Der Ziachameister

Die Liebe zur Musik, erzählt Andreas Nöß, ist ihm praktisch in die Wiege gelegt worden. „Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt, dass meine Eltern Mitglieder einer Dreig’sang-Gruppe waren und zu Hause geprobt haben. Seit ich reden konnte, bin ich daneben gesessen und habe mit meiner Mama die erste Stimme mitgesungen.“ Seine eigentliche Bestimmung ist aber die Ziehharmonika, umgangssprachlich die „Ziach“. „Mich hat von Anfang an fasziniert, dass du gleichzeitig Melodie und Bass spielen kannst. Du brauchst niemanden sonst für eine g’scheite Musi‘.“

Dabei hat der 28-jährige Oberbayer durchaus ein großes Herz für harmonievolles Gruppengefüge – sei es früher mit dem punkig wilden Wamba Brass Club oder heute nebenbei mit seinen zünftigen Schreinerbuam. „Tatsächlich habe ich kurz mit dem Gedanken an eine Karriere als Profi-Musiker gespielt. Aber um mit den großen Kalibern mithalten zu können, hätte ich schon viel früher wesentlich intensiver üben müssen.“ Lieber wurde er Harmonikabauer – oder, wie es so schön im Amtsdeutsch heißt: Handzuginstrumentenmacher. „So kombiniere ich meine Begeisterung für die Musik mit der Leidenschaft fürs Handwerk und der Faszination für die Ziach.“

Portrait des Harmonikabauers Andreas Nöß auf dem Berg
© erlebe.bayern/Bernhard Huber

Instrumente statt Möbel

Andi stammt aus Steingaden, einem bayerischen Erholungsort mit rund 3.000 Einwohner*innen, in der Nähe von Schloss Neuschwanstein und unweit der Grenze zu Österreich. Einige Gipfel der Tannheimer Berge in Tirol sind bei klarem Wetter schön zu sehen. Volksmusik gehört hier – unbeschadet von jeglicher (österreichischer) Leitkultur-Debatte – zum guten Ton, zum Alltag. „Steingaden ist ein ruhiger Ort – aber es hat gut zehn Kneipen und Lokale, in denen immer was los ist. Außerdem hat es ein unglaublich aktives Vereinsleben. Egal, ob Musikverein, Trachtenverein, Fischereiverein oder Schützenverein, alle versuchen, die Jugend mit einzubinden.“

Gelernt hat Andi sein Handwerk beim traditionsreichen Harmonikabauer Öllerer in Freilassing, die Meisterprüfung hat er 2018 als Jahresbester abgelegt. Ehe er die Ausbildung beginnen durfte, absolvierte er auf Empfehlung seines Lehrherren noch eine Schreinerlehre (das bayrische Äquivalent zum österreichischen Tischler). „Das ist auch ein schöner Beruf. Aber ich baue lieber Musikinstrumente als Möbel.“ Seine Entscheidung, die Werkstatt dem Rampenlicht vorzuziehen, bereut er keinen Moment. „Ich bin so zufrieden mit meinem Leben, dass ich mit niemandem auf der Welt tauschen möchte, nicht einmal für einen Tag.“

Forscher Geist

Andi, der im Herbst zum zweiten Mal Vater wird, hat sich seine Werkstatt im Untergeschoß des Wohnhauses eingerichtet. Hier, in seinem knapp 20 Quadratmeter großen Reich, verbindet der Ziachameister volkstümliche Tradition mit moderner Technik, wobei er die Tradition des beliebten Volksmusikinstruments mit einem spitzbübischen Augenzwinkern betrachtet. „Schau, im Vergleich zur Geige oder zu diversen Blasinstrumenten steckt die Harmonika mit ihren knapp 200 Jahren ja quasi noch in den Kinderschuhen.“

Dementsprechend groß sind aus seiner Sicht die Verbesserungsmöglichkeiten, an denen er gemeinsam mit Hardi Schmid, dem Schreiner seines Vertrauens, tüftelt. „Wir schauen ganz genau, welche Wehwehchen dieses Instrument hat und wie wir sie in den Griff bekommen.“ Besonders intensiv haben sie sich zuletzt mit der komplexen Anordnung der einzelnen Tastenhebel im Inneren des Instruments befasst. „Wir haben eine neue Diskantmechanik entwickelt und zum Patent angemeldet.“ Wie die Verbesserung im Detail zustande kommt, kann und will Andi („Betriebsgeheimnis!“) nicht erklären. Nur so viel: „Von außen kannst du keinen Unterschied erkennen. Aber der Spieler/die Spielerin merkt, dass das Spielgefühl wesentlich geschmeidiger ist.“

Detailaufnahme einer steirischen Harmonika, die von Andreas Nöß gebaut wurde
© erlebe.bayern/Bernhard Huber

Klang nach Maß

2019 hat sich Andi, der neben der Ziach auch Gitarre und Posaune spielt, mit seinem Meisterbetrieb „Nöß Harmonikabau“ selbständig gemacht. Mit einem speziellen Angebot an maßgefertigten, sechs bis siebeneinhalb Kilo schweren „Ziacha“ (wie die Mehrzahl korrekterweise heißt). Wobei die Wahl des Holzes tatsächlich in erster Linie optischen Vorlieben folgt, weil die Tonerzeugung über die metallenen Stimmplatten im Inneren entsteht und nicht – wie etwa bei Geigen oder akustischen Gitarren – über den Korpus.

„Im Endeffekt“, verspricht der Instrumentenbauer, „können wir alles individualisieren, von den Tonarten über das Material der Knöpfe hin zur Balgfarbe und dem Muster der Tragegurten.“ Wobei das, wie er sagt, andere Ziach-Hersteller*innen natürlich ebenfalls anbieten. „Auf Wunsch kann ich aber auch die Mechanik des Instruments und damit den Tastendruck ganz individuell den Ansprüchen der Spieler anpassen. Und das Tremolo, also die Schwebung und damit das Klangbild von ganz flach bis richtig krachig, kannst du dir bei uns ebenfalls maßfertigen lassen.“

Was Andi, der sich auch mit dem Reparieren von Harmonikas regional einen guten Namen gemacht hat, hingegen nicht anbietet, sind Instrumente für Linkshänder*innen, wie er lachend hinzufügen möchte. „Wenn ich alles seitenverkehrt aufbauen müsste, wären die Fehlerquellen unüberschaubar. Da ist es wirklich g’scheiter, du lernst, wie ein Rechtshänder/eine Rechtshänderin zu spielen …“

Die erste Ziach für Stofferl Well

Die allererste Ziach aus dem Hause „Nöß Harmonikabau“ spielt übrigens eine (Volks-)Musiklegende, die weit über die bayerischen Grenzen hinaus bekannt ist. Christoph „Stofferl“ Well, jüngster der drei Well-Brüder, die schon unter dem Namen Biermösl Blosn Volksmusik mit satirischen Texten verbunden haben und immer noch gemeinsam mit Gerhard Polt (und manchmal mit dem Toten Hosen-Frontmann Campino) für urige und gleichzeitig ironische Stimmung sorgen. „Der Stofferl hat vor ein paar Jahren eine Sendung für den Bayerischen Rundfunk bei uns gedreht. Da ging es eigentlich um meine damalige Band, aber danach hat er sich sehr für meine Ziach interessiert und gesagt: „Wenn du dich dann einmal selbständig machst, dann baust du dein erstes Instrument für mich!“

Und das hat Andi gemacht. „Als es so weit war, habe ich ihn angerufen und ihn gefragt, ob sein Angebot noch steht, und er hat gesagt: „Logisch!“ Der Arbeit für Stofferl Well gingen – wie immer bei Maßanfertigungen – wichtige Gespräche voraus. „Er hat sich für eine kleine Ziach, eine Dreireiher entschieden, weil große Instrumente für ihn unhandlich sind. Gestimmt haben wir sie auf ein mittleres Tremolo, genauso wie er es haben wollte. Ich glaube, er dürfte recht zufrieden sein, zumindest habe ich bis heute keine Beschwerden von ihm gehört …“

Portrait des Harmonikabauers Andreas Nöß
© erlebe.bayern/Bernhard Huber

Ich bin so zufrieden mit meinem Leben, dass ich mit niemandem auf der Welt tauschen möchte, nicht einmal für einen Tag.

Qualität braucht Zeit

„Der Bau einer Ziach – pardon, eines Handzuginstruments – verlangt Geduld – ich baue jede Taste aus neun Einzelteilen zusammen –, eine ruhige Hand und ein ausgezeichnetes Gehör. Außerdem ein Verständnis, wie man so unterschiedliche Materialien wie Holz, Leder, Filz, Papier, Pappe und Metall optimal miteinander verbindet.“ Bis zu 150 Arbeitsstunden stecken in einer Nöß-Ziach. Pro Monat kann Andi im Schnitt ein Instrument fertigen. Dass diese handwerkliche Qualität ihren Preis hat, ist seinen Kund*innen bewusst und auch, dass sie mittlerweile gewisse Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. „Die nächsten eineinhalb Jahre bin ich jedenfalls schon gut ausgelastet.“

Grundlage seiner Unternehmensphilosophie ist, das Holz und dutzende weitere Einzelteile möglichst von lokalen oder regionalen Anbieter*innen zu beziehen. „Ich will nichts aus dem Internet bestellen, nur weil es irgendwo billiger produziert worden ist. Ich brauche persönliche Ansprechpartner*innen, die – genau wie ich – größten Wert auf Qualität legen.“

Zudem sorgt der Kontakt zu Metaller*innen, Holztandler*innen und Trachtenschneider*innen im engsten Umfeld ja auch wieder für gute Unterhaltung für die ganze Familie. „Die Balgschoner kann ich mit dem Rad abholen. Speziell für mich gefertigte Metallteile bringt meine Frau mit, wenn sie mit dem Buam spazieren geht, und die Riemen holt die Mama ab, wenn sie den Opa besuchen fährt.“ Und so klingt Andis Ziach so richtig nach dem echten Leben.

Andreas Nöß, Jahrgang 1995, baut zu Hause im bayerischen Steingaden Steirische Harmonikas, die allerdings ursprünglich in Wien erfunden wurden und ohne einen auch heute noch nachvollziehbaren Grund „Steirische“ genannt werden. Bei Andi heißen diese diatonischen, wechseltönigen Handzuginstrumente mit Knopf-Tastatur ohnehin „Ziach“.

Andreas Nöß Website / Facebook / Instagram

ESO: So muss Community!

Die Zahlen sind beeindruckend: Seit der Erstveröffentlichung im April 2014 hat ESO eine beeindruckende globale Community von über 24 Millionen Spieler*innen aufgebaut. Kurze Erklärung dazu: ESO ist ein MMORPG (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game), also ein Online Abenteuer in einer offenen Spielewelt. In der fiktiven Welt von Tamriel angesiedelt, spielt es etwa ein Jahrtausend vor den Ereignissen von „The Elder Scrolls V: Skyrim“, einem der bekanntesten und besten Spiele seiner Art. Das Besondere an ESO ist die Konsequenz, mit der der Entwickler ZeniMax Online regelmäßig Erweiterungen veröffentlicht. Darunter große jährliche Ergänzungen der Spielewelt wie „Morrowind“, „Summerset“, „Elsweyr“, „Greymoor“ und „Blackwood“, die jeweils neue Gebiete, Geschichten und Systeme oder die Einführung neuer Spieler*innenklassen bieten. Das jüngste Kapitel „Gold Road“ wurde dabei ebenfalls im Rahmen des Community Events in Amsterdam vorgestellt.

Attraktionen überall

Tausende Besucher*innen und mehr als 200 Medienmenschen (darunter nur zwei aus Österreich!) strömten zu dem zweitägigen Event. In der Eventlocation Sugar Factory zogen die Veranstalter*innen alle Register, um das typisch mittelalterliche fantastische Flair des Games wiederzugeben. Zusätzlich zu einer großen Bühne, auf der nebst Keynote von Game Director Matt Firor auch Paneldiskussionen, Showacts, ein Cosplay Wettbewerb und sogar ein Solo-Auftritt eines bekannten Band-Frontmanns (dazu später mehr) stattfanden, gab es jede Menge zu bestaunen. Ein unfassbar detailreiches Diorama zum Beispiel, Concept Art im Großformat, Foto Spots, eine mit zahlreichen Rechnern bestückte Anspielstation zum Testen von „Gold Road“ und vieles mehr. Gastro-Stationen reichten Zünftiges wie Chili oder Chicken und Getränke sowieso. In diversen kleinen Workshops konnten Interessierte die Kalligrafie des Games, Lederhandwerk oder das Mixen eines Tranks lernen. In einer Kampfarena gaben sich wackere Recken in voller, echter Rüstung ordentlich auf die Glocke, in der eigens eingerichteten chilligen Taverne gönnte man sich Ruhe vom Rummel.

