Von Flohmärkten zu Sotheby’s: Kunsthandel Pichler in Wien

Der Familienladen in zweiter Generation ist ein Sammelsurium handverlesener, kuratierter Stücke, die allesamt und einzeln für sich eine Geschichte erzählen. Inmitten sitzt Verena Barth, die das Familiengeschäft 2023 von ihrer Mutter übernommen hat. „Der Kunsthandel Pichler ist mehr als ein Geschäft – er ist eine Ode an die Schönheit vergangener Zeiten, verknüpft mit einem modernen Sinn für Stil und Nachhaltigkeit.“ So beginnt unser Gespräch, in dem die geschäftstüchtige Vintage-Expertin mir einen Einblick in die Welt der Antiquitäten, die besondere Dynamik zwischen Mutter und Tochter und die Freude am Sammeln und Restaurieren gibt.

funk tank: Wie hat alles begonnen und welche Entwicklung hat das Geschäft seitdem durchlaufen?

Verena Barth: Die Gründung geht auf meine Mutter Eva zurück, die 1992 nach ihrer Zeit als Stewardess ihren Traum verwirklichte und in den ehemaligen Räumlichkeiten einer Wäscherei unseren Kunsthandel hier in der Marokkanergasse eröffnete. Ihre Vision war es, ihre Leidenschaft für Kunst zum Beruf zu machen. Was als reines Möbel- und Interieurgeschäft begann, entwickelte sich durch ihr persönliches Interesse weiter und schloss schließlich auch Echtschmuck sowie Modeschmuck aus den Bereichen Vintage und Antiquitäten mit ein.

Wie haben sich die Vorlieben und Ansprüche der Kund*innen im Laufe der Zeit verändert?

Anfangs standen vor allem Möbel im Fokus. Es gab sogar einen eigenen Restaurator und Tapezierer. Heute kann man beobachten, dass andere Stilrichtungen gefragt sind als damals. Zum Beispiel verkaufte meine Mutter viele Biedermeiermöbel, die wir heutzutage kaum noch im Geschäft anbieten. Früher war es auch üblich, dass die Kund*innen ihre Möbel restaurieren oder neu tapezieren ließen. Heute sind viele nicht mehr bereit, in eine aufwändige Restauration zu investieren und stellen ihre Möbel nicht mehr „auf Hochglanz“ in die Wohnung.

Was hat es mit der Entwicklung des Schmuckangebots auf sich?

Im Laufe der Zeit nahm der Schmuck immer mehr Raum im Sortiment ein und ist mittlerweile fast der größte Bestandteil unseres Angebots. Neben Modeschmuck haben wir auch den Bereich Echtschmuck erweitert. Bevor ich 2016 für fünf Jahre ins Ausland ging, arbeitete ich bereits bei meiner Mutter und machte eine Ausbildung zur Gemmologin. In dieser Zeit vertiefte ich mein Wissen über signierten Vintage-Modeschmuck, ein absolutes Lieblingsthema von mir. Während meines Aufenthalts in der Schweiz konnte ich mit antikem und Vintage-Echtschmuck arbeiten und mein Wissen über Diamanten erweitern. Diese Erfahrungen bringe ich jetzt in das Geschäft ein.

Kunsthandel Pichler
© Kunsthandel Pichler
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Mutter und Tochter in einem so kreativen Umfeld?

Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter, was die beste Grundlage für eine Zusammenarbeit ist. Wir haben uns schon immer gut verstanden, auch wenn wir gelegentlich unterschiedlicher Meinung sind. Besonders wichtig war, dass Eva bei der Geschäftsübergabe 2023 offen für Neues war, wie Social Media und den Onlineshop. Natürlich fiel es ihr nach drei Jahrzehnten nicht immer leicht, loszulassen. Ein Beispiel ist das Umstellen des Schreibtisches, der immer an derselben Stelle stand und nach etwa 30 Anläufen schließlich umgestellt wurde. Ich konnte das gut nachvollziehen, und letztendlich haben wir es geschafft.

Nach welchen Kriterien wählt ihr die Stücke für euer Sortiment aus?

Bei uns gibt es keine bestimmte Stilrichtung oder Epoche, die wir bevorzugt verkaufen. Wir wählen Stücke aus, die uns gefallen und die wir uns selbst in unser Zuhause stellen oder tragen würden. Oft geben wir uns gegenseitig Tipps, was dem anderen gefallen könnte. Zudem gehen wir auch auf spezielle Kund*innenanfragen nach bestimmten Schmuckstücken, Interieur oder Accessoires ein.

Woher bezieht ihr eure Sachen?

Der Großteil unserer Dinge stammt aus Wohnungsauflösungen oder von Kund*innen, die uns ihre Stücke direkt anbieten. Diese Angebote erfolgen meist per E-Mail, WhatsApp oder Telefon. Bei größeren Auflösungen kommen wir auch persönlich vorbei. Zudem besuchen wir regelmäßig Flohmärkte im In- und Ausland. Nahezu jede Reise ist mit einem Flohmarktbesuch verbunden. Das sorgt dafür, dass unser Sortiment bunt und abwechslungsreich bleibt.

Wie wichtig sind euch die Restaurierung und Pflege der Stücke, die ihr verkauft?

