke an der Ausfallsstraße zwischen Zentrum und Flughafen. Moderne, großzügige Zimmer, Küche und Bar befinden sich auf tadellosem mitteleuropäischem Vierstern-Niveau. Von hier aus ist man mit dem Taxi für knappe 10 Euro in 15 Minuten direkt im Zentrum. Der Knüller ist jedoch der exzellente, saubere Rooftop-Pool samt angeschlossener Terrasse und Bar. Hier lässt es sich an heißen Tagen mit Fernblick auf die Stadt und die umliegenden Berge fein aushalten.

Compliance-Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung der Accor Group.

Sportler David Mzee: „Ich liebe es, Hindernisse zu überwinden“

Dieses Lachen wollte einfach nicht mehr aus seinem Gesicht verschwinden, erinnert sich David Mzee. Den ganzen Tag hatte er erfolglos versucht, hinter dem Motorboot aus dem Wasser zu starten und am Wakeboard über den Zürichsee zu brettern. Und dann, beim allerletzten Versuch des Tages, war es ihm gelungen: „Ich weiß nicht warum, aber plötzlich hat es geklappt. Die Sonne war am Untergehen und ich bin übers Wasser geschossen. Es war ein unvergleichlich cooles Gefühl. Und am Abend bin ich zu Hause gesessen, habe innerlich gezittert vor Freude und Adrenalin. Da war es wieder, dieses Gefühl der absoluten Freiheit!“

Das ist ja schräg!

David Mzee war 22 Jahre jung, als ein Unfall im November 2010 sein Leben für immer verändern sollte. Im Rahmen seines Sportstudiums probierte er einen Dreifachsalto vom Minitrampolin. Doch statt einer – wie sonst immer – sicheren Landung schlug er in der „Schnitzelgrube“, einer mit Schaumstoffwürfeln gefüllten Mulde, mit dem Kopf voran auf. Die tragische Folge: Bruch des sechsten und des siebten Halswirbels. „Ich bin Tetraplegiker, das heißt, dass sowohl Arme als auch Beine von meiner Querschnittslähmung betroffen sind“, erklärt David Mzee im Gespräch mit dem funk tank-Magazin.

Aufs Kitesurfen ist er schon kurz nach seiner Reha aufmerksam geworden, weil ein Kollege eines Tages mit einem Sitz für das Brett am Schoß durch die Klinik rollte. „Ich hätte nicht gedacht, dass man nicht nur als ‚Fußgänger‘, sondern auch als Rollstuhlfahrer Wassersport auf einem Brett ausüben kann.“ Doch der heute 36-jährige Schweizer brauchte nicht lange, um sich für die neuen Möglichkeiten zu begeistern.

Nicht zuletzt, weil ihm der Sport ein Gefühl zurückbrachte, das er schmerzlich vermisst hatte. „Ein Rollstuhl ist so konstruiert, dass praktisch immer alle vier Räder den Boden berühren. Du kannst nicht zur Seite kippen. Und du kannst deshalb diese Schräglage nicht genießen, wenn du dich flott in einer Kurve bewegst. Jetzt kann ich das wieder erleben – und habe jedes Mal einen fetten Grinser im Gesicht.“

David beginnt bei minus 100

David Mzee – der mit dem Schweizer Rollstuhlrugby-Nationalteam an mehreren Welt- und Europameisterschaften teilgenommen hat – war immer schon ein begeisterter Sportler mit spezieller Liebe zum Handball, zur Kampfkunst und zum Skifahren. Wassersport war früher aber kein großes Thema, obwohl er seine Ferien oft in Kenia, dem Heimatland seines Vaters, verbracht hat „und dort die meiste Zeit im Wasser war. Ich kann mich erinnern, dass ich gern getaucht bin und mir vorgestellt habe, dass ich fliege. Nirgends sonst konnte ich mich so spielerisch auf und ab bewegen.“

Kitesurfen und Wakeboarden hat er tatsächlich erst nach seinem Unfall für sich entdeckt: „Ich habe allerdings nicht bei null begonnen“, sagt David und lacht. „Da ich als Tetraplegiker körperlich ganz andere Voraussetzungen und Bedürfnisse habe als fast alle anderen Menschen, die diese Sportarten ausüben, und ich weder auf ihr Know-how noch auf bestehendes Material zurückgreifen konnte, musste ich bei minus 100 beginnen.“

Besonders herausfordernd war, dass es keine Vorbilder gab: „Das Skifahren neu zu erlernen war auch nicht einfach. Aber das haben schon andere Querschnittsgelähmte vor mir hinbekommen. Ich wusste also: Selbst wenn ich körperlich vielleicht etwas andere Voraussetzungen habe als sie, so ist es doch zumindest prinzipiell machbar. Also werde ich es sicher irgendwie schaffen!“

Beim Wakeboarden und speziell beim Kitesurfen war es anders, sagt David Mzee: „Meines Wissens bin ich der erste Tetraplegiker in der Schweiz, der diese Sportarten ausübt. Es war also gar nicht sicher, ob es überhaupt möglich ist.“ Doch gerade solche Situationen motivieren ihn zusätzlich: „Ich liebe es, an mir zu arbeiten und Hindernisse zu überwinden. Ich liebe es, neue Bewegungserfahrungen zu sammeln und damit neue Fähigkeiten in mir freizuschalten.“

Extremsportler David Mzee am Wasser beim Sport
© Dave Brunner

Alles ist anders

Der Grad – und damit die körperlichen Folgen – seiner Verletzung gestalten den Wassersport besonders herausfordernd. Das beginnt damit, dass er immer auf Hilfe angewiesen ist, um in den hautengen Neoprenanzug zu schlüpfen; außerdem spürt man im Wasser die Kälte schneller und stärker, wenn man die Beine und den Rumpf nicht bewegen kann. Dazu kommt, dass David Mzee seine Sportgeräte grundsätzlich anders als andere Menschen unter Kontrolle bringen muss: „Ich habe einerseits keine Rumpfkontrolle. Und andererseits fehlt es mir in den Fingern sowohl an Kraft als auch an Feinmotorik. Das heißt, ich kann mich weder beim Wakeboarden noch beim Kitesurfen am Griff richtig festhalten.“

Deshalb legt David Mzee besonderes Augenmerk auf sein Equipment, das er mithilfe von Freunden technisch immer weiter entwickelt und verfeinert: „Vereinfacht gesagt geht es darum: Da ich die Kraft, die über den Wind im Segel oder den Motor des Bootes entsteht, nicht über meine Hände aufnehmen und nutzen kann, muss ich sie irgendwie auf meine Sitzschale übertragen, um mich so über Wasser ziehen lassen zu können.“