Verkleidete Nerds am ESO Event 2024 in Amsterdam
© Markus Höller/funk tank

Halli Galli für die Community

„Rummel“ trifft es eigentlich ganz gut. Das ganze Event muss man sich wie einen Indoor-Themen-Kirtag vorstellen. Teilweise über den ganzen Globus verteilte Zocker*innen kamen hier mitunter erstmals im echten Leben zusammen. Es wurden Erfahrungen ausgetauscht und die teils aufwändigen, originalgetreu gefertigten Cosplay-Kostüme bewundert. Bewerbe vom Axtwurf bis zur Claw-Machine sorgten für Kurzweil, wertvolle Preise warteten außerdem. Nebenbei gab es immer wieder die Möglichkeit, an Round Tables mit den Entwickler*innen teilzunehmen oder Vorträgen zu spezifischen Eigenschaften und Perspektiven des Games zu lauschen. Und am ersten Abend der Veranstaltung bot zum Abschluss kein Geringerer als Matt Heafy, Chef der Band Trivium, ein Solo-Akustikset, denn die Band kollaborierte in der Vergangenheit mit dem Game. Dementsprechend begeistert war das Publikum. Eine launige Auswahl an Coversongs, u.a. von Elvis und Leonard Cohen, wechselte sich mit Trivium-Material ab. Eine Darbietung des „Peaches“ Songs aus Super Mario Bros wurde klarerweise von Game-Nerds ausgiebig gefeiert. Heafy stand am nächsten Tag trotz Jetlag und Verkühlung dann noch geduldig für ein Meet & Greet bereit, die Fans trugen teils beachtliche Mengen an Material zum Signieren heran.

Matt Heafy live am ESO Event 2024 in Amsterdam
Matt Heafy live am ESO Event 2024 in Amsterdam © Markus Höller/funk tank

Wohlfühl-Community

Man könnte jetzt denken, dass es bei einem derartigen Aufwand und entsprechend viel Programm hektisch, laut oder gedrängt zur Sache geht, aber weit gefehlt. Das heterogene, wenn auch typischerweise deutlich männerlastige Publikum deckt nicht nur praktisch alle Regionen der Welt, sondern auch alle Altersklassen ab. Vom grauhaarigen Altvorderen – wie mir – über die Berliner Influencerin und den Cosplayer aus den USA bis zum Jungzocker aus Linz vereint alle die Begeisterung für das Spiel. Dessen Stärke ist nämlich die Vielfalt der möglichen wählbaren Charaktere und Spielstile. Wie mich Game Director Matt Firor höchstselbst in einer Unterhaltung wissen ließ: „Wir haben Spieler*innen, die jedes Jahr im Juni das neue Kapitel installieren und zwei Wochen lang spielen und ein weiteres Jahr lang nicht zurückkommen. Und dann spielen sie das neue Kapitel. OK! Das ist eine vollkommen akzeptable Art, ESO zu spielen. Wir haben Spieler*innen, die seit zehn Jahren spielen und keine neuen Kapitel haben. Sie spielen einfach das Basisspiel und PvP und Housing. Wissen Sie, ich habe das schon hundert Mal gesagt: Wenn Sie fünf ESO-Spieler*innen bitten, ESO zu beschreiben, werden Sie fünf verschiedene Spiele hören, weil die Leute es einfach unterschiedlich erleben.“ Alles kann, nichts muss sowohl in der virtuellen Spielewelt als auch beim Live-Event der Community sein.

Das Publikum beim ESO Event in Amsterdam im April 2024
© Markus Höller/funk tank

Alles kann, nichts muss sowohl in der virtuellen Spielewelt als auch beim Live-Event der Community sein.

Grand Tour

Die äußerst sympathische und unterhaltsame Veranstaltung in Amsterdam war erst der Auftakt zu einer 15-monatigen Reihe. Diese Feierlichkeiten finden nicht nur in realweltlichen Veranstaltungen statt, sondern auch in der Online Welt von Tamriel. Es wird in-game Aktivitäten und Herausforderungen geben, die es den Spieler*innen ermöglichen, spezielle Jubiläumsbelohnungen zu verdienen. Diese Events sind so gestaltet, dass sie sowohl neue Spieler*innen als auch Veteran*innen ansprechen. Ein besonderes Highlight der Feierlichkeiten ist eine Sonderausgabe des traditionellen „ESO Tavern“ Events, das am 13. und 14. Juli 2024 in Deutschland stattfinden wird. Wer Amsterdam verpasst hat oder wem Schweden, USA, Japan oder Australien zu weit weg sind, hat die Möglichkeit, hier ähnlich aufregend in die Welt von ESO einzutauchen. Es lohnt sich!

„Gold Road“ ist die neueste Erweiterung zum populären Online-Rollenspiel „The Elder Scrolls Online“ (ESO) von Entwickler ZeniMax Online Studios. Publisher Bethesda Softworks veröffentlicht diesen neuen Teil als Standalone-Version oder Add-On am 3. Juni 2024 für PC/Mac sowie später am 18. Juni 2024 für Xbox and PlayStation Konsolen.

10 Jahre „The Elder Scrolls Online“

Die Zukunft und das Wohnen

Alles, was erfunden werden kann, wurde bereits erfunden.“
„Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt.“
Die beiden charmanten Zitate waren kürzlich Teil einer fesselnden Keynote Speech der Zukunftsforscherin Christiane Varga, der Bund Österreichischer Innenarchitektur (BÖIA) hatte sie eingeladen.
Von wem sie stammen? Der Herr, der meinte, alle Innovation gebe es bereits auf Erden, war Charles Duell, Chef des amerikanischen Patentamts. Die offensichtlich falsche Einschätzung traf er vor mehr als 120 Jahren. Thomas Watson, seines Zeichens IBM-Geschäftsführer, war der Schöpfer der heute geradezu absurd klingenden Prognose, fünf Computer würden reichen.
Wir schmunzeln. Doch die beiden Herren tappten in die Falle, in die war allesamt stolpern, wenn wir nicht bewusst unseren Horizont laufend erweitern. Christiane Varga führt weiter aus: „Wir neigen dazu, in der Gegenwart Dinge aus der Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Wenn wir zu linear denken, machen wir Fehlprognosen.“ Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir zwar einen Bereich im Kopf haben, in dem der Fokus auf Kreativität und Potenzialentfaltung liegt und wie eine Zukunftsmaschine fungiert, aber eben auch einen anderen, in dem das Hirn, sprich der Kopf, lieber Energie sparen und sich nicht mit Dingen auseinandersetzen möchte, die es noch nicht kennt. Der „Zukunftsvermeider“ verführt uns sozusagen zum Tunnelblick, „und das ist in Zeiten, in denen die Dinge so komplex sind, fatal“, sagt Christiane Varga.

Neugierig bleiben

Straußengleich den Kopf in den Sand zu stecken, vertreibt unsere Vorbehalte gegenüber der künstlichen Intelligenz (KI) logischerweise nicht. Die KI generell zu verteufeln, sie nehme uns unsere Jobs weg, wäre quasi linear gedacht. „Es stimmt, es werden schon jetzt bestimmte Tätigkeitsbereiche ersetzt. Ich glaube aber vielmehr: Menschen werden nicht durch die KI ersetzt, sondern durch Menschen, die sich damit auskennen.“
Die gute Nachricht ist: Um vorfreudig in die Zukunft zu blicken, braucht es etwas Urmenschliches – und zwar das sogenannte divergente Denken. „Es bedeutet, unser Gehirn vernetzt zu nutzen und abseits ausgetretener Pfade zu denken. Das divergente Denken ist kein Synonym für Kreativität, sondern die Voraussetzung dafür“, erklärt die Zukunftsforscherin. Das Erstaunliche dabei ist, dass vor allem Kindergartenkinder als divergente Genies gelten. Ein Experiment veranschaulicht das schön. Die Frage war: Wozu kann man eine Büroklammer benutzen? – Mehr als 100 Antworten galten dabei als herausragend. „Dies erreichen 98 Prozent der Kindergartenkinder, immerhin 32 Prozent bei den Zehnjährigen, nur mehr 12 Prozent bei den 15-Jährigen und ganze 2 Prozent bei den Erwachsenen“, zitiert sie aus „Breaking Point and Beyond. Mastering the Future Today“ von George Land und Beth Jarman.
„Unser Blick verengt sich also mit zunehmendem Alter. Wir können aber dagegen steuern, indem wir neugierig bleiben, neue Perspektiven wählen und bewusst den Austausch außerhalb unserer Bubbles forcieren“, zählt Christiane Varga auf.

Speakerin, Soziologin und Zukunftsforscherin Christiane Varga
Speakerin, Soziologin und Zukunftsforscherin Christiane Varga © Sophie Menegaldo

Die KI „übersetzt“ Bild aus dem Kopf

Vieles davon hat sich der dynamische Vorstand des Bundes Österreichischer Architektur (BÖIA) zum Ziel gesetzt. Der Verein blickt auf mehr als sechs Jahrzehnte Geschichte zurück. Seit dem Rebranding 2022 wird seine Mission – Netzwerken, Interessensvertretung und Weiterbildung – sukzessive mit neuem Leben erfüllt. „Future Interior: KI & Visionen in der Gestaltung“ war der erfolgreiche Auftakt einer neuen Eventreihe. Visionäre Vortragende waren dabei – neben Christiane Varga – Franz Riebenbauer, Gründer und Creative Director des gleichnamigen Studios, sowie die Architekten und Designer Georg Popp und Simon Hirtz, die unter anderem an der New Design University unterrichten.
Franz Riebenbauer, der sowohl an der „Angewandten“ in Wien als auch an der University of California in Los Angeles einen Lehrauftrag hat, nahm das Publikum auf einen rasanten Ritt durch die Welt jener Artificial Intelligence (AI)-Tools mit, die er und sein Team bereits in ihren Alltag integrieren. Dabei berichtete er unter anderem von einem schönen Aha-Erlebnis, als er kürzlich an einem Konzept für eine aufwändige Leuchteninstallation arbeitete. „Auf Basis unserer Beschreibung gab die KI genau das Bild wieder, das ich in meinem Kopf hatte.“
Das bedeute aber nicht automatisch eine Zeitersparnis, es käme vielmehr zu Verschiebungen im Arbeitsprozess, führte er aus. Der Gedanke wurde beim Event vielfach aufgegriffen. In einem Punkt schienen sich die meisten einig: Der Einsatz entsprechender KI-Tools schafft für Innenarchitekt*innen neue Möglichkeiten, um noch präziser auf die Wünsche der Kund*innen einzugehen. Menschliche Qualitäten wie Beziehungsfähigkeit und Empathie sind hierbei also ebenso gefragt, wie bei der Realisierung von Projekten, bei der Budget, Umsetzungsmöglichkeiten und ausführende Unternehmen auf einen Nenner gebracht werden sollen.

Unser Blick verengt sich also mit zunehmendem Alter. Wir können aber dagegen steuern, indem wir neugierig bleiben, neue Perspektiven wählen und bewusst den Austausch außerhalb unserer Bubbles forcieren.