Jedes neue Stück wird gründlich gereinigt, gepflegt, kontrolliert und bestimmt. Verschiedene Materialien erfordern unterschiedliche Pflege. Bei Reparaturen haben wir nicht nur umfangreiches Wissen und ein großes Netzwerk an Partner*innen, sondern auch die ganze Familie hilft immer wieder mit.

Wie lässt sich die Geschichte bzw. Herkunft eines Stückes eruieren?

Der Stil, das Material und das äußere Erscheinungsbild spielen dabei eine entscheidende Rolle. Besonders hilfreich sind Punzierungen, Marken oder Stempel, die sich vor allem im Schmuckbereich oder bei Edelmetallen finden. Diese erlauben es, Herkunft und Alter des Stücks genau zu bestimmen. Hierfür haben wir eine umfassende Bibliothek zur Hand.

Eva Pichler und Verena Barth vom Kunsthandel Pichler
Eva Pichler und Verena Barth © Kunsthandel Pichler

Meine Mutter hat mir gezeigt, dass Kunsthandel mehr als ein Beruf ist – es ist eine Lebensphilosophie.

Oft entwickelt man eine emotionale Verbindung zu den einzelnen Stücken. Wie trefft ihr die Entscheidung, ob ein Objekt verkauft wird oder ob es in euer privates Sortiment fließt?

Da wir begeisterte Sammlerinnen sind, müssen wir uns manchmal zurückhalten, um nicht alles selbst zu behalten. Oft lege ich mir ein Stück für ein bis zwei Tage zur Seite und schlafe darüber, um zu entscheiden, ob ich es wirklich brauche. Wenn es dann doch in den Verkauf geht, freue ich mich, wenn es jemandem gefällt, der es zu schätzen weiß. Wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass es ein Geschäft ist und die Stücke verkauft werden sollen – sonst ist man am Ende seine eigene beste Kundin!

Was war das aufregendste Stück, das ihr jemals verkauft oder erworben habt?

Ein besonders aufregendes Stück, an das wir uns erinnern, ist ein Panther aus Bronze, den meine Mutter vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt entdeckte. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein dekoratives Objekt, aber sie spürte, dass mehr dahintersteckte. Erst zu Hause, beim genaueren Betrachten, fiel ihr die feine Punzierung auf, die den Panther als Werk eines namhaften Künstlers auswies. Die Überraschung und Freude waren groß, und nach weiterer Recherche entschieden wir, das Stück bei Sotheby’s in London versteigern zu lassen. Es war ein unvergesslicher Moment, der uns zeigte, dass wahre Schätze manchmal im Verborgenen liegen.

Welche Trends im Bereich Vintage und Antiquitäten beobachtet ihr?

Die Objekte haben bereits viele Jahre überdauert, befinden sich oft in ausgezeichnetem Zustand und sind – abgesehen vom Nichtkonsum – die beste Alternative. Früher wurde vieles in höherer Qualität gefertigt, und es war üblich, sorgfältig auf die Dinge zu achten. Diese hochwertige Herstellung wirkt sich positiv auf die Langlebigkeit der heutigen Vintage- und Antiquitätenstücke aus und ist ein Gewinn für Käufer*innen. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass diese Stücke bereits existieren und nicht neu produziert werden müssen, was nachhaltig ist. Zudem kehren viele Trends immer wieder, sodass man im Vintage- und Antiquitätenbereich oft moderne Akzente findet.

Wie kann ich als Laie erkennen, ob es sich um ein „gutes“ Secondhand-Stück handelt?

Besonders wichtig ist die Verarbeitung und die Materialien. Hochwertige Materialien wie echtes Leder oder Massivholz deuten auf Qualität hin. Auch kleine Details wie saubere Nähte oder solide Verschlüsse sprechen für Langlebigkeit. Im Schmuckbereich sollte man auf Stempel oder Punzierungen achten, die Aufschluss über das Material und die Herkunft geben. Die Patina eines Stücks erzählt ebenfalls eine Geschichte – sie zeigt, dass das Objekt gelebt hat und die Zeit gut überdauert hat.

Hochwertige Verarbeitung und kleine Details verraten oft mehr über die Geschichte eines Objekts, als man denkt.

Was sind häufige Fehler, die Käufer*innen beim Einkauf von Secondhand-Objekten machen?

Ein häufiger Fehler ist es, sich zu sehr auf Perfektion zu versteifen. Kleine Gebrauchsspuren sind normal und verleihen einem Stück Charakter. Es ist wichtig, nicht nur auf den Preis zu achten und dabei die Qualität zu übersehen. Viele Käufer*innen neigen dazu, Dinge zu kaufen, die sie letztlich nicht nutzen werden. Frage dich, ob das Stück zu deinem Stil passt und im Alltag verwendet wird. Ein bewusster Kauf sorgt dafür, dass du lange Freude an deinem Vintage-Stück hast.

Was sind eure Pläne für die Zukunft des Geschäfts?