Akribischer Tüftler

Allein der Ordner „Evolution Kite Material“ auf seinem Computer umfasst mittlerweile mehr als 300 Dokumente, erzählt David Mzee. „Es sind so viele Dinge, die es zu beachten gilt. Und es gibt so viele Faktoren, die reguläres Equipment für mich richtig gefährlich machen.“ Als grundsätzliches Problem erweist sich das physikalische Prinzip, das jeden Boardsport im Wasser erst ermöglicht: Je größer das eingetauchte Volumen eines Festkörpers, also etwa eines Surfbretts, ist, umso höher ist der Auftrieb. „Diese Auftriebskraft ist sehr wichtig“, sagt David Mzee, „sie kann aber zum schlimmsten Feind eines Rollstuhlfahrers werden. Denn wenn das Board, auf dem du festgeschnallt bist, kentert und sich umdreht, bist du unter Wasser gefangen und kannst dich aus eigener Kraft nicht mehr zurückdrehen.“

Also tüftelt er an technischen Möglichkeiten, seine eigene Sicherheit am Wasser zu verbessern: „Mittlerweile habe ich mir in Norddeutschland ein eigenes Brett bauen lassen. Ein echter Gamechanger für mich war aber die neue Sitzschale, die ein befreundeter Techniker mit mir gemeinsam entworfen hat und aus der ich mich notfalls viel leichter lösen kann. Wenn ich denke, mit welchem Material ich vor ein paar Jahren begonnen habe, dann fühle ich mich heute deutlich sicherer …“

Immer neue Ziele

Woher seine – neu gewonnene – Leidenschaft für den Wassersport kommt, sagt David Mzee, war ihm selbst lange nicht bewusst. „Vor Kurzem habe ich aber darüber nachgedacht und dabei ist mir etwas klar geworden: Wasser ist ein Element, in dem die Bedeutung der Beine nicht ganz so groß ist. Der Mensch ist ohnehin nicht wirklich fürs Wasser gemacht und wird sich darin nie so gut und souverän bewegen wie ein Fisch. Ob man seine Beine bewegen kann, macht offenbar gar nicht so viel Unterschied und deshalb fühle ich mich im Wasser weniger eingeschränkt.“

Anders als bei anderen Sportarten, die er schon vor seinem Unfall beherrscht hat: „Mein großes Glück ist, dass ich beim Kitesurfen und Wakeboarden keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Deshalb haben mich die vielen misslungenen Versuche am Anfang nicht frustriert.“ Beim Skifahren hingegen wirkt sich der Vergleich durchaus auf die Psyche aus, sagt David Mzee: „Ich weiß, wie gut ich vorher war, und das führt heute zu einem Verlustgefühl. Es ärgert mich, dass ich am Monoski keine schwarzen Pisten mehr fahren kann, weil sie einfach zu steil für mich sind.“

Umso schöner ist es, dass er weiterhin neue Sportarten für sich entdecken und damit neue Fähigkeiten freischalten kann: „Im Frühjahr war ich in Australien und hatte die Möglichkeit, den Wave Garden zu besuchen. Ich war davor zwar noch nie Wellenreiten, aber es hat mir sofort riesigen Spaß gemacht.“

Adaptive surfing heißt diese spezielle Sportart, bei der Menschen auf dem Brett liegend mit den Wellen spielen können. „Ich habe gemerkt: Je wuchtiger die künstlich generierte Welle ist, umso besser spürt man sie. Mit mir war Sam Bloom im Wasser, die dreifache australische Weltmeisterin, und sie hat mir großen Mut gemacht. Sie hat gesagt, wenn ich so weitermache, kann ich eines Tages auch an der WM in Hawaii teilnehmen. Und das würde mich sehr reizen; Hawaii steht schon lang auf meiner Bucketlist …“

Extremsportler David Mzee beim Anziehen vor dem Sport im Rollstuhl
© Dave Brunner

Der Mensch ist ohnehin nicht wirklich fürs Wasser gemacht und wird sich darin nie so gut und souverän bewegen wie ein Fisch. Ob man seine Beine bewegen kann, macht offenbar gar nicht so viel Unterschied und deshalb fühle ich mich im Wasser weniger eingeschränkt.

Extremsportler David Mzee am Wasser beim Surfen
© Ken Leanfore for Wings For Life World Run

Eine Frage der Perspektive

Dabei betreibt David, der im Herbst zum zweiten Mal Vater einer Tochter wird, den Sport in erster Linie zum Ausgleich. 2016 – also sechs Jahre nach seinem Unfall – hat er nämlich sein „Bewegungswissenschaften und Sport“-Studium an der renommierten ETH Zürich doch noch abgeschlossen – als Jahrgangsbester mit Summa cum laude! Seither arbeitet David als einziger Schweizer Sportlehrer im Rollstuhl, außerdem hält er regelmäßig Vorträge: „Was mich daran fasziniert, ist aber gar nicht so sehr das Referieren selbst, sondern das anschließende Q&A. Ich liebe diesen Teil, den ich nicht unter Kontrolle habe, sondern in dem ich spontan reagieren muss.“

Dass er sein Leben mit so großer Zuversicht gestalten kann, liegt – wie er im Zoom-Gespräch erzählt – daran, dass immer der Blickwinkel die Perspektive bestimmt: „Mein Vater stammt ja aus Kenia und dadurch habe ich auch Dinge gesehen und erlebt, die anderen Menschen vielleicht fremd sind. Wir müssen erkennen, wie viel Glück wir haben und wie dankbar wir den Generationen vor uns sein müssen, die uns dieses Leben ermöglicht haben.“

Zumal eine so schwere Verletzung wie seine in der alten Heimat seines Vaters ganz andere Konsequenzen nach sich gezogen hätte, wie David zu erzählen weiß: „In Kenia wäre mein Leben nach dem Sturz anders verlaufen. Mein Vater hat mir die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der ungefähr zur gleichen Zeit einen ähnlichen Unfall hatte. Seine Möglichkeiten danach waren so weit weg von denen, die ich hier in der Schweiz vorgefunden habe.“

Cooles Umfeld

Dazu gehört, dass David seit 2016 an einer klinischen Studie der ETH Lausanne teilnimmt, die von der Wings For Life Foundation und der Internationalen Stiftung für Forschung in der Paraplegie gefördert wird. Im Zuge eines komplexen medizinischen Verfahrens wurde ihm eine Elektrode aufs Rückenmark implantiert. Dank dieses Neurostimulators ist es ihm mittlerweile möglich, mithilfe eines Rollators eigenständig Schritte zu gehen. Die Technik selbst wird stetig weiterentwickelt, im Herbst könnte Davids aktuelles Ansteuerungstool, das im Bauchraum implantiert wurde, durch ein verbessertes Gerät ersetzt werden: „Wenn alles wie erhofft funktioniert, könnten meine Bewegungen ein bisschen geschmeidiger werden.“