Homecoming

Was wollen wir eigentlich umgesetzt haben bzw. wie wollen wir heute und morgen leben? „Ob Wohnhaus oder Firma, die Tendenz geht zu langfristigen Nutzungskonzepten“, sagt BÖIA-Geschäftsführerin Martina Fürnkranz. Räume können dementsprechend weitsichtig multifunktional geplant werden, „damit zum Beispiel der Kinderbereich in einem Haus später in eine Einliegerwohnung umgewandelt werden kann, um sie zu vermieten und die Pension aufzubessern.“ Was einst als „öko“ belächelt wurde, ist heute zeitgemäß. Gesundes und nachhaltiges Wohnen beinhaltet etwa Möbel aus geöltem Massivholz statt kurzlebigen Plastikteilen. Gefragt sind Modelle mit modernem und zeitlosem Design, die in Österreich oder in der EU produziert wurden. Parallel dazu wächst das Bewusstsein für individuelle Schätze. „Omas Erbstück oder ein aus dem Urlaub mitgebrachtes Teil sollen ebenso schön zur Einrichtung passen“, beschreibt Martina Fürnkranz. Der Trend zu Reduktion hält auch beim Wohnen Einzug. Das betrifft sowohl die Fläche, auf der man lebt – „zwei Personen, die auf 200 Quadratmeter wohnen, wird es in Zukunft immer seltener geben“ – als auch die Möbel, die man sich anschafft. „Gute Teile sind multifunktional, wie zum Beispiel ein ausziehbarer Schreibtisch fürs Homeoffice oder ein Beistelltisch, der zum Hocker wird, wenn Gäste kommen“, sagt Martina Fürnkranz.
Nachdem das Wohnen sukzessive teurer wurde, liegt es für sie auf der Hand, dass sich die Menschen auch langfristige Lösungen für die Einrichtung wünschen. Ganz oben stehen dabei weiterhin gut durchdachte Konzepte für Bad und Küche – die zumeist größten Investitionen. Ein Upgrade erlebt aktuell der Stellenwert des Eingangsbereichs. „Man kommt nach Hause und will Post, Jacke, Handy und Schlüssel ablegen. Wohin mit all dem, ohne das sofort ein Chaos entsteht?“, fragt Martina Fürnkranz. „Wenn es für all das einen eigenen Platz gibt, hat der Vorraum eine ganz andere Wirkung, und es ist ein viel schöneres Heimkommen.“

Der Vorstand vom BÖIA – Bund Österreichischer Innenarchitektur
Der Vorstand vom BÖIA – Bund Österreichischer Innenarchitektur © Sophie Menegaldo

Der BÖIA – Bund Österreichischer Innenarchitektur ist ein österreichweiter Interessensverband von Innenarchitektinnen und Innenarchitekten sowie im Bereich Innenarchitektur, Raum- und Objektgestaltung Tätigen. 

Bund Österreichischer Innenarchitektur

#bubatzlegal oder doch nur egal?

Na klar komme ich lieber hierher! Es will doch niemand in Gütersloh stoned sein.“ Im Coffeeshop Old Church II, unweit vom bekannten Amsterdamer Blumenmarkt, spricht ein deutscher Tourist gelassen aus, was sich in der Woche der Cannabis-Freigabe in Deutschland wahrscheinlich die meisten denken. Ich habe mich gerade vorher mit den Leuten hinterm Tresen unterhalten und mich gefragt, ob sie durch die Legalisierung beim Nachbarn einen Rückgang im (Kiffer)Tourismus fürchten. Die Reaktion fällt ausgesprochen gelassen, gleichzeitig aber scharf analytisch aus. „Schau, obwohl wir hier ja keine echte Legalisierung wie in Teilen der USA, in Uruguay oder eben jetzt in Deutschland haben, funktioniert die Regelung mit der Duldung hier sehr gut. Die Vorgaben sind sehr genau, eben auch die Maßgaben zu Verkauf und Konsum, und sogar das begleitende Tabakrauchverbot funktioniert“, wird mir routiniert erklärt. „Wir erwarten keinen, maximal einen sehr geringen Rückgang an deutschen Tourist*innen wegen der Freigabe dort. Die Leute kommen ja nicht wegen des Konsums an sich, den gibt es ohnehin schon immer überall. Sie kommen hierher wegen dieser speziellen Amsterdam-Experience. Die haben wir hier seit Jahrzehnten perfektioniert. Nicht nur bei der Entwicklung der Cannabis-Sorten, sondern auch in Präsentation, Beratung und Gastronomie. Wo sonst kannst du dir was kaufen und dann in Ruhe, sicherer Atmosphäre und sogar indoor einen Joint genehmigen?“

Mann hält brennenden Cannabis Joint in seiner Hand
© Elsa Olofsson/Unsplash

Die Altmeister

In der Tat ist man in Amsterdam, Klischee hin oder her, immer noch im absoluten Mekka der fröhlichen Stoner. Obwohl sich in der Zeit seit meinem ersten Besuch vor 25 Jahren einiges geändert hat – und das zum Vorteil. Das Flair blieb erhalten. Coffeeshops, aus denen Reggae oder auch 90er Trip-Hop tönt, Backpacker neben Aktenkoffer-Typen, die sich entspannt einen anbauen. Daneben unzählige Shops, die Shishas, Papers, Feuerzeuge und unfassbar hässliche Marihuana-Nippes verkaufen. Nur eben weit sauberer, freundlicher und deutlich weniger abgefuckt als noch im letzten Jahrtausend. Und ohne unangenehme Rausch-Tourist*innen auf der Straße. Denn seit mit letztem Jahr auch der öffentliche Konsum, zumindest im touristischen Teil der Altstadt, stark eingeschränkt wurde, hat man hier anscheinend die perfekte Balance aus bekannter Kiffer-Folklore und professionellem Business gefunden: makellos bei Produkt- und Beratungsqualität, aber dennoch lässig und nicht so hochgeschlossen wie in entsprechenden Teilen der USA. Denn auch wenn dort die Produktion und der Vertrieb perfekt funktionieren, gestaltet sich der Konsum dann doch weniger einladend. Im Schanigarten zu einem frisch gepressten Fruchtsaft einen quarzen, geschweige denn indoor: Fehlanzeige aufgrund der fast schon hysterischen Nichtrauchergesetze von Uncle Sam. Zwar nicht so schlimm wie Gütersloh, aber dennoch eher unlocker.

Luxus Coffee Shop in Amsterdam
Coffeeshop Sloterdijk in Amsterdam © Markus Höller/funk tank

Na klar komme ich lieber hierher. Es will doch niemand in Gütersloh stoned sein!

Neue Zeiten

Die Holländer*innen selbst wiederum scheinen genau die fast schon klinische Art der Präsentation wie in den USA zusehends zu schätzen, zumal ja auch die Verlagerung sozialer Aktivitäten in die eigenen vier Wände als Spätfolge der Pandemiejahre immer noch spürbar ist. Die Folge: High-End-Coffeeshops, die mit den abgenutzten Holzbänken und Bob-Marley-Postern rund ums Rotlichtviertel wenig zu tun haben. Ganz im Gegenteil: Der Coffeeshop Sloterdijk beispielsweise verfolgt ein völlig anderes Geschäftsmodell: Hier wird nicht gekifft, sondern nur verkauft, jedoch in einem völlig anderen Stil. In einer architektonisch-funktionellen Mischung aus Apotheke, Insta-Hotspot, Butlers-Schauraum und Nobelbäcker (Joseph, Öfferl et al.) wird hier Hochwertiges vom Pre-Rolled Joint über Hasch bis zu erstklassigen Brownies verkauft. Auf Nachfrage zum Thema Geschäftsrückgang wegen der Freigabe beim Nachbarn hat man hier ebenfalls nur ein müdes Lächeln übrig. „Selbst wenn die Deutschen ihr ziemlich praxisfernes Gesetz irgendwann auf kommerziell brauchbare Beine stellen, holen die unseren Vorsprung – zumindest im Einzelhandel und in der Gastronomie – nie auf. Und sieh dich mal um! Glaubst du, für unser Geschäftsmodell sind die paar deutschen Tourist*innen relevant?“ Tatsächlich. Die ganze Zeit über kommen vorwiegend junge Holländer*innen, meist mit dem Auto zum eigenen Kundenparkplatz, stellen sich drinnen brav bei der Theke an und verschwinden ebenso schnell wieder aus dem schicken Designer Coffeeshop. Das Interieur und die Verkaufsberater*innen im weißen Laborkittel könnte man sich in einer stylischen John Wick-Sequenz ebenso vorstellen wie in einer Münchner Schnösel-Kaffeerösterei.

Selbst wenn die Deutschen ihr ziemlich praxisfernes Gesetz irgendwann auf kommerziell brauchbare Beine stellen, holen die unseren Vorsprung, zumindest im Einzelhandel und Gastronomie, nie auf.

Business as usual

Zurück nach Deutschland. Während in Holland in Sachen Weed ‚business as usual‘ stattfindet, ist es in Deutschland in gewisser Weise genauso. Beim Rundgang in Berlin am Ostermontag, dem Tag der Freigabe, bemerke ich nichts. Niemand ist am Kiffen im Tiergarten, außer die üblichen Versprengten einer langen Nacht, die noch schnell einen zum Runterkommen durchziehen. Aber die gab es immer schon. Ebenso ist vor dem Brandenburger Tor am Pariser Platz kein Ofen weit und breit zu sehen, nicht mal zu riechen. Und das, obwohl das sogar einer der wenigen Flecken in der Hauptstadt ist, wo man unbehelligt kiffen dürfte – außerhalb der 100 Meter-Schutzzonen rund um Schulen, Krankenhäuser, Sportplätze usw. Diese lassen sich übrigens auf der Homepage des ebenso einfachen wie nützlichen OpenMap-Projekts www.bubatzkarte.de einsehen. 

Menschen vor dem Brandenburger Tor in Berlin
Brandenburger Tor in Berlin © Markus Höller/funk tank

Und selbst am riesigen Tempelhofer Feld ist niemand zu sehen, der Mary Jane frönt. Selbst im Wiener Burggarten knotzen an einem schönen Tag mehr kiffende Jugendliche herum als hier. Auf die Frage nach dem Warum, ernte ich von den Hauptstädter*innen nur Schulterzucken. Auch Polizist*innen in der Nähe der belebten Fußgängerzone ‚Unter den Linden‘ scheinen vom Thema gelangweilt. Sind die Berliner*innen ‚too cool to care‘? Der Tenor der befragten Passant*innen und eben auch Exekutivbeamt*innen, zusammengefasst von einem befreundeten Berliner Journalistenpaar: „Hier wurde immer schon mehr oder weniger ungeniert gekifft, angebaut und weitergegeben. Am Verhalten der Betroffenen ändert sich daher wenig. Diejenigen, die immer schon dem Cannabis zugeneigt waren, machen genau so weiter wie bisher. Und die anderen haben entweder ohnehin kein Interesse oder warten ab.“ Abwarten also, bis die per Gesetz definierten Cannabis Clubs zum Tausch und gemeinschaftlichen Anbau ab 1. Juli 2024 aktiv werden? Mal sehen. Zumindest in diesen drei Monaten wird sich aber weder in Deutschland noch in den Niederlanden irgendetwas gravierend ändern, es heißt bis dahin dort wie da: #bubatzegal statt #bubatzlegal

Berlin Tempelhof
Berlin Tempelhof © Markus Höller/funk tank

Buchtipp:

„Der große Rausch“ von Helena Barop

Auf rund 300 Seiten behandelt die promovierte Historikerin und Philosophin Helena Barop die Historie wie es dazu kam, dass Medikamente zu Rauschmitteln, Rauschmittel zu Rauschgift und aus Rauschgift illegale Drogen wurden. Vor allem den Weg der US-amerikanischen Drogenpolitik nach Deutschland und in den Rest der Welt, der Drogen vielerorts zu einem gesellschaftlichen Problem macht, erklärt Helena Barop. Fesselnd schildert Barop, wie die Angst vor Drogen sich zuverlässig in politisches Kapital umwandeln ließ und lässt. Dabei räumt sie mit Vorurteilen und Halbwahrheiten auf und erörtert Wege, wie man diese Ambivalenzen neu sortieren kann.

"Der grosse Rausch" von Helena Barop

In Deutschland ist seit 1. April 2024 der Besitz und Konsum von Cannabis für über 18-Jährige legal – als erstes europäisches Land. Jedoch in einem sehr strengen rechtlichen Korsett, das bis auf weiteres nur den Eigenanbau von bis zu drei Pflanzen und die Weitergabe in ab Juli erlaubten Cannabis-Clubs erlaubt. Kommerzielle oder gastronomische Regelungen sind vorläufig keine geplant.

In den Niederlanden ist THC-haltiges Cannabis per se nicht legal, wird aber seit den 1970er Jahren so weit toleriert, dass in sogenannten Coffeeshops Cannabis verkauft und konsumiert werden darf. Dies hat zu einer besonders populären Form von Tourismus geführt, die im Laufe der Jahre schrittweise eingedämmt wurde.

In den USA ist Cannabis in 38 Bundesstaaten für medizinische Indikationen und in 24 Bundesstaaten, darunter Kalifornien und New York, auch für den Freizeitgebrauch legal. Die Regelungen sind im Detail pro Bundesstaat sehr unterschiedlich, der Verkauf in so genannten Dispensaries genau festgelegt, beschert aber mittlerweile Steuereinnahmen in Milliardenhöhe.

Global setzen Länder wie Uruguay, Südafrika und auch Nordkorea(!) auf völlige Freigabe. Thailand schränkt eine ähnliche Regelung mit Jahresende wieder deutlich ein.

Austin: Howdy, Boomtown!