Seit meiner Übernahme konnte ich bereits viele Meilensteine erreichen. Dazu gehören der Aufbau eines Onlineshops und verschiedene Kooperationen, wie das Kunstprojekt Wand.Solo, das ich gemeinsam mit der Kuratorin Barbara Steininger leite. Wir haben dieses Jahr auch einige Events mit Kooperationspartner*innen veranstaltet. Ein weiterer Schwerpunkt war die Weiterentwicklung unserer Social-Media-Kanäle, um das Geschäft und die Produkte vorzustellen. Ich zeige auch gerne, wie ich Vintage- und Antikstücke in meinen Alltag integriere – sei es durch Outfit-Ideen oder Einrichtungstipps. In Zukunft möchte ich meiner Community noch mehr Input geben, wie sie Vintage-Stücke in ihr Leben einbauen können, und mehr Hintergrundwissen vermitteln. Weitere Kollaborationen und Events, insbesondere mit Frauen, stehen ebenfalls auf dem Plan. Ein spannendes Projekt mit meinem Mann, das meine Leidenschaft für besondere Stücke mit einer kreativen Einrichtung in einem neuen Kontext außerhalb Österreichs am Meer verbindet, ist ebenfalls in Arbeit. Mehr Details dazu werden bald verraten, aber es wird einen besonderen Touch vom Kunsthandel Pichler haben.

Kunsthandel Pichler
© Kunsthandel Pichler

Verena Barth vom Kunsthandel Pichler ist ausgebildete Gemmologin und verfügt über umfassendes Fachwissen zu Edel- und Schmucksteinen. In der Schweiz sammelte sie wertvolle Erfahrungen, indem sie für einen Antiquitätenhändler mit Schwerpunkt auf antiken Schmuck tätig war. Seit 32 Jahren ist der Familienbetrieb Kunsthandel Pichler im 3. Bezirk in Wien ein beliebter Treffpunkt für Vintage- und Antiquitätenliebhaber*innen, die nach einzigartigen Stücken aus vergangenen Zeiten suchen. Mit einem Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und der Wertschätzung des Wiederverwendens bietet das Geschäft eine charmante Alternative zum Massenkonsum.

Kunsthandel Pichler

Christina Stürmer: Eine Burg, die nichts erschüttert

Gerade hat Christina Stürmer einen Teil ihrer MTV Unplugged Tour hinter sich, im kommenden Sommer spielt die 42-Jährige mit ihrer Band in Österreich und Deutschland weitere Konzerte. Der Fokus der zweifachen Mama hat sich in den vergangenen Jahren verschoben, denn für sie bedeutet Familie alles. Wie sie ihre Musikkarriere mit dem Mama-Sein vereint und wer die Sängerin dabei unterstützt, hat sie uns im Interview via Videocall während der Tour erzählt:

funk tank: Guten Morgen, liebe Christina, danke, dass du dir Zeit nimmst für unser Interview, du bist ja gerade auf Tour und sicher noch müde vom gestrigen Auftritt …

Christina Stürmer: Guten Morgen, wir kommen gerade vom Frühstück und langsam wieder in die Gänge. Früher haben wir immer bis 1 Uhr mittags geschlafen, mittlerweile ist das nicht mehr so, da merkt man, dass wir in die Jahre gekommen sind (lacht). Normalerweise stehe ich zu Hause um 06:30 Uhr auf, weil meine große Tochter schon in die Schule geht und die Vorbereitungen mit Jause usw. dauern. Jetzt auf Tour hat sich das verschoben, es wird abends später, dafür habe ich den Luxus, dass der Wecker erst um 10 Uhr läutet. Sobald die Tour zu Ende ist, bin ich dann wieder in der anderen Welt. Ich mache jetzt schon Playdates für meine Töchter aus …

Deine beiden Töchter sind 8 und 3,5 Jahre alt. Wie sieht so ein Tourleben aktuell aus? Sind die Kids dabei?

Früher war die Große mit auf Tour, heuer ist Oliver (Oliver Varga, Partner und Bandmitglied, Anm. d. R.) zum ersten Mal überhaupt in all den 22 Jahren nicht mit uns mit und passt auf unsere Kinder auf. Gerade spüre ich, dass diese Tour allen gut tut, nicht nur mir, sondern auch Oliver und den Kindern, das schweißt sie noch mehr zusammen, wenn die Mama mal nicht da ist.

Ich habe es sehr genossen, dass mein Partner bisher immer an meiner Seite war auf Tour, er spielt ja von Beginn an Gitarre in der Band. Bei den heurigen Unplugged Konzerten haben wir es so gelegt, dass es nicht so viele Konzerte am Stück sind und wenn wir getrennt sind, telefoniere ich sehr oft und lange mit meinen Töchtern. Wir hören und sehen uns dank Videotelefonie täglich, es ist okay für sie, aber sie machen sich einen Kalender zu Hause, wo sie Tag für Tag abschneiden, bis ich wiederkomme. Die Tour ist immer überschaubar und ich stimme das mit dem Familienleben ab. Ich hätte so gerne, dass beide einmal mitkommen, bisher hat das aber von den Locations her nicht so gepasst oder wegen der Schule der Großen.

Kommendes Jahr gibt es ein paar Termine, wo es klappen könnte, z. B. in Finkenstein in Kärnten. Da kommen dann sicher auch Oma und Opa mit. Bei uns hält die gesamte Familie zusammen, da unterstützen auch die Großeltern, um Oliver zu entlasten, während ich weg bin.