Egal, ob im Sport oder im Alltag: Widrigkeiten spornen David Mzee erst recht an. Wobei er selbst gar nicht zu philosophisch werden möchte: „Bei der Frage, wie ich all diese Hindernisse in meinem Leben überwinden kann, fallen mir als Erstes meine Familie und meine Freundinnen und Freunde ein. Ich habe einfach ein cooles Umfeld, und das macht es relativ einfach, selbst immer wieder die nötige Stärke zum Weitermachen aufzubringen.“ Zum Schluss gönnt uns David noch einmal ein spitzbübisches Lachen: „Und wenn jemand sagt: ‚Das kannst du nicht!’, dann spornt mich das erst so richtig an!“

Extremsportler David Mzee mit seinem Rollator gehend
© Romina Amato for Wings For Life World Run

David Mzee, 36, lebt mit Freundin und Tochter in der Nähe von Zürich. Der Sportlehrer und Motivationsredner ist seit einem Sportunfall 2010 querschnittsgelähmt. Der Tetraplegiker nimmt an einer klinischen Studie der ETH Lausanne (Schweiz) teil; eine Elektrode auf seinem Rückenmark ermöglicht es ihm, mithilfe eines Rollators eigenständig Schritte zu gehen.

David Mzee – Website

David Mzee – Limit/less 

Dave Brunner – Fotograf – Website

Dave Brunner – Fotograf – Instagram

Reisen, aber richtig: Denkanstöße für Fernwehgeplagte

Das „Reisen veredelt den Geist und räumt mit Vorurteilen auf“, stellte Oscar Wilde vor über 100 Jahren fest, als der Tourismus noch in den Kinderschuhen steckte. Reisen ohne unmittelbare Notwendigkeit? Das war lange Zeit ein Privileg der gesellschaftlichen Oberschicht. Im 18. Jahrhundert kamen in Europa Bildungsreisen in Mode, auf denen junge Menschen Kunst und Kultur anderer Länder aufsogen und so ihren Horizont erweiterten. Einer der bekanntesten Teilnehmer dieser sogenannten „Grand Tour“ war Johann Wolfgang von Goethe, dessen Italienreise sich auf fast zwei Jahre ausdehnte. Da er dabei seine kreativen Reserven auffüllte und unentwegt forschte, malte und schrieb, könnte man sagen, es war eine der ersten „Workations“ der Welt. Mit der Industrialisierung suchten dann auch andere Bevölkerungsgruppen nach Erholung von den überfüllten Städten in der umliegenden Natur. Vom sogenannten Fremdenverkehr zum heutigen Massenphänomen ging es dann recht schnell. Dass dies schon früh negative Auswirkungen zeigte und sich dadurch passende Initiativen für Natur- und Umweltschutz entwickelten, war nur (öko)logisch. Heute sucht man händeringend Möglichkeiten, Reisen und Klimaschutz zu verbinden – auch, wenn sich diese beiden Dinge gegenseitig ausschließen. Was also bringt der neue Ökotourismus und wie leicht lässt er sich umsetzen?

Wie man sich bettet …

Schon bei der Unterkunftsrecherche zu Hause merkt man: Immer mehr Hotels setzen auf nachhaltige Konzepte. Von Baumhäusern aus recyceltem Holz über die Eco-Lodge bis hin zum energieautarken Ferienhaus ist alles dabei. Gut so, denn das Wohnen im Urlaub verbraucht schließlich eine Menge Energie und Ressourcen. Laut der Organisation Global Nature Fund produziert ein Hotelgast pro Tag beispielsweise rund 1,38 Kilogramm Abfall, ob er will oder nicht.

Wie aber stellt man sicher, dass man nicht schon bei der Buchung in die Greenwashing-Falle tappt? Daniela Jahn gründete mit ihrem Herzensprojekt Hiersein ein Empfehlungsportal für nachhaltige Unterkünfte in Deutschland, das eine Entscheidungshilfe für klimabewusste Reisende sein soll. „Ich empfehle immer, zuerst die Webseite zu checken. Denn Unterkünfte, die nachhaltig betrieben werden, sind meist sehr transparent und kommunizieren das auch. Zum Beispiel konkrete Hinweise darauf, ob Gastgeber*innen ihre eigene Energie produzieren, ob und wie sie den Wasser- und Müllverbrauch reduzieren, ob der Garten mit Regen- und Brauchwasser gewässert wird, die Betten mit fair gehandelter Wäsche bezogen sind, regionale und fair gehandelte Mahlzeiten serviert werden etc.“, so die Expertin. Eine gute Orientierung könnten darüber hinaus Nachhaltigkeits-Zertifikate und -Siegel geben, auch wenn die schiere Menge oft einem unüberwindbaren Dschungel ähnelt. „Ein paar gute Beispiele sind aber Viabono, GreenBrand sowie das EU Ecolabel.“ Vorsicht sei geboten, wenn Unterkünfte ihren öffentlichen Auftritt mit „grünen“ Worthülsen ohne Erläuterung pflastern: „Je mehr, desto skeptischer wäre ich. Bezeichnet sich eine Unterkunft als klimaneutral, erwarte ich als Gast schon, dass man mir erklärt, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden, die diese Aussage rechtfertigen. Vor allem dann, wenn Energiefresser im Einsatz sind wie Klimaanlagen oder Outdoor-Jacuzzis, die sogar im Winter in Betrieb sind“, so Jahn. Erst kürzlich habe sie wieder ein gutes Beispiel entdeckt: „Ein selbsternanntes Bio-Hotel, das auf seiner Webseite ein Foto seines Frühstücksbüfetts zeigte, auf dem in Plastik abgepackte Marmeladen und Südfrüchte abgebildet waren. Von Regionalität oder Plastikreduzierung keine Spur.“ Dabei gäbe es neben regionaler und saisonaler Verköstigung auch bei den größten Ressourcenverbrauchern bereits bessere Lösungen. „Eine smarte Bauweise mit natürlichen Materialien reduziert den Energieverbrauch für Heizung oder Kühlung. Und statt jedes Hotelzimmer mit einer Minibar auszustatten, lieber einen Kühlschrank in einem Gemeinschaftsbereich aufstellen und mit gekühlten Getränken bestücken.“ Beim Thema Enttäuschung am Frühstücksbüfett müssen wir uns alle an den Ohren nehmen, denn: Wie lebenswichtig sind Erdbeeren im Winter, Avocados oder Ananas?

Moodbild Reisen per Zug
© Josh Nezon/Unsplash

Der größte Ressourcenverbrauch, so Jahn, findet aber gar nicht in der Unterkunft statt, sondern bei An- und Abreise. „Mit der Wahl des Transportmittels hat jede*r Einzelne von uns eine wichtige Stellschraube in der Hand, um den Part seiner Reise zu beeinflussen, der den größten Klimafußabdruck verursacht. Ein Trend bei Unterkünften: Sie bieten Gästen einen Rabatt, wenn man anstatt mit dem Pkw per Bahn anreist. Vor Ort wird dann ein Abholservice angeboten, der öffentlicher Personennahverkehr ist oft kostenlos mit der Gästekarte oder es stehen Fahrräder zum Ausleihen bereit.“ Zumindest für den deutschsprachigen Bereich und vor allem bei Wanderurlauben wäre dies also locker umzusetzen.