Bei Gus‘s Fried Chicken in der 2nd Street, gleich um die Ecke vom Convention Center, brüllt guter Rock aus der Konserve, und die Flasche Dom Pérignon kostet wohlfeile 300 Dollar. Neben den 5 Dollar für ein Dosenbier ist das ein stolzer Preis. Die Champagner Bestellungen im Lokal, dessen Kellner*innen auch beim Klassentreffen von Dazed & Confused eine gute Form machen würden, dürften sich eher in Grenzen halten. Doch der augenzwinkernde Eintrag auf der Getränkekarte bringt den Wandel zum Ausdruck, den die texanische Hauptstadt Austin und ihr Aushängeschild, das South by Southwest Conference und Festival, durchgehen. 
Die Stadt boomt, die Skyline wächst, jedes Jahr kommen neue Wolkenkratzer dazu, die entlang des Ufers des Colorado Rivers in die Höhe schießen. Das Motto, das einem vom Flughafen bis in die neuen, schicken Hotel Lobbys entgegenwinkt, ist immer noch das Gleiche: “Keep Austin Weird”. Der Slogan einer Stadt, die im Wandel ist, und in der man etwas genauer suchen muss, um die Weirdness zu finden.

Die Wolkenkratzer schießen unentwegt in die Höhe
Die Wolkenkratzer schießen unentwegt in die Höhe © Fergus Sweeney

Magnet für Innovation

Spult man etwas zurück, ein paar Jahre nur, dann war diese Weirdness leicht zu finden. Die einzigartige Mischung aus Hippies, Cowboys und Tech im Herzen von Texas hatte schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anziehungskraft für Menschen aus dem ganzen Land.
Willie Nelson, Richard Linklater, Dell Computers. Das sind Namen, die auch schon vor dem großen Boom der letzten Jahre mit der “blueberry in a bowl of tomato soup” assoziiert wurden. Die liberale Insel, umgeben vom konservativ geprägten, landwirtschaftlichen Texas.
Austin, die Stadt mit den meisten Live Musiklokalen pro Einwohner*in, das “Live Musical Capitol” mit Studierenden aus der ganzen Welt an der University of Texas als Mischung verschiedener Stilrichtungen und Geisteshaltungen war bereits damals ein Magnet. Angenehmes Wetter (bis auf die heißen Sommer), günstiger Wohnraum, ein kreatives Umfeld, entspannter und weniger oberflächlich als Kalifornien, gemütlicher und weniger hektisch als New York. Wunderschöne Wandmalereien an jeder Ecke, Breakfast Tacos (Fladen mit Ei, Bohnen und Speck) und Ranch Water (Tequila mit Soda). Auf dem gleichen Breitengrad wie Kairo ist man hier in einer der südlichsten Metropolen der USA. In den letzten 20 Jahren hat sich die Bevölkerung der Stadt mehr als verdoppelt.

Two-Step Tanzmusik im White Horse auf der East Side
Two-Step Tanzmusik im White Horse auf der East Side © Fergus Sweeney

Wurzeln in Musik und im Film

Die entspannte Note findet man immer noch, auch wenn man dafür etwas weiter vom Zentrum ausfliegen muss (Richtung Osten oder Süden), wo sich mittlerweile ein Wolkenkratzer an den anderen reiht. Der Wandel der Stadt, noch einmal beschleunigt durch einen massiven Influx von Geld und Menschen aus Kalifornien (Hollywood und Silicon Valley, Entertainment und Tech) im Rahmen der Pandemie, zeigt sich auch in Downtown und bei South by Southwest selbst.
Eigentlich als Musikfestival gestartet, dann durch ein Filmfestival ergänzt – beides gibt es nach wie vor – ist der Interactive Part der Konferenz/Messe/Happening mittlerweile zum wichtigsten Innovationstreffpunkt der Welt geworden. In der 2. Märzwoche kommen Menschen von nah und fern, um sich über die brennendsten Themen der Zukunft auszutauschen. Das passiert auf den unterschiedlichsten Ebenen. Im Konferenzzentrum und in den Hotels gibt es Vorträge und Workshops in Sälen und Räumen für 10 bis 5000 Menschen. Dann laden Firmen von Google bis Amazon in Lagerhallen und mit interaktiven Erlebnissen zu Partys und Austausch, vom Brunch mit Mimosas hin zum Cocktail mit Margaritas.

Genau der Faktor, dass man nicht weiß, wen man an der Bar, im Vortragssaal oder in der Schlange zum Kinosaal kennenlernt, lässt die Besucher*innen wiederkommen, und das auch nach 30 Jahren.

Interaktive Geisterbahn

Eine Mischung aus Prater, Reeperbahn und Disneyland – vor allem auf der 6th Street und der Rainy Street. Doch schon ein paar Gassen weiter geht es gemächlicher zu. Viele Veranstaltungen finden neben dem offiziellen Programm statt, von gratis bis zu ein paar tausend Dollar für die Eintrittskarte oder den Platz am Tisch. Der Wandel der Stadt durch den Boom der letzten Jahre zeigt sich auch in den Veranstaltungsorten. Wurde früher noch mehr in den Hinterhöfen von Bars und auf Baustellengruben gefeiert, gibt man sich heute eher das Stelldichein auf den Terrassen mondäner Hotels. Auch weil es diese bis vor ein paar Jahren noch nicht gab.

Im Hintergrund und Vordergrund läuft Musik, von Country bis Hip-Hop. Das Filmfestival hat sich mittlerweile neben Sundance zu einem der wichtigsten im Indie-Segment entwickelt, auch Hollywood und die Studios/Streamer nutzen es gerne für Premieren mit jeder Menge Starpower. Wer eine Pause vom Trubel will oder braucht, setzt sich in eines der zahlreichen Festivalkinos. Das ganze geht 9 Tage lang, wobei der Schwerpunkt der ersten Hälfte auf dem interaktiven Teil liegt.

Eine überdimensionierte Ski-Hütte von Paramount+
Eine überdimensionierte Ski-Hütte von Paramount+ © Fergus Sweeney

Hoffentlich verpasst man was!

Das Besondere dabei ist die schier unendliche Auswahl an Möglichkeiten. Und die Tatsache, dass es gar nicht möglich ist, alles abzudecken. Hugh Forrest, der langjährige Programmdirektor, bezeichnet das als JOMO, also “Joy of missing out”, statt FOMO.
Wenn man sich treiben lässt, dann passiert es einem, dass man großartige neue Eindrücke und Menschen kennenlernt, die man nicht auf der Agenda und dem Plan gehabt hat. Und nicht nur Business Kontakte, sondern Freundschaften, die über Kontinente und Branchen bestehen. Und das ist das wirkliche Geheimnis, warum die Menschen immer wieder im März nach Texas strömen, auch in Zeiten, in denen die Inhalte schon online verfügbar und erlernbar sind. Denn genau der Faktor, dass man nicht weiß, wen man an der Bar, im Vortragssaal oder in der Schlange zum Kinosaal kennenlernt, lässt die Besucher*innen wiederkommen, und das auch nach 30 Jahren. Das Mission Statement des Festivals lautet “Helping creative people to achieve their goals.” Und das funktioniert, auch wenn die Stadt und das Festival weniger rauh und etwas genormter sind als noch vor ein paar Jahren.

Der Chip in einem Quantencomputer von Google
Der Chip in einem Quantencomputer von Google © Fergus Sweeney

OK Computer: AI im Aufschwung

Heuer lag der Fokus dabei vor allem auf künstlicher Intelligenz und den Auswirkungen auf die Gesellschaft. Der Wettlauf um die Superlativen der Technologie war ein bestimmendes Thema. Inklusive Auswirkungen auf Wissenschaft und Demokratie, gerade ein paar Monate vor richtungsentscheidenden Wahlen, etwa in den USA, in Deutschland oder auch in Österreich. Viele Trends werden im Jahreszyklus der Konferenzen auf der ganzen Welt das erste Mal in Texas angesprochen und dann von Lissabon über Hamburg bis Hong Kong dekliniert.

Die Bedeutung der bereits einsetzenden und rapide stattfindenden Transformation von Arbeit und Wertschöpfung, gerade auch für die Kreativbranche, war dabei zentral in vielen der Gespräche. Wann, ob und in welcher Form die Maschinen die komplette Kontrolle übernehmen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Klar dürfte dennoch sein, dass in den nächsten Jahren die (Arbeits)Welt wie wir sie kennen eine andere sein wird. Und genau diese zwischenmenschlichen Begegnungen inmitten der technischen Utopien und Dystopien der Gegenwart und Zukunft machen Austin dann auch im Kern wieder ein bisschen weird und eine Reise wert.

P.S: Das Fried Chicken bei Gus‘s ist übrigens ausgezeichnet, am besten mit Beans und Coleslaw.

Selbst im digitalen Zeitalter erfreuen sich analoge Litfass-Säulen großer Beliebtheit
Selbst im digitalen Zeitalter erfreuen sich analoge Litfass-Säulen großer Beliebtheit © Fergus Sweeney

Die SXSW findet immer in der 2. Märzwoche in Austin, Texas statt. Der nächste Termin findet vom 7. bis 15. März 2025
statt. Auf die Besucher*innen warten tausende Vorträge, Workshops, Ausstellungen, Messen, Konzerte und Filmvorführungen.

Die Tickets dafür kosten je nach Kategorie zwischen € 500 bis € 1200 Euro im Vorverkauf und werden zur Veranstaltung hin graduell teurer. Hotel & Airbnb Preise sind rund um die Konferenz auf Buchungsplattformen enorm hoch. SXSW reserviert ein Kontingent an Hotelbetten in unterschiedlichen Kategorien, die gemeinsam mit dem Ticketkauf reserviert werden können.

Von Wien aus kommt man mit einem Zwischenstopp in Europa (Frankfurt, Amsterdam, London) oder in den USA (NYC, Chicago) nach Austin.

SXSW (South by Southwest) Conference & Festival

Austin Tourism

News nach Redaktionsschluss: Im Zuge des heurigen Festivals haben einige Künstler*innen ihre Auftritte beim SXSW abgesagt, um gegen Sponsoring durch Militär und Verteidigungsindustrie zu protestieren. Infos dazu hier

Sbäm Aus Liebe zum Punkrock

Punk zu sein“, sagt Stefan Beham, „heißt nicht, dass ich einen Iro und eine Lederjacke tragen muss. Punk ist für mich eine Lebenseinstellung, die Freiheit, das zu tun, was ich mag.“ Und so erfüllt sich der international gefeierte Grafiker mit seinem Plattenlabel Sbäm-Records und dem jährlichen Sbäm-Fest seinen Lebenstraum. „Ich stehe vielleicht nicht mehr bei jedem Konzert in der ersten Reihe, aber ich trage immer noch jeden Tag irgendein Band-Shirt und höre beim Arbeiten lauten Punkrock. Und ja, das macht immer noch riesigen Spaß!“

Karriere über Umwege

Der 42-jährige Oberösterreicher hat seine Begeisterung für kreatives Design früh erkannt. Sein Vater hatte in Engelhartszell eine Druckerei inklusive Grafikbüro betrieben – „und ich habe mir als 12-, 13-Jähriger seine Auftragsmappen durchgesehen und für lokale Feste oder Konzerte, die mich interessiert haben, Entwürfe gezeichnet. Mein Vater hat diese Entwürfe an seine Kunden geschickt und oft sind die tatsächlich angenommen worden.“

Bis er seine Leidenschaft durch eine formale Ausbildung ergänzt hatte, sollte allerdings einige Zeit vergehen. Die HTL („Keine Ahnung, wie ich überhaupt auf Maschinenbau gekommen bin.“) hat er ebenso abgebrochen wie eine Lehre zum Druckvorstufentechniker. Nach dem Zivildienst blieb er der Volkshilfe treu und gestaltete für die Hilfsorganisation Magazine und Werbekampagnen. „Das hat mich so fasziniert, dass ich schließlich an der NDU in St. Pölten ein Grafikstudium absolviert habe.“

Aus Pop-Art wird Punk-Art

Von Kindheit an war Stefan Beham von der Pop-Art Roy Lichtensteins fasziniert (dem bis 14. Juli in der Wiener Albertina eine Ausstellung zum 100. Geburtstag gewidmet ist). Lebhaften Einfluss auf seinen farbenfrohen Stil hatten auch die Spiderman- und Batman-Comics der 1950er- und 1960er-Jahre. Ehe er sich als Grafiker selbständig gemacht hatte, wollte der Punk aber noch eine ganz andere Welt kennenlernen als die laute, ausgelassene Subkultur. „Mit Anfang 30 bin ich nach Hamburg übersiedelt, um bei Jung von Matt, einer der größten Werbeagenturen Deutschlands, zu arbeiten.“