War es für dich schwierig, deine Arbeit und die Anfänge vom Mama-Sein unter einen Hut zu bringen? Ich meine nicht nur organisatorisch, sondern auch psychisch. Man muss als Frau doch irgendwie alles sein, liebevolle Mama, erfolgreiche Businessfrau, ausgeglichene Partnerin …

Definitiv. Der Vorteil bei mir ist, dass Oliver von Anfang an in der Band gespielt hat und weiß, was auf Tour abgeht, wie eine Albumproduktion abläuft und generell das Business rennt. Manchmal habe ich echt viel zu tun, manchmal bin ich dann aber auch voll und ganz zu Hause.

Eine Schwangerschaft und das Mama-Sein laufen bei jeder Frau anders ab. Ich war zwar nahe am Wasser gebaut und oft gerührt und habe nach wie vor sehr viel Respekt davor, was der weibliche Körper alles kann. Aber ich hatte das große Glück, dass sowohl meine Schwangerschaften als auch die Geburten gut verlaufen sind, auch danach war das Überforderungsgefühl nie da. Sicher auch dank meiner Hebamme, die mich vor, während und nach der Geburt unterstützt hat. Das kann ich jeder Frau nur empfehlen. Und ich habe eine gute Veranlagung, das spielt sicher auch eine Rolle.

Bei meiner ersten Tochter Marina war ich auf Tour, als sie ein dreiviertel Jahr alt war, rückblickend denke ich mir: Wow, krass, wie ich das gemacht habe. Da ziehe ich den Hut vor mir selber. Das Schöne war damals, dass Oliver dabei war, Mama und Papa waren also beim Kind und meine Schwester war als Nanny mit, wenn wir Soundcheck hatten oder das Konzert. Bei der zweiten Tour waren dann Oma und Opa mit und haben aufgepasst. Es ist so toll, dass wir das bisher immer so geschafft haben. Wir haben eine gute Beziehung zu unseren Eltern und Schwiegereltern. Ich habe es selbst als Kind geliebt, mit meinen Großeltern zusammen zu sein, Oliver ebenso, da hat man als Kind ja andere Regeln und Möglichkeiten und darf viel mehr. Und so führen wir das jetzt weiter.

Das klingt idyllisch und schön.

Im Nachhinein denke ich schon an die Zeit, als ich Marina gestillt habe während der Tour. Das Stillen raubt ja viel Kraft und ich musste vor den Konzerten timen, wann ich stille und abpumpe, das war heftig, sie war da ja noch ganz klein.

Mental war da sicher die größte Herausforderung die Öffentlichkeit. Damit hatte ich zu kämpfen. Die Leute haben mich via Social Media als Rabenmutter beschimpft. Und wenn sie beim Papa war, haben die Menschen geschrieben, dass das Kind zur Mutter muss.

Oft bashen ja Frauen andere Frauen …

Ja, es waren eigentlich nur Frauen. Auch da hat mir die Hebamme sehr geholfen. Und die Familie, die mir immer das Gefühl gab, dass alles gut ist. Sowie Marinas gutes Befinden. Sie hatte ja das beste Leben. Sie war immer bei uns und musste im Gegensatz zu anderen Kindern nicht zur Tagesmutter, während die Eltern arbeiten. Ich habe bei der Kleinen gemerkt, dass sie entspannt war, wenn wir entspannt waren. Sie liebt es bis heute, unterwegs zu sein. Es gibt so viele schöne Fotos, wo sie aus dem Bus schaut und die Städte und Landschaft sieht. Das wirkt bis heute.

Es gibt genug weibliche Talente. Es muss die Leistung passen, nicht jede Position muss von einer Frau besetzt werden, aber fähige Frauen gehören gefördert.

Wie finden deine Töchter deine Musik? Versucht ihr als musikalische Eltern, euer Interesse und Talent auch bei ihnen zu fördern?

Wir hören viel Musik zu Hause. Sie sind sehr musikalisch, haben ein Taktgefühl und treffen die richtigen Töne beim Singen, das bewundern wir als Eltern immer wieder. Beide haben noch kein Instrument gelernt, aber natürlich die Möglichkeit, bei uns Instrumente auszuprobieren. Ich bin der Meinung, dass das von selbst kommen und Spaß machen muss, wir zwingen ihnen da nichts auf. Sie lieben es einfach zu tanzen und zu singen und haben ein gutes Rhythmusgefühl, das ist eh schon die halbe Miete.

Die beiden hören gerne Christina Stürmer, die Große war auch schon bei Konzerten. Besonders angetan hat es ihnen die „Wintasun“ mit Wolfgang Ambros. Da sitzen diese zwei jungen Mädchen oft da und singen und feiern Wolfgang Ambros, das finde ich so cool. Jetzt wo die Aufnahmen zu den Unplugged Konzerten vorbei sind, hören wir privat meistens anderes.

Was hörst du privat?