Belohnungen fürs Umdenken

Bekannt für ihre nachhaltige Entwicklung, führte die dänische Hauptstadt Kopenhagen kürzlich ein kreatives Projekt ein: CopenPay ist eine Initiative, die umweltbewusstes Handeln vor Ort in eine Währung für kulturelle Erlebnisse verwandelt. Man möchte die Besucher*innen für Aktionen wie Radfahren, die Teilnahme an Aufräumarbeiten oder die freiwillige Mitarbeit in städtischen Bauernhöfen mit einer Vielzahl an Erfahrungen belohnen. Dazu gehören gratis Museumsführungen, Kajakverleih oder ein kostenloses vegetarisches Mittagessen. Das legt den Fokus auf die Frage: Wie kann ich mich vor Ort möglichst umweltschonend verhalten, wenn ich schon um das Fliegen nicht herumkomme?

Achtung, jetzt wird’s ungemütlich

Apropos Fliegen. Die Reiseindustrie ist ein bedeutender Faktor für den globalen CO2-Ausstoß, ganz klar. Flugreisen sind hierbei die größten Übeltäter, gefolgt von Kreuzfahrten. Beim Fliegen wird nicht nur das klimaschädliche CO2 ausgestoßen, durch die Verbrennung von Kerosin entstehen dabei auch andere Substanzen wie Aerosole, Stickoxide und Wasserdampf. In Flughöhe werden diese nur sehr langsam abgebaut und wirken daher stark auf die Erderwärmung ein – laut Deutschem Umweltbundesamt sogar zwischen fünf und acht Prozent. Das mag nicht viel klingen, ist aber bedeutend, vor allem mit Blick in die Zukunft. Da hilft auch die Auswahl der Zieldestination nichts. Costa Rica beispielsweise gilt als wahrer Pionier in Sachen Ökotourismus. Das Problem ist allerdings die Anreise: Ein direkter Hin- und Rückflug von Wien nach Costa Rica verursacht laut dem CO2-Rechner des Kompensationsdienstleisters atmosfair rund 6,6 Tonnen CO2-Äquivalente pro Person. Zum Vergleich: Das ist eine dreimal so hohe Klimaauswirkung wie ein Jahr Autofahren. Laut wissenschaftlichen Erkenntnissen dürfte man, um die globale Erderwärmung kollektiv zu verlangsamen, aber nur 1,5 Tonnen CO2-Emissionen verursachen – pro Jahr wohlgemerkt. Ein Glücksfall fürs Klima ist, dass sich nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Weltbevölkerung regelmäßige Flugreisen überhaupt leisten kann. Nur rund fünf bis zehn Prozent aller Menschen steigen jedes Jahr ins Flugzeug. Noch. Denn laut dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt wird sich die Zahl der Flugpassagier*innen zwischen 2016 und 2040 verdoppelt haben – Tendenz steigend.

Moodbild Nachhaltig Reisen
© Marvin Meyer/Unsplash

Ein Muss: lokal essen statt in der Fast-Food-Kette, Souvenirs in kleinen Handwerksbetrieben kaufen, statt Billigware aus China und Erlebnisse bei ortsansässigen Unternehmen buchen, statt auf internationalen Buchungsplattformen. Kurz gesagt: die Wertschöpfung des Tourismus im Land lassen.

Nur Mut

Zugegeben, es sind Fakten wie diese, die zermürben und oft sogar dazu führen, unsere eigenen Nachhaltigkeitsbemühungen gleich ganz über Bord zu werfen. Viel sinnvoller ist aber, die Debatte als Chance zu nutzen, um die eigene Einstellung zum Reisen ganz neu zu überdenken. Weshalb halten wir es für ein Muss, jedes Jahr in den Flieger zu steigen? Wollen wir an diesen Ort, weil wir ihn auf der Reiseliste abhaken oder ihn wirklich erkunden möchten? Ist der Sandstrand auf den weit entfernten Malediven wirklich um so viel besser als im Süden Europas oder lediglich ein tolles Fotomotiv für Social Media? Reisen wir in dieses Land, um seine Kultur zu verstehen, oder einfach, weil alle sagen, dass man es einmal im Leben gesehen haben muss? Wie viel Mehrwert bekommt man auf dieser Reise? Denn viel zu oft entwickelt sich ein Automatismus, der vom Gefühl, „urlaubsreif“ zu sein, viel zu schnell zum Klick auf die Buchungswebsite führt. Fast so, als könnte man Stress und Alltagssorgen nicht zu Hause am See, sondern erst beim Security-Check am Flughafen abhängen.

In Zeit investieren

Im 19. Jahrhundert reiste man wochen- und monatelang per Orient-Express nach Istanbul oder mit dem Dampfschiff nach Ägypten. Verreisen war eine große Sache, ging ja auch nicht anders. Seit einiger Zeit gibt es einen Trend, der dem gar nicht so unähnlich ist: Slow Travel. Statt in kürzester Zeit zahlreiche Orte zu besuchen, bleibt man länger an einem Fleck. Entspannte Zeit genießen, statt Sightseeing in Höchstgeschwindigkeit. Das reduziert den CO2-Ausstoß und ermöglicht tiefere kulturelle Erlebnisse – so weit, so gut. Was man dafür aber braucht, ist genauso wertvoll und für viele rarer als Geld: nämlich Zeit. Außerdem ist das richtige Mindset von Vorteil, um die längere Anreise, die dabei oft per Zug erfolgt, bereits als entschleunigenden Teil des Urlaubs zu sehen, statt als verlorene Zeit. Kein Wunder, dass diese Art des Reisens vor allem bei Remote Workern und der jungen Gen-Z immer beliebter wird.

Trotz des höheren Verbrauchs an kostbaren Urlaubstagen und den potenziellen Ärgernissen durch hohe Zugpreise und noch höhere Verspätungswahrscheinlichkeit birgt Slow Travel aber auch das Potenzial, neue und kreativere Arten des Reisens zu erforschen. Den Städtetrip nach London zu planen beispielsweise und von dort aus das sehenswerte Umland mit dem Zug erkunden. Oder zwei Länder Europas per Zugreise zu verbinden, um sich dadurch zwei weitere Flüge zu ersparen. Das beliebte Motto „Der Weg ist das Ziel“ also einfach mal wörtlich zu nehmen.