Die Erfahrungen, die er mit Weltmarken wie Mercedes und Vodafon gemacht hat, will Stefan Beham nicht missen. „Ich habe von Anfang an Verantwortung für große Kampagnen getragen. Seither schreckt mich beruflich nicht mehr viel.“ Allerdings hatte er wegen der branchenüblichen 70-Stunden-Wochen wenig vom Leben im lässigen Stadtteil St. Pauli mitbekommen und kehrte ins beschaulichere Linz zurück. „Hier war ich noch ein paar Jahre lang Art Director und Creative Director für verschiedene Agenturen. Doch mit der Zeit hat es mich nicht mehr erfüllt, für irgendwelche Firmen irgendwelche Werbungen zu gestalten.“

Hartnäckig und kreativ

Spaßhalber hat Stefan Beham begonnen, auf seinem Tablet Plakate für Punkrock Bands zu gestalten und sie ihnen unaufgefordert zu schicken. „Mein Traum war immer, all diese Musikerinnen und Musiker kennenzulernen und vielleicht einmal mit ihnen privat quatschen zu können.“ Und diesen Traum hat er sich mit großer Hartnäckigkeit erfüllt. „Sagen wir, wie es ist: Ich habe diese Bands genervt und mit meinen Artworks bombardiert. Zwei, drei Jahre lang habe ich jeden Tag meine Arbeiten verschickt und gehofft, dass sie irgendwer als Poster oder für T-Shirts verwendet. Aber von tausend Mails sind vielleicht zwei beantwortet worden …“

„Nach und nach“, erinnert sich Stefan Beham, „sind dann doch erste Rückmeldungen aus den USA gekommen.“ 2014 gewann einer seiner Plakat-Entwürfe einen Design-Wettbewerb der Band Lagwagon, 2015 durfte er für Zebrahead sein erstes Albumcover, „Walk The Plank“, gestalten. Dem Startschuss seiner internationalen Karriere folgten immer größere Aufträge, unter anderem von Bands wie NOFX, Blink 182, Sum 41, No Fun At All und The Offspring. „Am Anfang habe ich sogar umsonst gearbeitet. Alles, damit sich mein Name herumspricht.“

In dieser Zeit entstand der Künstlername „Sbäm“, eine Abwandlung seines bürgerlichen Namens, „weil ich eine Grafik cooler als sonst signieren wollte.“ Der anfänglichen Begeisterung über die lautmalerische Wortschöpfung folgte bald ein gewisses Unbehagen. „Ich hatte nicht daran gedacht, dass ‚Sbäm‘-Mails natürlich oft im Spam-Ordner landen. Mittlerweile hat sich der Name jedoch etabliert, und damit finde ich es wieder lustig. Viele Musiker*innen wissen gar nicht, dass ich eigentlich Stefan heiße.“

Sbäm mit Campino von den Toten Hosen
Sbäm mit Campino von den Toten Hosen © Sbäm Records

Im Punk zu Hause

Stefan Beham sieht sich selbst nicht als Künstler – aber nicht, weil eine geplante Ausstellungsserie in den USA 2020 dem Corona-Lockdown zum Opfer gefallen ist. „Ich bin Grafiker und Designer. Und ich bin generell ein visueller Mensch. Als ich begonnen habe, mich für Musik zu interessieren, habe ich die Platten im Geschäft in erster Linie nach dem Cover ausgewählt.“ Und das hat ihn auf einen Lebensweg geführt, den er bis heute nicht mehr verlassen hat. „Ich war 12, 13, als ich Green Days ‚Dookie‘-Album und damit eine völlig neue Welt für mich entdeckt haben. Im Punkrock, in dieser Musik, in dieser Szene, habe ich mich sofort daheim gefühlt.“

Aus dem „Fanboy“, der jedes irgendwie erreichbare Konzert besucht hat, wurde längst ein integraler Part der Punkszene, und Linz ein weltweiter Fixpunkt einer Musikrichtung, die eigentlich in Südkalifornien zu Hause ist. Mit seinem Label Sbäm-Records entwickelt sich Stefan Beham zur gefragten Anlaufstelle internationaler Szene-Größen wie No Fun At All, Pulley, Bracket, Mad Caddies, Bowling for Soup oder Guttermouth. „Viel passiert bei uns über Mundpropaganda. Die Bands bekommen mit, dass wir wirklich für die Musik leben und unsere Liebe zum Punkrock nicht endet, wenn wir am Abend das Büro verlassen.“

Back to the Roots

Am 31. Mai und 1. Juni 2024 veranstaltet Stefan Beham zum sechsten Mal sein jährliches Sbäm-Fest mit dem legendären Goldfinger und Sick Of It All als Headlinern sowie wichtigen Neuerungen. „Die vergangenen beiden Veranstaltungen waren schon zu groß und für mich persönlich zu stressig. Ich hatte keine Zeit, mir Bands anzuschauen und so wie früher mit Leuten zu quatschen. Deshalb gehen wir wieder zurück in den Alten Schlachthof nach Wels, wo wir uns immer schon sehr wohl gefühlt haben.“

2022 hatten etwa die Dropkick Murphys, Pennywise und Millencolin in der Linzer Tabakfabrik gastiert. 2023 folgten NOFX, Flogging Molly und Rancid der Einladung ins Naherholungsgebiet am Pichlinger See. „Open Air Festivals an Seen oder auf einer Wiese sind eh cool“, sagt Stefan Beham, „aber davon gibt es mittlerweile Tausende. Richtig urbane Festivals in echten Punkrock Locations gibt es seltener. Doch gerade das soll unser Markenzeichen werden.“

Punk is dead?

Der (vermeintliche) Schritt zurück ist für Stefan Beham gleichzeitig ein Neubeginn. „Wir wollten bewusst vermeiden, uns zu sehr dem musikalischen Mainstream anzubiedern. Was ich mir allerdings gut vorstellen kann, ist eine kleine, feine Festivaltour. Heuer gibt es als Test ein Sbäm-Fest in Stuttgart, wo am Freitag jene Bands spielen, die am Samstag in Wels gastieren und am Samstag jene, die tags zuvor im Schlachthof waren. Aber die Idee dahinter ist, dass wir das Sbäm-Fest auf Tournee schicken, damit auch Leute in anderen Städten und Ländern lässige Bands in familiärem Rahmen abfeiern können.“

„Natürlich ist Punkrock keine Cashcow“, sagt Stefan Beham, dessen Ehefrau Birgit die mittlerweile fünfköpfige Firma führt. „Es gab eine Zeit, in der Bands wie Green Day und The Offspring richtig gut verdient haben. Davon sind wir weit entfernt.“ Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass Punk tot sei, wie weit verbreitete „Punk is dead“-Graffitis behaupten. „Die Popularität dieser Musik verläuft in Wellen. Ich bin sicher, dass wir Sbäm-Records zur richtigen Zeit gegründet haben. Ich glaube ganz fest an ein Revival des Punkrocks – und dann sind wir mittendrin …“

Frank Turner Poster von Sbäm
Frank Turner "Love" Poster © Sbäm

Ich bin Grafiker und Designer. Und ich bin generell ein visueller Mensch. Als ich begonnen habe, mich für Musik zu interessieren, habe ich die Platten im Geschäft in erster Linie nach dem Cover ausgewählt.

Pennywise Poster von Sbäm
Pennywise Poster © Sbäm

Zuerst ins Kino, dann Streaming

Das Herzstück des Punks (neben der lautstarken Auflehnung gegen Autoritäten) ist seit jeher die Idee, Dinge einfach selbst in die Hand zu nehmen – selbst (und gerade), wenn man eigentlich keine Ahnung hatte, wie es funktioniert. Und so wird dieser Do-It-Yourself-Gedanke, nun zum Leitmotiv einer Filmproduktion mit dem Arbeitstitel „DIY – The Rise And Fall And Rise of Punk Rock“. „Ursprünglich war der Plan, eine Doku-Serie zu produzieren. Nach intensiven Gesprächen mit Produktionspartner*innen wollen wir damit aber Ende des Jahres zuerst in Spielfilmlänge ins Kino gehen und danach erst ins internationale Streaming.“

Seit zwei Jahren treibt Stefan Beham dieses Herzensprojekt voran. Campino, Sänger der Toten Hosen, wird ebenso zu sehen sein wie Schauspieler Wotan Wilke Möhring und Superstar Moby, die in jungen Jahren Sänger in Punkbands waren. Ein weiteres, unvollständiges Namedropping liest sich wie ein Who-is-Who der Punkwelt: Joey Cape (Lagwagon), Greg Hatson (Bad Religion, Circle Jerks), Kevin Lyman (Gründer der Vans Warped Tour), Erin Burkett (Chefin von Fat Wreck Chords), Brett Gurewitz (Bad Religion, Gründer von Epitaph Records) und Schauspiel-Legende Fred Armisen, der in einem legendären SNL-Sketch – neben Dave Grohl und Ashton Kutcher – den Sänger einer wiedervereinten College-Punkband spielt. „Im Punk hat es immer Ups und Downs gegeben, auch bei Sbäm ist nicht immer alles nur rosig. Aber gerade dieses Scheitern und wie man danach wieder zurückkommt, ist eine Story, die man super erzählen kann.“

Hotspot Linz

Stefan Beham blickt jedenfalls optimistisch und motiviert in die Zukunft. „Wir wollen in den USA noch präsenter werden. Birgit und ich überlegen schon, unseren Lebensmittelpunkt jedes Jahr für ein paar Monate hinüber zu verlegen.“ Doch auch die Gegenwart ist hochgradig spannend. Sbäm übersiedelte im März ins last, einen neuen Linzer Hotspot, der offiziell Anfang April eröffnet wird.

Diese ehemalige Konzernzentrale ist als Open Space konzipiert und beinhaltet einen fetten Skatepark im Keller sowie modernste Infrastruktur für die Linzer E-Gaming-Community. „Und im Erdgeschoß gibt es ein kleines Restaurant, eine Bar – und eine Bühne, auf der wir unsere Bands spielen lassen können. Das Setting ist perfekt für uns, weil unsere Musik der perfekte Soundtrack für diese Location ist.“

Und, wer weiß, vielleicht findet sich in dieser Szene der oder die nächste hartnäckige Kreative, der/die eines Tages selbst der Punkwelt seinen/ihren Stempel so aufdrückt, wie es Stefan Beham heute mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht tut. „Ich hoffe sehr, dass wir viele junge Menschen für den Punkrock begeistern können.“

Sbäm-Fest in OÖ
© Sbäm Records

Stefan Beham (Sbäm), 42, hat an der New Design University in St. Pölten Grafik studiert. Über Umwege in der Werbung – unter anderem bei Jung von Matt – erfüllte sich der Oberösterreicher seinen Traum, vom Punkrock leben zu können. Heute designt er nicht nur CD-Cover, Poster und Merchandise für Bands wie Blink 182, Sum 41 oder The Offspring, sondern betreibt auch das international renommierte Plattenlabel Sbäm Records und veranstaltet jährlich ein zweitägiges Punkrock Festival, das Sbäm-Fest. Sbäm lebt mit Ehefrau Bigi, der Geschäftsführerin von Sbäm Records, in Linz.

Sbäm

Wir verlosen zwei Festival-Pässe für das Sbäm-Fest am 31. Mai/1. Juni 2024. Hier mitmachen!