Ich höre sehr gerne X Ambassadors. Marina hat eine Zeit lang Harry Styles gemocht, das finde ich auch spitze. Deine Freunde höre ich nach MTV Unplugged auch ohne Kinder im Auto, es zeigt so schön, wie wir als Eltern Dinge tun, die schon unsere Eltern bei uns getan haben. Z. B. das doofe Zählen, das erstaunlicherweise funktioniert (lacht). Gregory Alan Isakov feiere ich so richtig ab, das habe ich auch bei beiden Geburten gehört, das beruhigt mich. Und ansonsten Mac Miller, der ist leider schon gestorben, sein letztes Album „Circle“ liebe ich.

Ich glaube, dass alles so stabil in mir ist, weil ich meine Kinder habe, die mir so viel Kraft geben und ich dadurch nie das Gefühl habe, abzuheben.

Du bist die erste deutschsprachige Musikerin, die zum MTV Unplugged Format eingeladen wurde. Ein Hinweis darauf, wie ungerecht verteilt es zugeht in der Musikbranche. Musstest du mehr abliefern, weil du eine Frau bist?

Ich hatte nie das Gefühl, dass ich extra abliefern muss in unserer Gruppe, weil ich zwar lange die einzige Frau war, aber eben auch die Chefin. Jetzt auf Tour ist unsere Pianistin Maria mit, das bereichert die Band und bringt eine neue Energie mit.

In der Branche ernte ich viel Respekt, das liegt daran, dass ich das seit 22 Jahren mache.

Generell sitzen schon viele Männer am Hebel im Musikbusiness, das finde ich schwierig. Aber auch hier gibt es Veränderungen, Wanda z. B. haben eine Managerin und bei mir macht das jetzt Barbara Stilke. Auf Tour war es mir wichtig, dass die Vorbands größtenteils weiblich sind und ich so meinen Beitrag dazu leiste. Es gibt genug weibliche Talente. Es muss die Leistung passen, nicht jede Position muss von einer Frau besetzt werden, aber fähige Frauen gehören gefördert. Ich bemerke, dass es noch nicht so üblich ist, dass Frauen andere Frauen unterstützen, es wird besser, aber da gibt es sicher noch Nachholbedarf.

Wir sind geschlechtertechnisch noch lange nicht bei der Gleichberechtigung angelangt. Wie vermittelst du deinen Kindern die Notwendigkeit dieser?

Was meine Kinder betrifft, wollen wir ihnen mitgeben, dass alle gleich sind, unabhängig vom Geschlecht, von der Herkunft oder vom Aussehen her. Das fruchtet auch. Ich lese viel mit meinen Töchtern – es gibt immer mehr Bücher über starke Mädchen und Frauen, Emotionen, Mut, wichtige Werte.

Deine Songs behandeln manchmal traurige Themen. Wie erklärst du deinen Töchtern deine Texte?

Die kleine Lotta bekommt das noch nicht mit, aber Marina mit 8 schon, die weint immer wieder bei meinen Liedern, z. B. bei „Mama“. Wichtig ist, dass man den Kindern das Gefühl von Sicherheit gibt, mit ihnen darüber spricht und auch vermittelt, dass sie bei uns so sein können, wie sie sind. Es ist gut, die Schleusen zu öffnen. Manchmal weiß man gar nicht, warum man weint, das habe ich oft. Aber mir geht es danach immer besser, es ist eine Art von Reinweinen …

Du warst sehr jung schon sehr erfolgreich und wirkst nach wie vor so angenehm bodenständig und gefestigt — wie machst du das?

Das ist schwierig zu sagen, ich überlege ja nicht, warum ich wie bin. Es hat sicher auch was mit der Familie zu tun. Seit der Geburt meiner Kinder hat sich was verschoben, weil sich der Fokus geändert hat, ich bin immer mit einem Fuß zu Hause. Es kann sein, dass das Interview von uns jetzt zu Ende ist und mich meine Tochter gleich danach anruft und fragt, wo ihre Clip-Ohrringe sind (lacht).

Ich glaube, dass alles so stabil in mir ist, weil ich meine Kinder habe, die mir so viel Kraft geben und ich dadurch nie das Gefühl habe, abzuheben. Ich mache wahnsinnig gerne Musik und weiß es zu schätzen, aber das Größte sind meine Töchter.

Ich mache regelmäßig Shiatsu und meditiere, um den Körper richtig zu spüren und zu merken, was einem guttut und was nicht. Ich fühle mich seit den Kindern wie eine Burg, die nichts und niemand erschüttern kann. Weil mein Körper das alles leisten konnte und leistet als Mama. Ich bin davon überzeugt, dass wir das gut machen als Eltern und als Paar. Das macht mich innerlich so stark.

Christina Stürmer
© Ingo Pertramer

Christina Stürmer zählt zu den erfolgreichsten Musikerinnen in Österreich. Die 42-Jährige startete ihre Karriere bei der TV-Show Starmania (2003), mit den nachfolgenden Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum hat sie über 1,9 Millionen Tonträger verkauft. Kommendes Jahr geht Christina Stürmer mit ihrer Band weiter auf MTV Unplugged Tour in Deutschland und Österreich:

26.06.2025 – Erlangen – E-Werk
27.06.2025 – Dresden – Weisser Hirsch
28.06.2025 – Dachau – Musiksommer
29.06.2025 – Graz – Kasematten
04.07.2025 – Wien – Arena Open Air
17.07.2025 – Deggendorf – Donaufest 2025
19.07.2025 – Tuttlingen – Ruine Honberg
20.07.2025 – Finkenstein – Burgarena
25.07.2025 – Linz – Domplatz
01.08.2025 – Immenstadt – Immenstädter Sommer

Christina Stürmer

Das Interview ist mit freundlicher Zusammenarbeit mit !ticket Eventmagazin entstanden.