Anders denken

Tourismus ist aber nicht per se schlecht. Durch die Suche nach nachhaltigen Nutzungsmöglichkeiten der Natur trägt er in vielen lateinamerikanischen sowie afrikanischen Ländern wie Tansania, Namibia, Costa Rica und Ecuador zur Finanzierung von Schutzgebieten bei, ohne Schäden zu verursachen. Auch Christian Hlade, Gründer der Organisation WeltWeitWandern, ist sich sicher, dass man das Reisen einfach nur ganz neu verstehen muss: „Von A nach B zu reisen hat einen Energieaufwand, das lässt sich nicht ändern. Gleichzeitig steckt aber so viel Potenzial dahinter. Denn dass die Klimakatastrophe sehr oft Menschen in ärmeren Ländern betrifft, bekommt man erst so richtig mit, wenn man dorthin reist. Dann ist das Thema plötzlich greifbar und real. Es ist also wichtig, dass wir uns in Europa nicht in unsere Wohlstandsblase einigeln, sondern unseren Horizont erweitern. Da müssen auch Reiseanbieter wie wir ihre Hausaufgaben machen.“ Bewegt man sich zu Fuß durch ein Land, passiert außerdem viel nonverbale Kommunikation und man erlebt den Ort intensiver, ist sich der Wanderexperte sicher: „Eine reine Kulturreise spielt sich nur im Kopf ab: Jahreszahlen, Museen, Geschichte. Wandern dagegen geht durch den ganzen Körper. Man geht miteinander, beobachtet, singt und kocht abends gemeinsam im Zeltlager. Man ist im Hier und Jetzt.“ Ein Muss: lokal essen statt in der Fast-Food-Kette, Souvenirs in kleinen Handwerksbetrieben kaufen, statt Billigware aus China und Erlebnisse bei ortsansässigen Unternehmen buchen, statt auf internationalen Buchungsplattformen. Kurz gesagt: die Wertschöpfung des Tourismus im Land lassen.

Christian Hlade von WeltWeitWandern
Christian Hlade von WeltWeitWandern © WeltWeitWandern

Tourismus auf Augenhöhe

Eine zentrale Rolle, so Hlade, spielt dabei ein Guide, der die Gruppe in seine eigene Kultur führt. „Nur jemand, der in der Region verwurzelt ist, kann authentisch diese Vermittlerrolle übernehmen und auch einmal Stopp sagen.“ Sein Geheimtipp für ruhiges Slow Travelling ist übrigens Bosnien, denn dort genießt man nicht nur wunderschöne Landschaften, das Land könnte Tourismuseinnahmen auch dringend brauchen. „Hotspots im nahegelegenen Kroatien werden überrannt, weil sie ständig beworben werden. Bosnien oder Bulgarien stehen dem aber um nichts nach. Gut gemachte Tourismuskonzepte könnten in solchen Ländern sehr viel bewirken.“ Man sollte in Zukunft eher die Rankings der beliebtesten Destinationen nehmen und diese dann bewusst meiden. Denn der sogenannte „Overtourism“, bei dem Reiseziele von Touristenmassen überrannt werden, ist ein großes Problem, das in den nächsten Jahrzehnten sogar noch wachsen soll. In weniger berühmten Orten rund um den Globus, so Hlade, ist die Seele des Landes weit besser spürbar als in den Tourismus-Hotspots. Oft versäumt man es auch, die Bucket-List an die eigenen Werte anzupassen und findet sich dann in Destinationen wieder, die kaum Positives zum Leben beitragen. Statt unvergesslichen, schönen Urlaubserinnerungen gibt’s danach lediglich einen mentalen Haken dahinter.

„Man reist nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen“ – dieses Zitat von Goethe sollte man heutzutage vielleicht überdenken. Zumindest, wenn das Reisen kein Urlaub, sondern eher ein Weglaufen vorm Alltag ist. Und wer weiß, was alles passiert, wenn wir das Bereisen ferner Länder nicht mehr als Selbstverständlichkeit sehen, sondern als Privileg?!

Reiseplattformen mit Mehrwert sind beispielsweise Fairaway, Anders Reisen, Bookitgreen, Green Pearls oder Ethical Traveler.

Best Practice: das klimapositive Hotel Luise in Erlangen in Deutschland mit „nachwachsenden“ Zimmern inkl. Bett aus Kokosnuss- und Algenfasern, Teppich aus recycelten Fischernetzen und Wänden aus gepresstem Stroh.

Christina Roth Handwerk auf höchstem Niveau

Der alte, naturbelassene Holzboden knarzt bei jedem Schritt. Es riecht nach Leder und Leim. Es riecht nach Bodenständigkeit. Die Zeit scheint vor langer, langer Zeit stehen geblieben zu sein, hier, in der 50 Quadratmeter großen Werkstatt von Christina Roth in der Salzburger Getreidegasse. So, wie die 36-jährige Handwerkerin in ihrer Lederwerkstatt näht, schleift und hämmert, so haben ihre Vorgänger*innen vor hundert Jahren auch schon gearbeitet: „Wir verwenden heute vielleicht bessere Werkzeuge als früher. Aber eigentlich bräuchten wir noch immer keinen Strom, um per Hand wunderschöne Einzelstücke zu fertigen.“

Die Lust am Neuen

Die gebürtige Steirerin war auf dem besten Weg, eine steile Businesskarriere zu machen – ehe sie sich bei einem privaten Besuch in einer Lederwerkstatt unsterblich in dieses traditionsreiche Handwerk verliebte. Anders als vielleicht manch andere Aus- und Umsteiger*innen war Christina Roth von ihrem vorherigen Beruf aber weder gefrustet, noch unter- oder überfordert.

Im Gegenteil. Aber nach fünf Jahren als Projektmanagerin bei einem großen Salzburger Energy-Drink-Hersteller und zwei weiteren Jahren in der aufstrebenden Welt der Kryptowährungen (inklusive Vorbereitung eines Börsengangs), wollte sie mit Ende 20 einfach wissen, was das Berufsleben sonst noch zu bieten hat: „Tatsächlich hatte ich nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt oder ich etwas grundlegend in meinem Leben ändern müsste. Mir hat meine Arbeit Spaß gemacht – aber ich war neugierig und wollte neue Erfahrungen sammeln.“

Dennoch war das Handwerk anfangs in erster Linie als Ausgleich zum doch recht digitalen Alltag gedacht: „Ich habe meine Ausbildung nebenbei begonnen und mir zum Beispiel drei Wochen Urlaub genommen, um bei Tsuyoshi Yamashita, dem bekanntesten Ledermeister in Japan, einen Kurs zu absolvieren.“ Deshalb erscheint ihr der Schritt in die Selbstständigkeit selbst als gar nicht so mutig, wie er auf Außenstehende vielleicht wirken mag: „Ich bin ja nicht eines schönen Morgens aufgewacht und habe mir gedacht, dass ich jetzt mein Leben komplett umkremple. Es war eine langsame Entwicklung.“

Lederware vom Feinsten – Christina Roth bei der Arbeit
© Chris Perkles

Wir müssen Nischen finden und Dinge tun, die Maschinen nicht können. Wir dürfen nicht schnell und billig produzieren, sondern müssen mit den aufwendigsten Techniken und den allerbesten Materialien arbeiten. Und wir müssen unsere ganze Liebe und Energie in unsere Produkte stecken.