 

Do Something Great Society

Jan Hoša ist ein kreativer Mensch. Ein Marken- und Werbefachmann, ausgezeichnet mit zahllosen Preisen. Auf seinen Visitenkarten standen so wichtig klingende Titel wie Managing Director, Executive Creative Director oder Director Marketing & Creative Solutions. Mit der Corona-Pandemie und der plötzlich aufgezwungenen Zeit zur Reflexion begann beim gebürtigen Wiener das große Umdenken. Der „Kreativdienstleister“, wie er sich im Rückblick selbst bezeichnet, kündigte seinen Job beim Fernsehen und verschreibt sein Leben neuerdings dem Handwerk. „Nach bald 30 Jahren wollte ich nicht mehr nur am Computer sitzen und Daten produzieren. Ich wollte mit meinen Händen etwas erschaffen, das im wahrsten Sinn des Wortes greifbar ist.“

Erinnerungen an die Kindheit

Der 51-Jährige erfüllt sich im 17. Wiener Gemeindebezirk mit einer Co-Working-Tischlerei, die den verheißungsvollen Namen „Do Something Great Society“ trägt, einen langgehegten Traum. „Schon als Kind wollte ich Tischler werden. Der Opa eines Freundes war nämlich Tischler und hat in der Wohnung meiner Eltern die Kästen eingebaut. Ich war damals in der Volksschule, kann mich aber bis heute erinnern, wie angenehm das Holz gerochen und wie gut es sich angefühlt hat.“

In jungen Jahren führte sein Weg aber in eine andere Richtung. „In den 1970ern und 1980ern wollten Eltern ja sehr oft, dass ihre Kinder im Gymnasium ‚was G’scheit’s lernen‘.“ Seine Neugier und seine Bereitschaft, sich auf neue Abenteuer einzulassen, haben ihm beruflich dennoch von Anfang an gute Dienste geleistet. „Mir hat es immer getaugt, mir etwas auszudenken und das Realität werden zu lassen.“

Zum Beispiel war Jan Hoša nach jugendlichen Gehversuchen als Manager von „Gypsy Road“, der Band seines Bruders Tom – drei Jahre lang Produktionsassistent bei Rudi Dolezal und Hannes Rossacher (DoRo) und hat an Videos von David Bowies Side-Project Tin Machine und der EAV mitgearbeitet. „Danach war ich im Bereich Corporate Publishing tätig und dann einer der Ersten in Österreich, der Content fürs damals noch neue Internet produziert hat. Von dort bin ich weiter in die Werbung, ins Marketing und zum Fernsehen gezogen – alles Stationen, bei denen ich Ideen umsetzen konnte. Aber eben nur digital. Es ist nie etwas herausgekommen, das man am Ende des Tages berühren konnte.“

Learning by doing

„Das Tischlern hingegen“, sagt Jan Hoša, „ist eine Arbeit, die Sinn stiftet.“ Das Handwerk hat er allerdings nicht formal erlernt, sondern sich in bester Learning-by-Doing-Manier selbst beigebracht. Seine Leidenschaft kann er privat in seinem Haus im niederösterreichischen Klosterneuburg ungehemmt ausleben. „Mir macht es so viel Spaß, mit verschiedenen Werkzeugen zu arbeiten. Im Sommer habe ich uns eine Landhaus-Küche nach eigenen Vorstellungen aus Vollholz gebaut. Der Korpus ist aus Lärche, die Arbeitsplatte aus Esche. Und das ganz ohne Metallschrauben, sie wird nur von Holzverbindungen zusammengehalten.“

„Wichtig ist der Mut, selbst anzupacken und Fehler zuzulassen. Ich mache Dinge, die ich mir früher selbst nicht zugetraut hätte. Aber was mich am meisten fasziniert, ist, wenn es mittendrin doch nicht so funktioniert wie geplant und ich zu tüfteln beginnen und neue Lösungen finden muss. Danach habe ich aber etwas geschaffen, worauf ich stolz bin.“

Holz / Do Something Great Society / Tischlerei
© Stefan Csáky

Vom Tanzlokal zur Tischlerei

Genau dieses Gefühl möchte er mit der Do Something Great Society anderen Menschen vermitteln, zum Beispiel mit Teambuilding-Workshops für Firmen und Kursen für Anfänger*innen und Fortgeschrittene – egal, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, und das in einem perfekten Umfeld. Die Werkstatt in dem Altbau aus dem Jahr 1848 ist rund 800 Quadratmeter groß und gute 12 Meter hoch. An den Decken sieht man noch Reste der ursprünglich so eleganten Stuckatur. Jan Hoša unterbricht den Rundgang und streicht mit seinen Händen langsam über eine alte Mostpresse und einen verwitterten Bauernkasten. „Die gehören meinem Nachbarn, und wir werden sie schön herrichten. Das sind für mich klassische Winterprojekte.“

Der Saal beherbergte ursprünglich ein typisch wienerisches Vorstadt-Etablissement. Wo heute Kreissägen kreischen, wurde zünftig zum Tanz aufgespielt und dem Wein gefrönt. In den 1970er-Jahren etablierte sich der variabel nutzbare Raum als beliebte Location für heimische Film- und Fernsehproduktionen. Es entstanden Studioaufnahmen für legendäre TV-Serien wie „Hallo – Hotel Sacher … Portier“, „Ringstraßenpalais“ und „Der Leihopa“. Zuletzt diente der Raum als Werkstatt für die Produktion von TV-Studios und Film- und Fernsehdekorationen.

Location der Do Something Great Society
© Stefan Csáky

Raum für Kreativität

Die ursprüngliche Idee war es, im engsten Freundeskreis ausreichend Platz für handwerkliche Hobbyprojekte zu finden. „Daraus entwickelte sich“, erinnert sich Jan Hoša, „das Konzept einer offenen Co-Working-Tischlerei. Es stellte sich heraus, dass viele Menschen nicht nur großartige Ideen und Sinn für das Schöne haben, sondern auch den großen Ehrgeiz, diese Ideen umzusetzen. Allerdings hat praktisch niemand eine eigene Werkstatt.“

Und so gründete Jan Hoša die „Do Something Great Society” als Co-Working-Tischlerei gemeinsam mit Philipp Consemüller, einem langjährigen Freund und umtriebigen Eventmarketing-Experten. Und er ist nicht nur kreativer Denker und Mitbegründer der international renommierten Digitalkonferenz 4Gamechangers, sondern auch begeisterter Handwerker mit tatkräftiger Hands-On-Mentalität. „Wir wollen einem Haufen Individualist*innen einen Ort bieten, an dem wir schöne Dinge erschaffen können. Aber es geht nicht nur um unser Seelenheil, es ist auch ein neues berufliches Standbein.“

Motivation und Inspiration

Den Namen der „Do Something Great Society” hat der frühere Kreativkopf großer Werbeagenturen natürlich nicht ohne Hintergedanken gewählt. „Wenn man eine Marke aufbaut, stellt man sich die Frage: Aus welchem Grund macht man das? Wir wollen die Leute inspirieren und motivieren, aus einer Leidenschaft heraus großartige Dinge zu tun.“

In der Werkstatt genießt Jan Hoša den Prozess, auf Gleichgesinnte zu treffen, sich auszutauschen und gemeinsam zu tüfteln. „Vielleicht ist die Co-Working-Tischlerei eine Art Selbstverwirklichung. Aber ich bin kein Einzelkämpfer, sonst könnte ich ja zu Hause allein vor mich hin werkeln. Ich entwickle gern mit anderen Team-Workern und Team-Playern neue Ideen. Wobei es für die Seele ein riesiger Unterschied ist, ob man irgendetwas am Computer macht oder am Ende ein schönes Möbelstück mit nach Hause nehmen kann.“

Wie im Fitnesscenter

Die praktische Umsetzung der Co-Working-Tischlerei ähnelt dem Abo-Konzept von Fitnesscentern. „Es gibt zwei Möglichkeiten“, erklärt Jan Hoša, „du bezahlst bei uns eine Monats- oder Jahresgebühr, bekommst deinen eigenen Schlüssel und kannst die Werkstatt tagsüber nach Belieben nutzen. Oder du mietest dich auf eine bestimmte Zeit für ein Projekt ein. Und falls du nicht ohnehin schon mit solchen Geräten gearbeitet hast, wirst du zu Beginn auf unseren Maschinen eingeschult.“

So oder so, die „Do Something Great Society” baut auf ein freiwilliges Buddy-System. „Zu unserer Community zählen unter anderem ein Tischlermeister, ein Innenarchitekt und eine Produktdesignerin. Wenn bei uns jemand Hilfe benötigt, stehen andere Mitglieder gerne mit Rat und Tat beiseite.

Kurse für Erwachsene und Kinder

Bei aller Liebe zur Handarbeit ist Jan Hoša weiterhin sehr technikaffin. „Ich produziere jetzt als Ausgleich zum Handwerk unsere Videos für die ‚Do Something Great Society‘ und betreue selbst die Homepage und unsere Social-Media-Kanäle.“ Und natürlich haben er und Philipp Consemüller jede Menge Ideen für den Ausbau der Co-Working-Tischlerei und des Online-Shops, in dem es neben Shirts und Kappen heute bereits – kostenlos! – den Bauplan für eine Wein- oder Sekt-Handtasche gibt. „Vor allem wollen wir Menschen fürs Handwerk begeistern und sie in ihrer Entwicklung tatkräftig unterstützen.“

Konkret am Plan steht bereits ein stetig wachsendes Angebot an Workshops und Tischler-Kursen in Kleingruppen. „Wir haben gesehen, dass nicht nur Erwachsene große Freude an der Tischlerei haben, sondern auch Kinder und Jugendliche sehr konzentriert mit Holz arbeiten. Nicht jeder hat das Glück, in der Schule oder im Beruf seine Kreativität ausleben zu können. In unserer Werkstatt können sie aber etwas Großartiges schaffen und erschaffen.“ Etwas Großartiges, das greifbar ist.

Wir wollen einem Haufen Individualist*innen einen Ort bieten, an dem wir schöne Dinge erschaffen können. Aber es geht nicht nur um unser Seelenheil, es ist auch ein neues berufliches Standbein.

Co-Working-Tischlerei "Do Something Great Society"
© Stefan Csáky

Jan Hoša hat als Werbefachmann (unter anderem bei Ogilvy & Mather und PKP BBDO) mit nationalen und internationalen Großkundinnen und Großkunden zusammengearbeitet. Von 2015 bis 2020 war er Director der Inhouse Agentur der ProSiebenSat.1 PULS 4 Gruppe und hat als Creative Director Format-Marken wie „2 Minuten, 2 Millionen“ verantwortet. Gemeinsam mit Philipp Consemüller gründete er die „Do Something Great Society“, eine Co-Working-Tischlerei im 17. Wiener Gemeindebezirk.

Do Something Great Society

Jan Hoša

Sandra Lahnsteiner-Wagner Shades of Winter

Wenn Sandra Lahnsteiner-Wagner ihre Linie schwungvoll in den unverspurten Hang zeichnet und hinter ihr der feine Tiefschnee aufstaubt, breitet sich ein glückliches Lächeln in ihrem Gesicht aus. Sie ist Profi-Freeriderin und verwandelt das freie Gelände, also die Hänge abseits präparierter und gesicherter Pisten mit kreativer Energie in einen riesigen Abenteuerspielplatz: „Mich fasziniert, begeistert und motiviert die absolute Freiheit in diesem Sport. Und dass der Berg meine Leinwand ist und ich der Pinsel bin, der seine Persönlichkeit in die Natur malt.“

Wenn es sonst niemand macht …

Längst ist die gebürtige Oberösterreicherin, die ihren Lebensmittelpunkt vor mehr als 20 Jahren ins Salzburger Land verlagert hat und sich deshalb selbst als Salzburgerin sieht, viel mehr als „nur“ eine Skifahrerin. Nachdem sie 2009 als einzige Lady neben Österreichs damals profiliertesten männlichen Freeridern für die Produktion Made in Austria vor der Kamera stand, drehte sie schon im folgenden Winter mit As We Are den ersten Frauen-Skifilm.

Und das war erst der Anfang! Denn mittlerweile hat die studierte Sportwissenschafterin, Mentaltrainerin und staatlich geprüfte Skilehrerin und Skiführerin praktisch im Jahrestakt neue Filme auf die Leinwand gezaubert. Atemberaubende Filme, bei denen sie nicht nur selbst die Hauptrolle spielt, sondern zumeist auch die Verantwortung für Regie und Produktion übernimmt. „Zuerst habe ich gar nicht groß darüber nachgedacht. Ich habe nur gesehen: Es gibt keine reinen Skifilme von und mit Frauen. Also habe ich es selbst gemacht.“

Ihr neuer Film „Aligned – Between The Sea And The Sky”, den Sandra Lahnsteiner-Wagner zuerst von 10. bis 13. Dezember 2013 auf dem von ihr selbst veranstalteten #shadesofwinter FilmFest in München, Wien, Kitzbühel und Salzburg präsentiert, führte sie in die norwegischen Lyngenalpen, 350 Kilometer nördlich des Polarkreises. Dort fand sie gemeinsam mit Co-Star David Widauer nicht nur magische Nordlichter und perfekte Tiefschneehänge, sondern auch unwirtliche Witterungsbedingungen und so extreme Gefahren, dass sie ihre abenteuerlichen Vorhaben zwischendurch sogar aus Sicherheitsgründen abbrechen musste.