Katie La Folle: Die erschöpfte Frau auf der Suche nach Sicherheit

Am 6. November hatte Katie La Folles neues Kabarettsolo „Rettet die Teetassen“ Premiere. Darin verarbeitet die 37-Jährige, die bürgerlich Katrin Immervoll heißt, nicht nur all das, was sie beschäftigt, seit sie vor zwei Jahren Mutter geworden ist, sondern widmet sich ganz grundsätzlich dem Thema Feminismus, aber auch ihrer Generation, die so zerbrechlich wie Teetassen ist. Das Ganze tut sie auf höchst melodramatische Weise, gleichzeitig aber doch auch unaufdringlich selbstironisch und immer authentisch – wie in den Programmen davor ist das Pariser Showgirl Katie La Folle ihr Alter Ego. Wir haben mit der Künstlerin über die Zeit der Entstehung ihres neuen Programms im Speziellen und ihr Leben als Frau im Allgemeinen gesprochen.

funk tank: Bei deinem neuen Programm „Rettet die Teetassen“ hat vor allem der Vulva-Song für Aufmerksamkeit gesorgt. Ich nehme an, damit hast du gerechnet.

Katie La Folle: Es war für mich klar, dass ich diesen Vulva-Song mache, weil ich das Thema immer noch so spannend finde. Allein, wenn ich mit meiner Tochter oder meiner Stieftochter darüber spreche, wie man „das da unten“ nennt. Eigentlich sollte es ganz normal sein, das zu benennen – und es heißt eben nicht Mumu, Fifi, Möse oder Schlitzchen, sondern einfach Vulva. Und ich fand es ganz cool, mich mit meinem Vulva-Song den Schambereichen der Frau zu widmen: Es gibt ja Schamlippen, Schamhaar – aber den Schamstängel beim Mann gibt es zum Beispiel nicht (lacht). Also die Scham ist weiblich. Leider.

Was sagst du zum Thema Penisneid?

Ich glaube, den gibt es definitiv, sonst hätte ich kein feministisches Programm gemacht. Aber ich fände es schön, das nicht als Neid zu betiteln, sondern als Penisvorteile. Und diese Vorteile könnten genauso gut zur Vulva herüberwandern, sodass alle Vorteile haben.

Wie sind die Geschlechtsteile in dieses Programm gekommen?

Als meine Tochter zwei Monate alt war, war ich körperlich wahnsinnig erschöpft, aber geistig so wahnsinnig unterfordert, dass ich im Wochenbett zu schreiben begonnen habe. Das waren einfach einmal so meine ersten Gedanken zum Thema Geburt, Schwangerschaft, die Plazenta-Geschichte, die im Programm vorkommt, die Hebammen-Gespräche, … . Dann habe ich das Ganze wieder ruhen lassen, weil ich doch sehr beschäftigt war mit dem Baby, habe aber schon gewusst: Wenn ich nach der Karenz voll zurückkomme, dann mit einem neuen Programm. Also habe ich den Stoff weiter gesammelt und das Ganze auch für das Kabarettstipendium des Bundesministeriums für Kunst und Kultur eingereicht. Das Programm ist im Sommer 2023 entstanden, also gut ein Jahr vor der Premiere. Das große Überthema dabei war die Erschöpfung der Frau, die Suche nach Sicherheit in einer fragilen Welt.

Das Thema hat wohl bei der Einreichung für das Stipendium geholfen.

Ich glaube schon. Sie fanden aber auch die Idee mit dem Bunker im Kleingarten und den Dörr-Ratzen, die darin hängen, sehr lustig. Das kommt alles im Programm vor. 

Kabarettistin Katie La Folle
© Mathias Ziegler
Muss Kabarett einen bestimmten Auftrag erfüllen?

Es sollte kritisch sein. Und wenn man was dazulernt, ist es ja nicht schlecht.

Wie authentisch sind deine Inhalte auf der Bühne? Wie viel Katrin Immervoll steckt in deinem Alter Ego Katie La Folle?

Natürlich ist es immer ein bisschen überzeichnet. Aber zu 95 Prozent muss ich sagen: It’s just me, in einer outrierten Version.

Wie war denn bisher die Resonanz des Publikums angesichts der vielen Geschlechtsteile?

Ich war überrascht. Ich war mir nicht sicher, ob es auch beim älteren Publikum gut ankommt, aber es dürfte auch dieses abholen, was ich so an Feedback bekomme. Ich versuche halt nicht mit dem Hammer draufzuschlagen, sondern das irgendwie ein bisschen charmant zu lösen. Beim Schreiben hatte ich die Schwierigkeit, dass mich so viele Themen bewegt haben und auch zur Verzweiflung gebracht haben, was da alles in der Welt passiert – wie bringt man diese Gedanken lustig auf die Bühne? Genau deshalb hat auch die Vulva diesen Song gekriegt, weil mit Musik alles ein bisschen leichter zu verdauen ist. Es gefällt offenbar Jung wie Alt und Frauen wie Männern. Gerade vorhin hat ein alter weißer Mann zu mir gesagt, dass er es richtig toll fand.