Unter Druck lernt es sich besser

Mit der bewussten Entscheidung für das Handwerk ist Christina Roth sehr zufrieden: „Ich finde die Art, wie ich heute arbeite, viel schöner. Es ist so ruhig in der Werkstatt, wir hören nicht einmal Radio. Ich konzentriere mich ganz auf die Aufgabe, die vor mir liegt.“ Ein wesentlicher Unterschied zu früher ist die haptische Komponente ihrer Tätigkeit – und das konkrete, im wahrsten Sinn des Wortes greifbare Ergebnis ihrer Bemühungen: „In der Früh suche ich mir ein Stück Leder heraus und am Ende des Tages liegt ein fertiges Produkt vor mir, das ich allein mit meinen Händen und ein paar Werkzeugen geschaffen habe.“

Bei aller Handwerksromantik kann und will Christina Roth (die zwei Masterstudien zum Thema Management in Barcelona und Graz absolviert hat) ihren Ehrgeiz gar nicht zügeln: „Ich hätte ja zu Red Bull zurückkehren und dort weiter Karriere machen können. Das heißt aber nicht, dass ich jetzt nicht genauso große Ziele habe. Ich bin grundsätzlich sehr ehrgeizig. Und deshalb will ich handwerklich die Beste der Welt werden.“

Und dafür ist sie in den ersten fünf Jahren seit der Gründung ihrer CR Ledermanufaktur einen ungewöhnlichen und manchmal beschwerlichen Weg gegangen, wie sie im Gespräch mit funk tank erzählt: „Ich musste – und muss immer noch – sehr viel lernen. Deshalb habe ich zu jedem Auftrag ‚Ja‘ gesagt. Auch und gerade, wenn ich nicht wusste, wie das eigentlich funktioniert. So war ich stets gezwungen, mir selbst neue Techniken beizubringen. Ich hätte es mir leicht machen und mich von Anfang an auf Geldbörsen und Reisepass-Hüllen spezialisieren können. Aber so war ich unter Druck gezwungen, mich und meine handwerklichen Fähigkeiten stetig zu verbessern.“

Muskulöse Hände

Die Bandbreite von Produkten, die Christina Roth in ihrer Ledermanufaktur herstellen kann, ist groß; sie reicht von jeder Art von (maßgefertigten) Taschen und Gürteln über Geldbörsen und Uhrbänder hin zu Gerätehüllen und edlen Buch- und Speisekarten-Einbänden. Was sie – anders als in ihren früheren Jobs – dafür nicht braucht, ist ein Computer: „Den verwende ich nur für die Buchhaltung und um Anfragen von Kundinnen und Kunden zu beantworten. Ansonsten arbeite ich so, wie schon vor hundert Jahren gearbeitet wurde und zeichne Schnittmuster nicht digital, sondern traditionell am Karton.“

Die Beschäftigung mit dem robusten Werkstoff Leder verlangt sehr viel Geduld – und körperliche Kraft; je nach Größe einer Tasche oder eines Gürtels sind zum Beispiel Dutzende, ja Hunderte Nadelstiche notwendig: „Es gibt Fotos aus meinen Anfangstagen, da waren meine Finger viel zarter als heute. Durch die Arbeit mit Leder sind meine Hände wesentlich muskulöser geworden.

Lederware und Arbeitsmaterial vom Feinsten – Christina Roth bei der Arbeit
© Chris Perkles

Ich bin grundsätzlich sehr ehrgeizig. Und deshalb will ich handwerklich die Beste der Welt werden.

Maurerin statt Architektin

Gleichzeitig – und auch das fasziniert Christina Roth – verlangen edle Lederwaren sehr viel Gefühl und ein sehr gutes Auge: „Eine Geldbörse besteht aus rund 20 Teilen und alle sind unterschiedlich dick. Wenn wir Leder spalten, bewegen wir uns im Bereich von Zehntelmillimetern. Damit das Produkt am Ende schön in der Hand liegt, muss ich sehr präzise arbeiten.“

Ein Großteil ihrer Werke sind Auftragsarbeiten: „Ich muss gestehen, dass ich selbst keinen großen kreativen Anspruch habe und nicht zwingend jeden Tag irgendetwas Neues designen muss. Kreativ bin ich vor allem in der Wahl meiner Techniken: Wie kann ich Wünsche meiner Kundinnen und Kunden am besten umsetzen? Wenn man so will, dann bin ich eher eine Maurerin, die das Haus aufzieht, und weniger die Architektin, die dieses Haus plant …“

Ein Ort atmet Geschichte

Christina Roth hat ihren Betrieb 2019 an einer prominenten Adresse eröffnet: in der Getreidegasse, mitten in der Salzburger Altstadt, in einem mehr als 500 Jahre alten Gebäude; das elegante Stiegenhaus ist mit edlem Marmor verkleidet. Im Erdgeschoss ist jener Schmiedebetrieb beheimatet, der seit Generationen die berühmten schmiedeeisernen Zunftzeichen in Salzburgs exklusivster Fußgängerzone herstellt.

Natürlich war die Location gerade am Anfang eine zusätzliche finanzielle Bürde, sagt Christina Roth: „Aber man muss dem Handwerk und seiner großen Tradition Respekt zollen. Außerdem ist es für mich selbst ein viel schöneres Gefühl, jeden Morgen durch dieses geschichtsträchtige Gassengewirr zur Arbeit zu gehen, als irgendwo in einem gesichtslosen 70er-Jahre-Bau neben irgendeiner dreispurigen Straße zu sitzen.“

Einfach nur stolz

Für ihren Traum war – und ist – Christina Roth bereit, große Mühen und Strapazen auf sich zu nehmen. Um ihr Gewerbe überhaupt anmelden und ausüben zu dürfen, absolvierte sie im niederösterreichischen Lilienfeld die Berufsschule: „Ich musste mir die Ausbildung selbst finanzieren, konnte aber nebenbei nicht viel arbeiten.“

Auch der Aufbau der Werkstatt war von entbehrungsreichen Versuchen und Irrtümern begleitet: „Natürlich braucht man Werkzeug und gewisse Maschinen. Wenn du dir einen Hammer kaufst und dann draufkommst, dass es doch nicht der richtige ist, hast du halt 35 Euro in den Sand gesetzt. Aber wenn du dir eine Spaltmaschine um 7.000 Euro kaufst, fünf Monate darauf wartest, die Stromleitungen umbauen musst – und dann draufkommst, dass dieses 250 Kilo schwere Trumm doch nicht so funktioniert, wie du es dir erwartet hast, ist das sehr frustrierend.“

