Schon einmal von Pomologie gehört? Hinter dem Wort, das es eher selten in den alltäglichen Sprachgebrauch schafft, steckt ein wichtiges Handwerk, das in Sachen Biodiversität nicht wegzudenken ist: die Lehre vom Obst. Und genau dieser haben sich zwei junge Idealist*innen im Süden Österreichs verschrieben, mit einem Projekt, das nicht nur uralte Sorten vor dem Aussterben rettet, sondern auch unseren Geschmackssinn aufweckt.
Zurück zu den Wurzeln – im wahrsten Sinne
Es summt und brummt, wohin man auch geht. Bunte Blüten bilden Farbkleckse mitten im Gemüsebeet, auf den Wiesen tummeln sich die verschiedensten Arten von Fauna und Flora. Was in Zeiten perfekt geplanter Kunstrasenlandschaften und Schottergärten etwas wild und chaotisch wirkt, ist eigentlich ein perfektes System. Hier, oberhalb des Ortes Kötschach-Mauthen, mitten in der Kärntner Bergwelt auf knapp 1.000 Metern Seehöhe, bewirtschaften Eva Hinterbichler und Philipp Bodner ihre Obstbaumschule Fruchttrieb. Was hier noch so wächst? Über 200 fast vergessene Sorten von Äpfeln, Birnen, Marillen & Co., die so wohl kaum noch jemand kennt – geschweige denn im Supermarkt findet. Die Apfelsorte „Siebenschläfer“, die auch „Faulenzer“ genannt wird, zum Beispiel. „Schneiders Späte Knorpelkirsche“ und „Blumenbachs Butterbirne“. Oder die „Znaimer Ananas“, die eigentlich eine Marille ist.
Doch es geht hier nicht nur um lustige Namen und Nostalgie. Viele dieser alten Sorten sind deutlich bekömmlicher – sogar für Allergiker*innen geeignet – aromatischer und resistenter gegenüber Schädlingen. Perfekt gerüstet also, um den Problemen des Klimawandels zu trotzen. Sie brauchen auch noch weniger Chemie – was sowohl der Umwelt als auch unserer Gesundheit zugutekommt. „Im Supermarkt sehen wir nur einen Bruchteil des regionalen Obsts und Gemüses, das es bei uns eigentlich gibt. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir diese enorme Vielfalt verlieren, weil wir uns nicht damit beschäftigen“, sagt Eva Hinterbichler, während sie auf ihre Schatzkammer blickt. Ruhig ist es hier, keine Spur von Verkehrslärm oder anderen Anzeichen des Großstadtalltags. Statt Scrollen am Smartphone streifen Eva und Philipp lieber stundenlang durchs Grüne und vergraben ihre Hände in der Erde. Ein Gegenentwurf zur modernen Welt, den sie sich gerade deshalb bewusst ausgesucht haben.
Streuobstwiesen statt Streaming
„Unsere Baumschule ist für uns die Gegenbewegung zu Großstadtstress, Social Media und Co. Es ist wie Meditation, wenn man stundenlang hier im Garten werkelt“, sagen Eva und Philipp unisono. Was nach entspanntem Zen-Lifestyle klingt, ist allerdings auch harte Arbeit. Denn: Beide haben noch Brotjobs, mit denen sie ihre Baumschule finanzieren. Ihre Freizeit verbringen sie damit, durch Täler und Berghänge zu reisen, immer auf der Suche nach alten Obstsorten. „Wir wissen von Obstbäumen, die wahrscheinlich nur noch in einem einzigen Garten einer alten Bäuerin existieren und sonst nirgends mehr!“, berichtet Philipp. Das Ziel von Fruchttrieb: Diese Sorten erhalten, vermehren und zurück in unsere Gärten bringen. Jede*r kann sich hier informieren und ein rares Stück mit nach Hause nehmen – passende Tipps zur Pflege inklusive. So sollen Streuobstwiesen in unserer Natur und auch im eigenen Garten wieder zum Alltag gehören, nicht nur in kitschigen Instagram-Feeds. Das erfordert allerdings Geduld und es dauert Jahre, bis man die ersten Früchte überhaupt ernten kann. Aber wie heißt es so schön: Für echte Nachhaltigkeit muss man Bäume pflanzen, in deren Schatten man nie sitzen wird.