Wenn du dein Aufwachsen vor rund dreißig Jahren mit dem deiner Tochter und deiner Stieftochter vergleichst: Hat sich da gesellschaftlich etwas verändert?

Ich glaube schon. Allein, wie sich Geschichten in Büchern und Fernsehserien verändert haben. Natürlich nicht alles, Grimms Märchen mit der bösen Stiefmutter lesen wir ja trotzdem immer noch. Aber es ist alles doch irgendwie ein bisschen – ich hasse dieses Wort, aber – empowernd geworden. Mädchen können heute auch die Dinge machen, die früher als typisch männlich gesehen wurden. Ich glaube schon, dass sich da in den Medien und auch in der Gesellschaft etwas ändert. Aber dann gibt es auch so schöne Gegenbewegungen wie die Herdprämie der FPÖ, die uns doch wieder in alte Rollenbilder treiben möchte. Sowas bringt mich zur Weißglut.

Es gibt ja Schamlippen, Schamhaar – aber den Schamstängel beim Mann gibt es zum Beispiel nicht. Also die Scham ist weiblich. Leider.

Es gibt aber auch Frauen, die sich tatsächlich wohl in der Rolle des vom Mann versorgten Heimchens am Herd fühlen.

Ich verstehe das auch total. Das hat mich bei mir selbst so erschreckt, dass ich da so schnell in diese alte Rolle zurückgefallen bin, vor der es mir eigentlich gegraust hat: Mein Mann hat zwar einen Papamonat gemacht, aber er war dann der, der die Brötchen nach Hause bringt. Immerhin gibt es Karenzgeld, aber von dem eine Wohnung zu bezahlen ist in Wien unmöglich. Es hat mich ziemlich gewurmt, dass ich nicht gleich wieder so viel arbeiten konnte, wie ich eigentlich wollte. Auch jetzt ist es so, man hat einfach nicht so viele zeitliche Ressourcen, vor allem, wenn man gern Mama ist und gern Zeit mit seinem Kind verbringt. Es ist immer ein Widerspruch. Und man kann es auch nie jemandem recht machen. Wenn man das Kind zu früh in die Betreuung schickt, ist es falsch, aber man soll ganz schnell wieder arbeiten gehen, und zwar am besten Vollzeit, weil Teilzeit schlecht für die Pension und für das System ist. Und die große Debatte dreht sich zu Recht darum, dass die Care-Arbeit daheim nicht so honoriert wird wie Berufstätigkeit. Und deshalb zahlen wir in keine Pensionskasse ein und stehen dann in der Altersarmut da. Wenn man das Glück hat, dass eine Beziehung bis zur Pension hält, dann passt alles – aber die Hälfte der Ehen wird vorher geschieden. Deshalb haben Alleinerzieherinnen einfach die ärgsten Existenzängste.

Wer passt jetzt gerade auf deine Tochter auf?

Der Papa natürlich. Am Vormittag ist sie im Kindergarten, da versuche ich so viel wie möglich zu arbeiten, und am Nachmittag bin ich dann für sie da oder mein Mann oder beide. Jetzt in der Vorbereitung aufs Programm hat oft er das Kind ins Bett gebracht, und ich habe noch geschrieben oder geprobt bis nach Mitternacht. Das sind schon arge Tage, die man da meistert.

Schafft ihr Halbe-Halbe?

Ja, aktuell schon, weil er gerade in Bildungskarenz ist. Aber wenn er als Angestellter Vollzeit arbeitet, geht es sich leider nicht aus.

Musst du jetzt Abstriche machen? Oder kompensiert das, was du mit deiner kleinen Tochter erlebst, das, was du als Bühnenkünstlerin versäumst?

Familiär ist es auf jeden Fall erfüllend, ein Kind zu haben. Ich muss zeitliche Abstriche machen. Ich realisiere auch, dass ich nicht mehr die zeitlichen Möglichkeiten wie früher habe. So viel zu unterrichten wie vorher, geht sich zum Beispiel jetzt nicht mehr aus. Natürlich kann man sich absprechen, aber man muss immer organisieren – das hört ja nicht auf, bis die Kinder selbstständiger werden. Man gibt sehr viel, da bleibt dann nicht mehr sehr viel Zeit und Energie für andere Dinge. Wenn man arbeiten möchte, muss man die restliche Energie, die man hat, dorthin kanalisieren. Das funktioniert bei mir ganz gut, aber auch nur mit Unterstützung von Papa, Großeltern, Babysitterin.

Nicht umsonst heißt es: Man braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.