Dazu kam speziell in den ersten Jahren die Unzufriedenheit mit den eigenen Fähigkeiten, sagt Christina Roth: „Du hast ein Bild im Kopf und weißt theoretisch genau, was du machen müsstest. Aber deine Hände schaffen es einfach nicht, diese Ideen umzusetzen.“ Umso schöner ist das Gefühl, wenn ein Projekt schlussendlich doch perfekt gelingt – wie zuletzt der eigenhändige Nachbau einer legendären Birkin Bag aus dem Hause Hermès: „Sie ist nicht für den Verkauf gedacht. Ich wollte nur wissen, ob ich es technisch kann. In solchen Momenten vergisst man all die Opfer, die man bringen musste, und ist einfach nur stolz.“

Das Handwerk darf nicht aussterben

Christina Roth gibt ihre Begeisterung für traditionelles – und traditionsreiches – Handwerk mit großer Leidenschaft weiter. Und das nicht nur, weil es ihr Freude macht, ihr Wissen weiterzuvermitteln, sondern auch aus einem ideellen Ansatz: „Wir müssen alle in die Gesamtentwicklung dieses Kulturguts einzahlen. Wenn jeder nur auf sich schaut, wird das Handwerk nämlich irgendwann aussterben.“

Ihr Lehrling Carolina ist aktuell tatsächlich eine von nur zwei angehenden Ledergalanteriewarenerzeuger*innen in ganz Österreich: „Ich war damals sogar die einzige in meinem Jahrgang. Das hat mir schon damals zu denken gegeben: Wenn nur ein oder zwei Menschen von acht Millionen im Land diesen Beruf erlernen wollen, dann muss irgendjemand zeigen, wie schön dieser Beruf ist.“

Diese Rolle übernimmt sie nicht nur, indem sie ihren Arbeitsalltag immer wieder auf ihren Social-Media-Kanälen dokumentiert, sondern auch mit Online-Kursen oder Workshops direkt in ihrer Werkstatt: „Und zuletzt war ich deshalb wieder einmal für eine Woche in den Niederlanden. Ich liebe es ganz einfach, mein Wissen und meine Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen, die sich fürs Handwerk begeistern.“

Lederware und Arbeitsmaterial vom Feinsten – Christina Roth bei der Arbeit
© Chris Perkles

Wir alle tragen Verantwortung

Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema in Christina Roths Philosophie – bei der Herkunft des Leders aus dem EU-Raum ebenso wie bei den Gerbmethoden: „Ich achte darauf, dass das Leder möglichst chromfrei und im Optimalfall rein pflanzlich gegerbt wurde. Du spürst einfach den Unterschied, ob Leder chemisch in zwei Stunden in einer riesigen Trommel gegerbt wurde oder langsam und schonend, so wie früher.“

Es sind diese Details, die ihre Arbeit von Massenware unterscheiden, sagt Christina Roth, die sich große Gedanken über die Zukunft des Handwerks ganz allgemein macht: „Wir müssen Nischen finden und Dinge tun, die Maschinen nicht können. Wir dürfen nicht schnell und billig produzieren, sondern müssen mit den aufwendigsten Techniken und den allerbesten Materialien arbeiten. Und wir müssen unsere ganze Liebe und Energie in unsere Produkte stecken.“

Lederwaren können zudem repariert und restauriert werden (ein wichtiger Teil von Christina Roths Geschäftsmodell): „Mir ist bewusst, dass Lederverarbeitung per se nicht das Allerbeste fürs Tierwohl ist. Aber wenn ich hundert Jahre alte Taschen zum Restaurieren bekomme und sehe, in welch gutem Zustand das Material immer noch ist, dann ist das doch ein Beweis für nachhaltige Qualität.“ Und natürlich liegt es in unser aller Verantwortung, beim Shopping bewusste Entscheidungen zu treffen: „Ich kann mir 25 billige Plastikgürtel kaufen, die zwar vegan sind, aber nach kurzer Zeit kaputt gehen. Ich kann aber auch in ein, zwei schöne Ledergürtel investieren, mit denen ich viele Jahre meine Freude hab’ …“

Es geht voran

Christina Roth blickt der Zukunft motiviert und voller Ideen entgegen. Ihr Betrieb soll weiter wachsen und das Angebot erweitert werden. Ein Webshop ist gerade in Planung, außerdem wälzt die Steirerin den Gedanken, mit ihrer Werkstatt in die alte Heimat zurückzukehren und in Salzburg ein Showatelier mit Verkaufsfläche zu eröffnen. Die Rückkehr in die Steiermark wäre aber kein Schritt zurück. Im Gegenteil: „Ich mache einfach Dinge, die ich mag und die mir guttun.“

Christina Roth, 36, ist Ledergalanteriewarenherstellerin und führt in der Salzburger Altstadt ihre CR Lederwerkstatt, wo sie nicht nur exklusive Einzelstücke herstellt, sondern auch alte Lederprodukte restauriert und repariert. Ihr Wissen gibt die gebürtige Steirerin gern an andere handwerksbegeisterte Menschen weiter.

Christina Roth

Kurze Nächte im „neuen Norden“ Tallinn

Am „Raekoja plats“, dem Rathausplatz von Tallinn, reihen sich die Cafés mit Gastgärten rund um das mittelalterliche Ensemble. Die Pflastersteine der Stadt zeugen von einer alten Geschichte. Schon im Mittelalter war Tallinn als Hansestadt wichtiger Handels- und Knotenpunkt. Heute ist die estnische Hauptstadt einmal mehr im Fokus internationaler Beziehungen.

Am Nebentisch spricht ein älterer britischer Soldat, schon ein paar Guinness intus, über Kampferfahrungen aus früheren Zeiten. Über der Stadt fliegen NATO-Helikopter Richtung russischer Grenze. Der nördlichste der drei baltischen Staaten mit nur knapp 1,5 Millionen Einwohner*innen ist auch Schauplatz der neuen Konfliktlinie zwischen Russland und dem Westen. Obwohl diese Gegebenheiten präsent sind, könnte man sie im Herzen der Altstadt fast vergessen. Denn die „am besten erhaltene mittelalterliche Altstadt“ mit UNESCO-Gütesiegel wirkt an manchen Ecken tatsächlich wie die Kulisse aus einem Märchen- oder Fantasyfilm. Von den Aussichtsplattformen hoch über der Stadt sieht man in der Architektur gut die verschiedenen Einflüsse auf Land und Stadt. Die Handelshäuser der vergangenen Hansestadt, die realsozialistischen Betonmonumente der Sowjetzeit und viele skandinavisch anmutende Bauten mit Ziegelsteinen und Holzdächern. Doch eines der zentralen Kernelemente des jüngeren Estlands drückt sich nicht unbedingt durch die Architektur und Analoges aus (von ein paar verstreuten Glashochhäusern abgesehen).