Und sie fand Erkenntnisse, die durchaus auch für ihr Leben abseits der wilden, unberührten Natur zutreffen. „Es geht nicht immer nur darum, den Gipfel zu erreichen. Es geht um die vielen kleinen Momente am Weg zum Ziel. Man muss bereit sein, ans Limit zu gehen. Man muss aber ebenso bereit sein umzudrehen, wenn das Risiko zu groß wird. Um erfolgreich zu sein, muss alles zusammenpassen und im Einklang sein – aber du kannst nichts mit der Brechstange erzwingen – weder am Berg, noch im Berufsleben.“

Film "Aligned" von und mit Sandra Lahnsteiner und David Widauer
David Widauer und Sandra Lahnsteiner © Niko Opetnik

Inspiring. Empowering. Connecting.

Ihr angesprochenes #shadesofwinter FilmFest trägt den programmatischen Untertitel „Inspiring. Empowering. Connecting.“ Und natürlich wird Sandra Lahnsteiner-Wagner damit zu jenem Vorbild, das sie selbst in jungen Jahren nicht hatte. „Mir war es nicht so richtig bewusst, aber tatsächlich hatte ich keine Vorbilder – weil es sie gar nicht gegeben hat.“ Wobei, wenn man es genau nimmt, eine ganz besondere Inspirationsquelle hat es von früh an gegeben: „Pippi Langstrumpf! Sätze wie ‚Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt‘ und ‚Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe‘ haben mich tatsächlich ein bisschen geprägt …“

„Um gleichermaßen kreativ wie wirtschaftlich erfolgreich sein zu können, braucht es nicht zuletzt Willenskraft und Durchsetzungsvermögen“, weiß Sandra Lahnsteiner-Wagner. Attribute, die sie als Profi-Sportlerin ebenso mitbringt, wie eine große Portion Selbstvertrauen. „Egal, ob Zeit- oder Leistungsdruck, unter stressigen Bedingungen habe ich immer schon sehr gut performen können. Als Kind habe ich meine schwierigsten Übungen beim Turnen immer bei Wettkämpfen gezeigt. Ich weiß, dass ich funktioniere, wenn es wirklich um etwas geht.“

Unternehmerisch ist Sandra Lahnsteiner-Wagner, die ihre Träume von der großen Rennläuferinnen-Karriere als Teenager nach einer schweren Knieverletzung aufgeben musste, mittlerweile breit aufgestellt. Ihre Filmproduktionsfirma, ein Reisebüro und eine Werbeagentur hat sie im vergangenen Winter in der shades.plus GmbH vereint. „Was ich besonders schön finde: Alles, womit ich mein Geld verdiene, hat seine Wurzeln in meiner Liebe zum Skifahren. Manchmal blicke ich zurück und denke mir: ‚Schau an, das alles nur, weil ich so gern Ski fahre …‘“

Herzstück aller Aktivitäten ist die Plattform Shades of Winter, mit der sie – etwa über Filmproduktionen und das FilmFest – starke weibliche Vorbilder sichtbar machen und andere Frauen inspirieren möchte, selbst aktiv am Outdoor-Leben teilzunehmen. „Mein Ziel ist es, meine Begeisterung weiterzugeben und zu zeigen, was man auch als Frau alles erleben kann. Denn, wie es auf Englisch so schön heißt: You can see it – you can be it.“

Shades of Winter Camp 2013
"Shades of Winter" Freeride Touring Camp 2023 © Christoph Oberschneider

Weil ich es kann!

Sandra Lahnsteiner-Wagner, die früher Österreichs Skistar Anna Veith als Privattrainerin betreut hatte, strotzt nur so vor Ideen und Unternehmergeist. Zuletzt war sie für die neue TV-Serie School of Champions (ab 22. Jänner 2024 auf ORF 1 zu sehen) für Regie und Produktion der Skiaction-Szenen verantwortlich. „Ich habe nie zuvor bei einer fiktiven Serie mitgearbeitet. Aber als Selbständige muss man stets offen für Neues sein. Und man muss mutig und bereit sein, sich stets weiterzuentwickeln.“

Ihre Work-Life-Balance, sagt sie, sieht sie trotz vollen Terminkalenders durchaus positiv. „Natürlich sitze ich manchmal drei Tage hintereinander 16 Stunden lang am Computer und komme erst in der Nacht dazu, eine Runde zu laufen. Und wenn ich zum Windsurfen nach Sardinien fahre, nehme ich nicht nur den Laptop mit, sondern selbstverständlich auch den großen Monitor. Aber ich genieße es sehr, dass ich mir meine Zeit einteilen kann. Umso größer ist der Genuss, wenn ich zwischendurch mit Freunden eine schöne Skitour gehe oder einen gemütlichen Tag auf der Piste verbringe – ohne nur eine Sekunde daran zu denken, eine Instagram-Story posten zu müssen.“

Als Feministin sieht sie sich übrigens nicht – egal, wie zentral das Thema „female empowerment“ in ihrer Arbeit ist. „Diese Frage wird mir oft gestellt. Aber ich hatte nie das Gefühl, als Frau benachteiligt worden zu sein. Und ich habe auch nicht das Bedürfnis, bevorzugt behandelt zu werden. Was immer ich mache, mache ich weder weil, noch obwohl ich eine Frau bin. Ich mache Dinge einfach, weil ich die Sandra bin. Und weil ich es machen will.“

Privat ein starkes Fundament

Im Frühjahr 2022 gab Sandra ihrem Langzeitpartner Gernot in Gastein das Ja-Wort. Die dreitägige Hochzeitsfeier war mit hochkarätiger Ski-Prominenz besetzt, darunter Olympiasiegerin und Dreifach-Weltmeisterin Anna Veith. Als Brautjungfer fungierte die amerikanische Olympiasiegerin Julia Mancuso, mit der Sandra unter anderem 2016 für die „Shades-of-Winter“-Produktion Between gemeinsam auf Hawaii Skifahren war.

Die Frage, wie es Gernot an der Seite einer so selbstbestimmten Persönlichkeit geht, entlockt Sandra ein herzhaftes Lachen. „Er ist einerseits sehr stolz auf das, was ich tue und andererseits ist er mein Fels in der Brandung. Aber man muss natürlich ein starker Mann sein, um neben einer starken Frau bestehen zu können.“ Hilfreich ist, dass er sich nicht nur in Sandras GmbH engagiert, sondern auch als sportlicher Leiter der Skitourismusschule Gastein und als Referatsleiter für Alpinsport im Salzburger Skiverband selbst verantwortungsvolle Führungspositionen innehat. „Er hat seinen Platz im Leben gefunden und ist beruflich selbst ebenfalls sehr erfolgreich.“

Was immer ich mache, mache ich weder weil, noch obwohl ich eine Frau bin. Ich mache Dinge einfach, weil ich die Sandra bin. Und weil ich es machen will.

„Die Begeisterung für Outdoor-Aktivitäten ist ein wichtiges, verbindendes Element“, sagt Sandra Lahnsteiner-Wagner. „Wir gehen beide sehr gern Skifahren und unternehmen miteinander Skitouren, im Sommer gehen wir Windsurfen. Die Liebe zum Sport verbindet uns.“ Sie weiß aber auch, dass gerade eine Beziehung wie die ihre ein starkes Fundament braucht. „Dass ich mit meiner Crew einfach für drei Wochen nach Norwegen fliege, setzt eine große Vertrauensbasis voraus.“

Polarlichter Film "Aligned" von Sandra Lahnsteiner
© Mathaeus Gartner

Genuss, nicht Nervenkitzel

Was man bei all den spektakulären Freeride-Fotos und -Filmen nicht vergessen darf: Jeder Trip, und sei es „nur“ am Hang hinter dem Haus, erfordert akribische Vorbereitung, speziell was die richtige Einschätzung der Lawinensituation anbelangt. Und man braucht immer das richtige Equipment, ein (funktionierendes!) Lawinenverschüttetensuchgerät, eine Schaufel und eine Sonde sowie im Optimalfall ein Rucksack mit Airbag, damit man im Fall des Falles nicht unter Schneemassen begraben wird. Doch wie bei allen sportlichen Betätigungen, speziell abseits gesicherter Wege und Pisten, kann bei aller gebotenen Eigenverantwortung ein Restrisiko niemals ausgeschlossen werden.

Darüber spricht Sandra Lahnsteiner-Wagner nicht zuletzt in ihren eigenen Camps, die sich exklusiv an Freeriderinnen wenden und bei denen der genussvolle Praxisteil durch möglicherweise lebenswichtige Theorie angereichert wird. „Ich möchte einerseits Gleichgesinnte miteinander vernetzen, ich möchte aber auch meine Erfahrungen weitergeben und die Teilnehmerinnen mit neuem Wissen, neuen Techniken und neuem Selbstbewusstsein stärken, damit sie ihre Zeit in den Bergen noch intensiver genießen können.“

Denn letztendlich geht es ja beim Skifahren (und überhaupt im Leben) in erster Linie um den Genuss. „Auch wenn es nicht so aussieht: Ich bin da draußen im Gelände nicht auf der Suche nach dem Nervenkitzel, sondern nach dem Gesamterlebnis Berg. Sport generell macht mich zu einem glücklicheren, zufriedeneren und gesünderen Menschen.“ Das Skifahren, ihre Lieblingssportart, wie Sandra Lahnsteiner-Wagner sagt, verleiht ihr ein Gefühl der Freiheit und der unbeschwerten Leichtigkeit des Lebens. „Egal, wie steil der Hang ist oder wie schnell ich fahre, Skifahren hat für mich etwas Spielerisches, und bei jedem Schwung muss ich aufs neue Lachen!“

Sandra Lahnsteiner-Wagner ist Skiprofi, Filmproduzentin und Unternehmerin. Ihren neuen Film „Aligned – Between The Sea And The Sky“ präsentiert sie (neben fünf weiteren Freeride-Filmen) zwischen 10. und 13. Dezember 2023 beim #shadesofwinter FilmFest in München, Wien, Kitzbühel und Salzburg. Dieses Filmfestival, das die Leistungen weiblicher Vorbilder hervorheben und damit andere Frauen inspirieren, stärken und verbinden will, hat die Salzburgerin ebenso wie die dahinterstehende Plattform „Shades of Winter“ selbst gegründet.

Shades of Winter

Über die Freundschaft Thees Uhlmann

Schönen guten Tag!

Mein Name ist Thees Uhlmann, und ich mache Musik und schreibe Bücher. „Das ist nicht gut, das ist nicht schlecht, das ist einfach so“, wie mein Vater immer sagte, wenn ich mit der schlechtesten Note in einer Matheklausur, die es gibt, nach Hause kam. Natürlich hat er sich geärgert, aber ich meine, er hat das Bruttosozialprodukt von St. Pölten in meinen Nachhilfeunterricht investiert. Es hat offensichtlich nichts gebracht, und da muss man schon kurz schlucken. Im Endeffekt hat er gesagt, dass die Gnade des Himmels nicht davon abhängt, ob ich etwas gut oder schlecht gemacht habe, sondern dass es schon okay ist, wenn ich überhaupt etwas gemacht habe. Ich finde das eine sehr tröstliche Sache. Wer will schon immer sagen, was gut oder schlecht ist?

Viele Leute lieben es zum Beispiel, sich einen Van zu kaufen um den dann selber auszubauen, darin Lichterketten zu verlegen, kleine Blumentöpfe anzubringen, damit durch Europa zu schippern, das im Internet zu posten und diesem dummen Bus dann auch noch einen Namen zu geben. „Bussi“ oder „Vani“ oder so. Die Leute lieben das. Ich schwöre. Ich hingegen liebe es, wenn solche Busse eine Panne haben und es die ganze Zeit regnet. Ich weiß nicht, wo das herkommt, ich weiß nur, dass es so ist.

musiker thees uhlmann mit manager rainer g ott
© Ingo Pertramer

Was ich aber liebe, ist es, Leute kennenzulernen. Wenn ich zum Beispiel auf das gestrandete Pärchen treffen würde, an der Straße, da wo ich herkomme, würde ich sie abschleppen (das Auto!), ihnen Herberge geben, wie sich das Josef und Maria verdient hätten und würde mich dann mit ihnen bei einem selbst gemachten Lungenhaschee darüber unterhalten, wie es ist, in einem ausgebauten Bus unterwegs zu sein.

Und das Gute an meinem Job ist, sagenhaft viele verschiedene Menschen kennenzulernen.

Da ist zum Beispiel mein Freund Martin.
Der war früher immer der besoffenste Punk und heute ist er Psychologe und einer der aufmerksamsten Menschen, die ich kenne.

