Sie haben uns geschlagen. Gestern war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiß jetzt, was Pogrome sind, was Menschen tun können, die Ebenbilder Gottes. In der Schule sagte der Direktor, sie zünden Tempel an, verhaften, schlagen. Vor der Tür steht ein Lastauto, drei Professoren haben sie verhaftet. Dann werden wir nach der Reihe zum Telefon gerufen. Wie in einem Schlachthaus …“
Das ist ein kurzer Auszug aus Ruth Maiers Text, den sie am Freitag, den 11. November 1938, in ihr Tagebuch schrieb. Einen Tag zuvor hatte die Wienerin ihren 18. Geburtstag. Wenige Monate später gelingt es ihr, nach Norwegen zu emigrieren. Doch auch dieses Land wird von den Nazis besetzt, sie wird deportiert.
Ihre Texte gelten heute als bemerkenswert reflektiert, der norwegische Autor Jan Erik Vold hob 2007 ihren literarischen Schatz. 2020 wurde Es wartet doch so viel auf mich … auf Deutsch im Mandelbaum Verlag herausgegeben; das Werk beinhaltet Texte aus ihren Tagebüchern und Briefen.
„Es berührt ganz tief, den Bericht einer Augenzeugin zu lesen“, sagt Schauspielerin Claudia Kottal, die wir am Wiener Naschmarkt zum Interview treffen. „Sie beschreibt Plätze in Wien, die wir kennen, über die wir heute gehen.“ Sie wollte für eine bessere Welt kämpfen und sie wollte Kinder gebären, auch das schrieb Ruth Maier einmal. Die Chance, Mutter werden zu können, wurde ihr mit 22 Jahren genommen: Sie wurde im KZ Auschwitz ermordet.
„Ich bin irgendwann in der Früh aufgewacht und hatte diesen Titel im Kopf: ‚Ich bin Ruth‘. Er erzählt, dass es uns allen hätte passieren können oder uns auch heute passieren könnte“, beschreibt die Schauspielerin. Die durchaus inspirierende Scheiß-mir-nix-Attitüde der Sandra Tichy, die Claudia Kottal in der ORF-Serie Biester spielt, weicht im Interview einer feinfühligen Künstlerin, die sich im Wortsinn politisch engagieren will. Gegen Gewalt an Frauen, gegen Mobbing und Diskriminierung – und mit der Theaterproduktion „Ich bin Ruth“, die sie mit ihrer Frau Anna Kramer und der gemeinsamen Freundin Suse Lichtenberger auf die Beine stellt.
Die ausverkaufte Premiere ging am 17. September über die Bühne, bis 3. Oktober ist das Stück noch in der Wiener Semmelweisklinik zu sehen. Wir haben mit Claudia Kottal vor der Premiere gesprochen …
Claudia Kottal: Uns ging es genauso! Meine Frau und ich haben im DÖW, im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, zum Thema Homosexualität im Nationalsozialismus recherchiert; eine ganz tolle Mitarbeiterin dort hat uns auf sie aufmerksam gemacht. Das DÖW hatte sogar eine Wanderausstellung über sie gemacht, es gibt auch eine ORF-Dokumentation, aber die wenigsten kennen Ruth Maier. Das liegt auch daran, dass ihre Texte erst 2007 zunächst auf Norwegisch und noch später auf Deutsch veröffentlicht wurden. Wir haben ihr Buch zu lesen begonnen – und sofort beschlossen, daraus etwas zu machen. Man fühlt sich in die Zeit zurückversetzt, ihre Tagebucheinträge berühren sehr; auch die Briefe, die sie an ihre jüngere Schwester geschrieben hat. Sie hat es noch mit dem ersten Kindertransport nach England geschafft und überlebte.
Wir drei Schauspielerinnen erarbeiten das im Kollektiv, ohne Regie „von außen“. Wir haben uns zunächst in einem sehr langwierigen Prozess herausgefiltert, welche Passagen wir verwenden; auf der Bühne sind wir dann alle drei Ruth. Wir sprechen und spielen ausschließlich ihre Texte und sagen bewusst nichts, was nicht sie geschrieben hat. Infotexte, Bilder – Fotos und Zeichnungen von ihr – werden auf die Wand projiziert, dafür haben wir zwei ganz tolle junge Bühnenbildnerinnen gefunden: Hannah Berki und Monika Kovačević.
Wir wollten das unbedingt an einem nicht klassischen Theaterort umsetzen. Dann sind wir auf die Semmelweisklinik gestoßen, die heute Künstler*innen für Ateliers und Performances nutzen. Ein Theaterstück wurde dort noch nicht aufgeführt. Wir müssen also Podeste bauen, die Sesseln reinbringen …
Ja, aber es wird magisch! Wir spielen in der ehemaligen Waschküche, das ist ein riesengroßer, denkmalgeschützter Raum. Und: Wir sind draufgekommen, dass Ruth Maier in derselben Straße gelebt hat. Wenn man eine Station früher aus der Straßenbahn steigt, geht man an ihrem Haus vorbei (Hockegasse 2).
Ich bin irgendwann in der Früh aufgewacht und hatte diesen Titel im Kopf „Ich bin Ruth“. Er erzählt, dass es uns allen hätte passieren können oder uns auch heute passieren könnte.