Der mittelalterliche Rathausplatz mit Cafes und Schanigaerten in Tallinn
Der mittelalterliche Rathausplatz mit Cafés und Schanigärten © Fergus Sweeney

Digitale Pionierarbeit

In den letzten Jahren hat sich Estland zum digitalen Pionier entwickelt. Als kleines Land setzte man schon früh voll auf die Digitalisierung in sämtlichen Gesellschaftsbereichen. Bei Amtswegen von der Hochzeit bis zur Firmengründung. Aber auch im öffentlichen Nahverkehr, den Restaurants und beim Einchecken im Hotel wird alles digital und sehr unkompliziert gehandhabt. Und viele der Möglichkeiten sind auch für Tourist*innen verfügbar. Mit der sogenannten e-residency kann man auf der ganzen Welt um ein paar hundert Euro einen virtuellen Wohnsitz in Estland beantragen, die Bestätigung zum Abholen gibt es dann bei der estnischen Botschaft/dem Konsulat ein paar Tage später. Besonders gerne genutzt wird die e-residency natürlich zur Firmengründung, nicht nur für globale Unternehmen, die eine virtuelle Niederlassung in der EU wollen, sondern auch von vielen europäischen, etwa aus Deutschland, die den vergleichsweise schnellen und unbürokratischen Ablauf schätzen.

Über 105.000 e-residents aus 176 Ländern gibt es, diese haben in den letzten Jahren über 27.000 Firmen gegründet.
Durch das Programm und andere verschiedene digitale Initiativen der letzten Jahre wurde ein Ökosystem geschaffen, das Firmen wie den Uber-Konkurrenten Bolt, mittlerweile ein globales Milliardenunternehmen, hervorgebracht hat. Menschen aus der ganzen Welt gründen hier nicht nur ihre Firma, sondern sind auch immer öfter physisch vor Ort. Gleichzeitig gibt es rege internationale Austauschprogramme für Student*innen, die der Stadt (460.000 Einwohner*innen) ein kosmopolitisches Flair geben.

Am Rand der Altstadt findet sich moderne Street Art in Tallinn
Am Rand der Altstadt findet sich moderne Street Art © Fergus Sweeney

Saunas und Startups

Ein Fixpunkt der neuen digitalen Szene ist das Latitude 59 Festival, das Ende Mai zum 12. Mal auf einem ehemaligen Fabrikgelände in der Nähe des Tallinner Hafens stattfindet. Zusätzlich werden, verteilt auf die Stadt, mehrere Side-Events geboten. Investor*innen, Startups und Expert*innen aus der ganzen Welt kommen hier für drei Tage zusammen, um sich auszutauschen und die Zukunft auszuloten. Das passiert nicht nur in klassischen Event-Räumen, sondern auch in Örtlichkeiten wie dem Sauna-Treffpunkt Iglupark, wo man direkt von der Schwitzhütte den Sprung ins Baltische Meer zur Abkühlung nehmen kann.

„Wir haben hier im Baltikum eine besondere Situation. Die Grenzen, die wir aus der jüngeren Geschichte gewohnt waren, gelten nicht mehr. Das Baltikum hat, auch historisch, so viele Gemeinsamkeiten mit den skandinavischen Ländern“, erzählt Vincent Weir im Rahmen des Festivals. Der junge Amerikaner ist über mehrere Umwege aus Texas in Stockholm gelandet. Dort hat er mehrere Funktionen bei Fonds und Netzwerken und ist im ständigen Austausch mit baltischen Startups und Entscheidungsträger*innen. „Ich spreche daher gerne von den New Nordics, die sich vor allem durch Kooperation und Innovation auszeichnen. Dazu kommt eine Prise gesundes Wettbewerbsdenken und der Wunsch, die Herausforderungen der Gesellschaft bezüglich Lebensqualität, sozialen Standards und Nachhaltigkeit zu meistern“, so Weir. Diesen Zugang teilen viele der Festival-Gäste, die estnischen ebenso wie die angereisten.

Abkühlen und Sonnen im Baltischen Meer nach dem Saunagang im Iglupark in Tallinn
Abkühlen und Sonnen im Baltischen Meer nach dem Saunagang im Iglupark © Fergus Sweeney

In den letzten Jahren hat sich Estland zum digitalen Pionier entwickelt. Als kleines Land setzte man schon früh voll auf die Digitalisierung in sämtlichen Gesellschaftsbereichen.

Bunte Farben und AI-Visuals bei einer Afterparty des Latitude 59 Festival in Tallinn
Bunte Farben und AI-Visuals bei einer Afterparty des Latitude 59 Festival © Fergus Sweeney

Die Stadt im Kreislauf

Diesen Mindset findet man nicht nur im Rahmen des Festivals, wo es keine Wegwerfbecher und Verpackungen gibt, sondern auch an anderen Orten in der Stadt. So gibt es beispielsweise an jedem Mülleimer eigene Recycling-Fächer, generell wird die Kreislaufwirtschaft hier großgeschrieben. Zahlreiche Pilotprojekte testen, etwa im Bereich der Logistik, emissionsfreie Alternativen zum Status quo. Auch in der lokalen Wirtschaft ist der Nachhaltigkeitsgedanke stark verankert. Etwa im Restaurant Rataskaevu 16, wo von einem jungen Team frische regionale Zutaten aus dem Meer und dem waldreichen Umland mit frischem Brot serviert werden. Qualität, Preis-Leistungs-Verhältnis und die kulinarische Vielfalt der Stadt überzeugen.

Aufgrund der verhältnismäßig hohen Lage kommt in den Sommermonaten hinzu, dass die Sonne gefühlt kaum untergeht, auch nach 22 Uhr scheint sie noch und ist bereits um 4 Uhr in der Früh wieder da – kurze Nächte sind also vorprogrammiert. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Gemüt der Menschen und sorgt für jede Menge Energie. Im Gespräch mit der lokalen Bevölkerung hört man allerdings durchaus durch, dass es in den Wintermonaten genau umgekehrt ist. Daher werden die Sommermonate besonders genossen.

Von Wien aus fliegt Ryanair 2x wöchentlich direkt nach Tallinn, ansonsten gibt es Flüge über Riga oder Helsinki (mit der Fähre nur 2 Stunden entfernt, mehrere Verbindungen täglich).

Zahlungsmittel ist seit 2011 der Euro. Zahlreiche Hotels befinden sich in der mittelalterlichen Altstadt oder rund um den Hafen.

Der öffentliche Verkehr ist bestens ausgebaut (auch zum Flughafen), die meisten Sehenswürdigkeiten sind fußläufig erreichbar, zusätzlich gibt es den Fahrtendienst Bolt (mit dem auch Räder und Roller ausgeliehen werden können) und klassische Taxis.

Visit Tallinn