Slow Food: Der Konter zum Fast Food-Hype
Der Gedanke hinter Fruchttrieb ist eng verknüpft mit der weltweiten Slow Food-Bewegung, eine Art Gegenrevolution zum schnellen, standardisierten Essen. Angefangen hat alles 1986 in Rom, als Aktivist*innen rund um Journalist Carlo Petrini demonstrativ Spaghetti aßen, um gegen die Eröffnung der ersten McDonald’s-Filiale in Italien zu protestieren. Den Siegeszug von Fast Food-Ketten konnte man offensichtlich nicht stoppen. Aber ein Jahr später gründete Petrini offiziell die Non-Profit-Organisation Slow Food, die heute über 100.000 Mitglieder in mehr als 150 Ländern zählt. Die Grundidee ist nach wie vor dieselbe: Lebensmittel sollen gut, sauber und fair sein. Also: köstlich schmecken, umweltfreundlich hergestellt werden und Produzent*innen gerecht entlohnen.
In Kärnten geht man sogar noch einen Schritt weiter: Im Gail-, Gitsch- und Lesachtal sowie am Weissensee findet man die weltweit erste Slow Food Travel Region. Besucher*innen wohnen bei lokalen Gastgeber*innen, lernen Produzent*innen kennen und dürfen in Workshops selbst Hand anlegen. Wer hier urlaubt, nimmt also mehr mit nach Hause als nur ein paar Insta-Stories.
Comeback der Kletzenbirne
Ein Paradebeispiel für die Arbeit von Eva und Philipp für die Slow Food-Bewegung ist die Kletzenbirne. Diese kleine, nährstoffreiche Frucht war früher fixer Bestandteil der Streuobstwiesen im Dreiländereck Kärnten–Friaul–Slowenien. Manche kennen sie vielleicht auch noch als Snack, den die Großeltern gerne in der Weihnachtszeit aßen. Tatsächlich ist sie heute fast aus unserer Kulturlandschaft verschwunden. Philipp war maßgeblich daran beteiligt, dass die Kletzenbirne von Slow Food als „besonders schützenswert“ ausgezeichnet wurde. Der schlichte Grund für ihren Rückzug: Sie ist unpraktisch. Man muss warten, bis sie von selbst vom Baum fällt – unreife Exemplare taugen weder zur Lagerung noch zum Frischverzehr. Also dörrt man sie oder destilliert sie. Das ist mühsam und viele der alten Bäume werden heute gefällt, weil das Holz lukrativer ist als die Frucht selbst. „Wo früher pro Hof mehrere Kletzenbirnbäume zu finden waren, steht heute meist nur mehr einer“, erzählt Philipp. Gemeinsam mit Eva setzt er dem etwas entgegen: Sie ziehen junge Bäume nach, schneiden alte fachgerecht zurück und wollen den Menschen zeigen, wie viel regionale Vielfalt tatsächlich möglich ist – jenseits der drei gängigen Apfelsorten aus dem Supermarkt.

Im Supermarkt sehen wir nur einen Bruchteil des regionalen Obsts und Gemüses, das es bei uns eigentlich gibt. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir diese enorme Vielfalt verlieren, weil wir uns nicht damit beschäftigen.
Zukunft pflanzen – Baum für Baum
Mit Fruchttrieb leben die Millennials Eva und Philipp die Slow Food-Philosophie mit jeder Wurzel, jedem Trieb, jedem gepflanzten Baum. Sie zeigen: Nachhaltigkeit kann mehr als Verzicht. Sie kann auch wunderbar schmecken, Geschichte erzählen und unsere Zukunft bunter und wortwörtlich bekömmlicher machen, nicht nur kulinarisch gesehen. Die beiden Obstbaumzüchter*innen leben für ihr Herzensprojekt und stecken mit ihrer Leidenschaft hoffentlich noch viele an.
Eva Hinterbichler und Philipp Bodner und ihre Obstbaumschule Fruchttrieb stehen für gelebte Leidenschaft und aktiven Artenschutz. In ihrer kleinen, biologischen Baumschule auf 1.000 Metern Seehöhe in Kärnten widmen sie sich dem Erhalt seltener, fast vergessener Apfel-, Birnen- und Marillensorten. Ihr Ziel ist es, die Biodiversität zu fördern, altes Obstwissen vor dem Vergessen zu bewahren und ein klares Zeichen gegen uniforme Massenware im Supermarkt zu setzen – ganz im Sinne der internationalen Slow Food-Bewegung.