Wir haben kürzlich das erste Mal einen Song für Pratersterne gespielt, das erste Konzert haben wir erst am 11. Jänner 2025 im Wiener Stadtsaal. Als sie mich gefragt haben, habe ich gesagt: Ich kann das nicht, ich bin keine Musikerin. Ich habe zwar lange Klavier gespielt, aber ich bin tausend Mal mehr nervös, wenn ich Klavier spielen muss, als reden auf der Bühne (lacht).
Ja, mehrfach, und wir sind auch sehr gut befreundet. Wir haben zum Beispiel 2019 für das Kosmos Theater „Jetzt müssen wir auf morgen warten“ (Regie: Amina Gusner) und 2020, während der Pandemie die Webcomedy „Die Massnahme“ gemeinsam gemacht.
Heute dieses Stück zu machen, während es Kriege gibt und die Bedrohung für uns höher ist als jemals zuvor, seit ich auf der Welt bin, ist doppelt so arg. Wir fragen uns ständig: Wie konnte das alles passieren? Wie konnte der Antisemitismus so stark werden?
Ruth Maier war ein sehr politischer Mensch, sie hat die Situation klug analysiert – und wir finden Parallelen zu heute. Sie schreibt beispielsweise darüber, dass die Regierung die Verantwortung nicht übernimmt und versucht, den Leuten die Schuld an der Wirtschaftskrise unterzujubeln.
Ich denke gerade an die kürzlich ermordete Olympia-Marathonläuferin Rebecca Cheptegei, ein Femizid. Es erschreckt mich, in welchem Ausmaß Gewalt an Frauen vor allem von ihren Partnern verübt wird. Ob wir es jemals schaffen, etwas dagegen zu unternehmen? – Dafür muss sich gesellschaftlich einiges verändern.
Mobbing ist für mich ein wichtiges Thema, weil ich das als Kind erlebt habe. War ich zu lieb oder habe ich zu sehr aus der Reihe getanzt? Einmal wurde ich in einem Sommercamp gefesselt und in eine Pferdebox gesperrt. Das Auslachen hat sich irgendwie durch die Schuljahre durchgezogen. Ich glaube, heute gibt es ein höheres Bewusstsein dafür. Natürlich hat die junge Generation auch ihre Schwierigkeiten, aber ich bin begeistert, wie sie sich vielen Dingen offen oder gegen Dinge stellt. Ich war eher ängstlich, zurückhaltend, ich bin beeindruckt, wie selbstbewusst heute junge Frauen sind.
Ich bin mit 16 beim Schultheater auf der Bühne gestanden, obwohl ich sonst sehr schüchtern war – und mit 18 dachte ich mir: Ich probiere es einfach. Aber selbst auf der Schauspielschule blieb das Schüchternsein zunächst und die Selbstzweifel kommen immer wieder. Das könnte mit dem früheren Mobbing, mit der Angst, ausgelacht zu werden, zusammenhängen. Ich glaube, ich wollte mich überwinden, das war wohl ein Grund. Aber nicht der einzige! (lacht) Es war schon auch immer der Wunsch da, sich auszudrücken.
Ich liebe die Rolle wirklich sehr! Ich habe die ersten Zeilen vom Text gelesen und wollte sie unbedingt spielen. Es macht mir Spaß, dass sie sich so viel Raum nimmt, dass sie so ganz anders ist, als ich.
Es passieren viele unerwartete Wendungen, die Dynamik zwischen den jungen Girls verändert sich, und auch die Situation von Sandra und ihrem Mann … Es gibt für mich auch ein neues Fernsehprojekt, aber da darf ich noch nichts verraten. Jetzt bin ich zunächst einmal Ruth Maier.
Claudia Kottal wurde 1981 als Tochter einer Polin und eines Österreichers geboren und wuchs in Fischamend, Niederösterreich, auf. Ihre Schauspielausbildung machte sie am Konservatorium Wien. Sie spielte u. a. am Theater in der Josefstadt, Kosmos Theater, Theater der Jugend, im Dschungel Wien, bei den Wiener Festwochen und den Salzburger Festspielen. Claudia Kottal schrieb für das Wiener Theater Bronski & Grünberg „Vor dem Fliegen“ nach dem Roadmovie „Thelma & Louise“ und inszenierte es auch selbst. Vor der Kamera stand sie etwa für die ORF-Satire „Wir Staatskünstler“, den Kinofilm „Love Machine“ – und kürzlich für die zweite Staffel der TV-Serie „Biester“. Claudia Kottal ist mit Schauspielerin Anna Kramer verheiratet.
„Ich bin Ruth. Das kurze Leben der Ruth Maier“: Uraufführung. Premiere: 17. September 2024, 19.30 Uhr. Semmelweisklinik, Hockegasse 37, Haus 4, 1180 Wien. Weitere Vorstellungen: 18., 25.–29. September, 1.–3. Oktober, jeweils 19.30 Uhr. Dernière: 6. Oktober, Matinée um 11 Uhr (im Rahmen von Kunstfest Währing, inklusive Publikumsgespräch).
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