Oder meine Freundin Martina. Die war nur die Freundin von einem Freund, und dann hat die jetzt drei Jungs hintereinander bekommen und hat echt geschuftet dafür. Und immer wenn ich die getroffen habe, hat sie die lustigsten und besten und heftigsten Geschichten von sich erzählt, und ich habe immer zu ihr gesagt: „Martina!“, hab ich gesagt: „Entweder Du erzählst die Geschichten auf der Bühne oder du musst ein Buch schreiben!“ Und jetzt nach zehn Jahren hat sie wirklich das Buch fertig und ist eine meiner besten Freundinnen.

Oder mein Freund Uwe. Der weiß alles über Versicherungen. Wenn ich Uwe nach Konzerten treffe, erzählt er immer, wie was mit Versicherungen läuft und es ist wirklich interessanter, sich mit Axel Rose zu unterhalten. Die meisten Stars sind eh gähnend langweilig. Ich zum Beispiel.

Oder eben meine Freundin Alicia. Die ist vor Jahren mal bei einem Konzert von mir einfach stehen geblieben und hat gesagt: „Geh bitte, eure Musik ist urgrausig, aber ihr seid so norddeutsch und maritim!“
Ich meine, ein Kompliment geht doch einfach auch nicht besser. Da gibt man sich Mühe, Kunst zu machen und dann wird man für etwas gut gefunden, für was man gar nichts kann. Die Note ist egal, Hauptsache man existiert. In diesem Falle einfach wir.

Daraus hat sich eine wundervolle Freundschaft ergeben, die schon über mehr als 10 Jahre hält. In meinem Alter sagt man nur noch „… länger als 10 Jahre“, weil einen die richtige Zahl wahrscheinlich das Fürchten lehren würde. 


Und diese Alicia hat jetzt ihr eigenes, dieses Ding zum Laufen gebracht. Wie schön es ist mit Leuten, die man kennt, Zeit zu teilen und zu sehen, wie sie sich über die Jahre langsam, fast unmerklich verändern, wie ein Stein, der vom Wasser der Donau langsam glatt gespült wird. Ich bin ganz stolz auf Dich, Diggi! Zieh durch das Ding!

Dein Thees

Aponcho Wien

Wohlig weich schmeichelt sich der Baumwollstoff an die nasse, kalte Haut. Übergroß, gemütlich und praktisch. Die Kapuze bedeckt die Stirn und lädt dazu ein, durchzuatmen und zu chillen. „Aponcho“ nennt die Wiener Unternehmerin Clarissa Fritzsche ihre Kreation, die dem Poncho indigener südamerikanischer Völker nachempfunden ist und sich nicht zuletzt unter Windsurfer*innen, Wellenreiter*innen und anderen Wasserratten größter Beliebtheit erfreut. „Die Grundidee und wichtigste Funktion ist tatsächlich, dass man sich am Strand darin ganz einfach umziehen und abtrocknen kann“, verrät die leidenschaftliche Surferin.

Letztendlich geht es aber vor allem darum, sich frei zu fühlen – egal, wo man gerade ist. „Natürlich muss man kein Sportler oder keine Sportlerin sein, um eine Freude mit dem Aponcho zu haben. Du kannst ihn zum Beispiel in der Sauna tragen, in der Therme – oder einfach zu Hause. Wenn ich mich nach einem anstrengenden Tag mit meinem Aponcho auf die Couch lege, ist die Welt gleich eine bessere …“

Model Aponcho
© Miriam Joanna

Kreativ muss es sein

Clarissa Fritzsche, 32, ist in einer Familie aufgewachsen, in der traditionsbewusstes Handwerk zum Alltag gehört; ihr Vater Clemens führt bereits in siebenter Generation den 1794 gegründeten Hafner-Betrieb E. Fessler und setzt exquisite Kamine und Kachelöfen. „Ich kann mich erinnern, dass ich schon als kleines Kind in unserer Töpferwerkstatt herumgebastelt habe. Für mich war immer klar, dass ich irgendeinen kreativen Beruf erlernen würde. Ein Jus- oder Wirtschaftsstudium wäre nichts für mich gewesen.“

Schon in der Schule, dem Evangelischen Gymnasium & Werkschulheim, absolvierte Clarissa Fritzsche eine Ausbildung zur Goldschmiedegesellin, danach studierte sie in Hetzendorf Modedesign. Das Nähen, sagt sie, habe sie nämlich schon früh fasziniert: „Meine Oma mütterlicherseits hatte ein eigenes Nähzimmer. Stell dir das vor: Du konntest dich dort kreativ total entfalten, dich ausbreiten und musstest nicht jedes Mal alles wegräumen, wenn du am nächsten Tag weiter nähen wolltest – ein Traum.“

Der glücklichste Mensch

Neben der Begeisterung fürs Handwerk spielt die Liebe zum Wasser eine wesentliche Rolle in Clarissas Leben – und in der Geschichte des Aponchos. „Im See oder im Meer“, sagt sie, „bin ich der glücklichste Mensch. Egal, ob beim Schwimmen, Segeln oder Surfen. Ich liebe das Wasser über alles.“ Lachender Nachsatz: „Deswegen haben mir meine Freunde den Spitznamen ‚Quaxi‘ verpasst.“ Besonders erfüllend ist das Surfen und dieses unbeschreibliche Gefühl, eine Welle erwischt zu haben: „Dann habe ich den größten Grinser im Gesicht, den man sich nur vorstellen kann. Ich fühle mich leicht und frei und habe das Gefühl, ich könnte alles schaffen.“

Im See oder im Meer bin ich der glücklichste Mensch. Egal, ob beim Schwimmen, Segeln oder Surfen. Ich liebe das Wasser über alles.

Die Idee zu ihrem Poncho ist ihr an Portugals rauer Westküste gekommen. Ein zweiwöchiger Roadtrip hatte Clarissa mit zwei Freundinnen unter anderem in ein Surfcamp in Ericeira geführt – „und dort habe ich einen Schnupperkurs absolviert. Ich war vom Wellenreiten sofort so begeistert, dass dieser Sport seither einfach nicht mehr aus meinem Leben wegzudenken ist.“ Zwei Jahre danach war sie wieder in Portugal und sah, wie sich Surfer*innen vor dem Auto umziehen: „Sie hatten Polyester-Umhänge an. Mit einem riesigen, hässlichen Logo vorne drauf. Ich dachte mir: ‚Das ist natürlich praktisch, aber überhaupt nicht schön.‘“ Ein Besuch in einem lokalen Surfshop bestätigte ein erstes Gefühl: „Diese Dinge waren gar nicht so billig, das Material unangenehm und die Farben uncool. Ich wusste: Das kann man besser machen.“

Surferinnen mit der Aponcho Labelchefin im Meer
© Miriam Joanna

Plötzlich Unternehmerin

„Man“ im Sinne von: Sie selbst würde es besser machen! Noch am selben Abend skizzierte Clarissa ihre ersten Ideen auf eine Serviette, zurück in Wien kaufte sie verschiedene Frotteestoffe und begann zu nähen. „Und dann kam im Sommer 2016 die ‚City Wave‘ nach Wien, und ich habe dort als Surflehrerin zu arbeiten begonnen.“ Clarissa trug zwischen den Sessions einen Prototypen ihres Aponchos, grau und altgrün, lässig und praktisch zugleich: „Und vielleicht ein kleines bisschen mit dem Hintergedanken, Werbung in eigener Sache zu machen …“

Der Gedanke ging auf. Und zwar so, dass sich der gemütliche Sommer in eine erstaunlich stressige Zeit verwandelte: „Es hat sich rasch herumgesprochen, was ich mache. Die Nachfrage war so riesig, dass ich tagsüber als Surflehrerin gearbeitet habe und am Abend und in der Nacht in meinem alten Kinderzimmer gesessen bin, Stoffe zugeschnitten und Ponchos genäht habe.“

Diesen einen, diesen magischen Moment, sagt sie, habe es aber nicht gegeben: „Es war nicht so, dass ich plötzlich gesagt hätte: ‚Mit dieser Idee mache ich mich jetzt selbständig‘. Aber irgendwann haben einfach alle Teile perfekt zusammengepasst. Ich habe damals eigentlich in der Kostümbranche beim Film und beim Fernsehen gearbeitet“, erinnert sich Clarissa. Für die Serie „Cop Stories“ zum Beispiel oder für „Ein Leben für die Musik“, einen kitschigen „Heidi“-Verschnitt mit Yvonne Catterfeld und jeder Menge traditioneller Dirndln: „Eine Zeit lang hat mir diese Arbeit ja getaugt, aber sie war mir langfristig zu wenig kreativ. Und mir ist klar geworden, dass ich lieber meine eigene Chefin sein möchte.“

Models mit Aponchos am Strand
© Miriam Joanna

Ein Lächeln auf dem Weg

Clarissa, die sich selbst als „freiheitsliebende Genießerin“ versteht, fühlt sich in ihrem Berufsleben mittlerweile „extrem gut angekommen“ – nicht zuletzt wegen ihrer Kundschaft, von der sie in höchsten Tönen schwärmt: „Die Leute, mit denen ich zu tun habe, sind so unglaublich nett. Selbst, wenn bei einer Lieferung einmal etwas schief gehen sollte und ein Umtausch notwendig wird, reagieren sie freundlich und verständnisvoll.“ Was wohl daran liegen könnte, dass sie ihren Kund*innen – speziell im direkten Kontakt – ihre eigene Freude an der Arbeit und ein Lächeln auf den Lippen mit auf den Weg gibt. „Ich bin generell ein sehr positiver Mensch und trage dieses Gefühl wohl unbewusst nach außen …“

Aktuell lässt Clarissa ihre Ware in einer kleinen Näherei in Tschechien fertigen, maßgeschneiderte Sonderanfertigungen werden in Wien genäht. Die regulären Ponchos, die es in verschiedenen Längen und Größen nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder gibt, sind zweifärbig – „weil ich von Anfang bewusst ein einfaches Design gestalten wollte. Der untere Teil ist grau, die Kundinnen und Kunden müssen nur entscheiden, welche andere Farbe ihnen bei den Schultern und der Kapuze am besten gefällt.“

Doch die qualitäts- und umweltbewusste Unternehmerin weiß, wo sie ihr Produkt noch verbessern könnte. „An der Produktion gefällt mir, dass die Transportwege vergleichsweise kurz sind. Aber die Baumwolle, die aus der Türkei kommt, stammt nicht aus biologischem Anbau. Und weil Nachhaltigkeit natürlich ein wichtiges Thema ist, habe ich bereits eine neue Firma in Portugal gefunden, die in Bio-Qualität arbeitet.“

Kind mit Aponcho im Kinderzimmer zeigt seine Zunge
© Miriam Joanna

California dreamin‘

Den Großteil ihres Geschäftes – nach eigenen Angaben rund 80 Prozent – macht Clarissa Fritzsche über ihren Online-Shop www.aponcho.com. „Ich verschicke meine Stücke nicht nur innerhalb von Österreich, sondern auch nach Deutschland, Italien und in die Schweiz, und sogar nach Australien und in die USA. Ich lese bei den Bestellungen oft, dass die Käufer*innen das Internet nach solchen Ponchos durchforsten und meine am schönsten fanden. Das freut mich sehr.“

Im Februar 2023 hat sie ihren eigenen, 25 m² großen Store in Wien-Wieden eröffnet – in ihrer alten Nachbarschaft. „Ich wohne seit ein paar Jahren mit meinem Freund im 19. Bezirk. Aber der Shop ist drei Minuten von meinem Elternhaus entfernt, in dem auch das Geschäft meines Vaters liegt. Und mein Bruder Constantin verkauft auf der anderen Straßenseite Maßanzüge und Maßhemden. Es ist schön, in einem Grätzel zu arbeiten, wo man praktisch alle Menschen von klein auf kennt.“

Trotzdem ist die Welt von Clarissa Fritzsche natürlich wesentlich größer als nur der 4. Wiener Gemeindebezirk es ist. Die Frage, was denn gegen einen Aponcho-Shop am mondänen Sunset Boulevard in Los Angeles sprechen würde, beantwortet sie deshalb ganz trocken: „Oder in Santa Cruz oder Malibu. Ja, in diese Richtung habe ich tatsächlich schon gedacht. Ich kann mich nicht aufteilen und fühle mich in Wien sehr wohl. Aber ein Franchise-System könnte ich mir gut vorstellen.“

Clarissa Fritzsche, 32, ist gelernte Modedesignerin und betreibt in Wien den „Aponcho“-Store, in dem sie „ein Stück Freiheit für deinen Alltag“ verkauft. Genauer gesagt: lässige Baumwoll-Ponchos für Wasserratten und andere Menschen, die es gern gemütlich haben.

Aponcho