Das stimmt absolut. Es gibt nichts Gefährlicheres, als wenn man nur noch zu Hause ist in diesem Dreiergespann Vater-Mutter-Kind und sich gar niemanden dazuholt. Ich war echt eine Mama, die viel unternommen hat, aber du bist trotzdem sehr viel allein mit dem Baby – und geistig bist du dann echt unterfordert. Da ist es ganz wichtig, sich mit anderen Eltern zusammenzutun, um einen Austausch zu haben. Ich habe auch oft meine Eltern besucht, einfach damit auch einmal wer anderer das Baby hält. Weil es wird schnell einmal zu viel, und man vergisst sich selbst.

Du hast im Jahr 2012 eine Saison als Tänzerin in Paris verbracht. Hast du da einen anderen Umgang mit Frauen und Mädchen mitbekommen als in Österreich?

Mein Fokus war damals klarerweise ein anderer, aber ich habe immer noch französische Freund*innen. Und was ich so mitbekomme, leben die das ganz anders, die sind von Grund auf feministischer eingestellt. Da ist es eher schon fast ein Stress, dass man rasch wieder in den Job zurück muss, dort gibt es auch nur drei Monate Karenzgeld. Nach drei Monaten mein Kind abzugeben, wäre mir zu früh gewesen. Aber es ist auch okay, wenn man es tut – ich bin absolut pro Kinderbetreuungseinrichtungen. Man muss es sich halt auch leisten können.

Braucht es im Jahr 2024 wirklich noch immer feministisches Kabarett?

Ja, weil es scheinbar immer noch nicht angekommen ist, dass Gleichberechtigung wichtig ist. Und es ist ein wahnsinnig abgedroschener Satz, aber es braucht feministische Themen auf der Bühne, damit sie normal wird. Es ist zum Beispiel immer noch so, dass jede*r eine Meinung zum weiblichen Körper hat. Frauen werden objektiviert und sollen einem gewissen Bild entsprechen. Das löst sich eh zum Glück langsam und normalisiert sich. Da spielen auch die sozialen Medien eine Rolle. Zum Beispiel gibt es jetzt diesen „Women in male fields“-Trend, bei dem typische patriarchale Aussagen ins Weibliche umgedreht werden. Zum Beispiel: „Sorry, meine Vulva braucht Platz. Deshalb mache ich Womanspreading.“ Oder: „Wenn er so viel Haut zeigt, dann braucht er sich nicht zu wundern.“ Aber es ist immer noch so, dass man als Frau kritischer betrachtet wird.

Was gibst du da deiner Tochter mit?

Laut zu sein und kontern zu lernen. Und drauf zu scheißen.

Katrin Immervoll wurde 1987 in Wien geboren und hat eine internationale Karriere hinter sich. Anfang der 2010er-Jahre war sie als Tänzerin in Frankreich, Deutschland und Großbritannien engagiert und kam sogar bis in die Ukraine und nach Russland. Zurück in Österreich startete die Absolventin des Wiener Konservatoriums, die auch in zahlreichen Musicals wie „Evita“, „Kiss me, Kate“ und „Sound of Music“ aufgetreten ist, eine Karriere als Kabarettistin. Ihrem ersten Soloprogramm „Die folle Wahrheit“, das bereits 2012 in einem Cabaret in Paris entstanden war, folgten „Finden“ (2017), „Folle vertont“ (2019) und „Furios“ (2020). Immer mit dabei war und ist ihr Alter Ego Katie La Folle, das Pariser Showgirl, das allen Programmen der 37-Jährigen seinen sympathischen Stempel aufdrückt, so auch bei ihrem neuen Programm „Rettet die Teetassen“, das momentan in Wien zu sehen ist.

Katie La Folle

Anna Friedberg „Ich bin da irgendwie reingepurzelt“

Ein Mittwochvormittag Mitte Oktober: Anna F. schaltet sich für unseren Zoom-Call von einem relativ schmucklosen Balkon zu – viel Beton, wenig Grün, noch weniger Ausblick. Man könnte diesen Balkon überall vermuten, vom Wiener Stadtrand bis zum Berliner Plattenbau, aber für das ärmellose T-Shirt und die schwarze Sonnenbrille, mit der Anna F. vor der Kamera sitzt, ist es im Oktober zu kalt und zu grau, egal ob in Wien oder Berlin. „Ich bin gerade in Athen“, sagt sie dann auch gleich, „hier ist es noch angenehm warm.“ Nach einem intensiven Jahr gönnt sich Anna F. noch ein paar Tage Urlaub, bevor es mit Promotion und Konzerttour losgeht. Nach ihren beiden Solo-Alben ist „Hardcore Workout Queen“ nun das erste, das sie gemeinsam mit ihrer Band Friedberg veröffentlicht (Release: 8.11.). Es sei eine Art „musikalischer Road-Trip“, sagt Anna F. Nicht nur, weil die Künstlerin „einfach gerne drauflos“ macht, ohne bestimmtes Ziel. Sondern auch, weil selbst in der Musik Abwechslung brauche. „Ich finde Alben, auf denen Lieder zu ähnlich klingen, sehr schnell langweilig. Da höre ich dann einfach nicht mehr zu.“ Das ist wohl der Hauptgrund, dass sich auf „Hardcore Workout Queen“ Indie-Rock mit Elektro-Sounds, Dance und ein bisschen Pop-Beats abwechseln. Von Langeweile jedenfalls keine Spur.

funk tank: Anna, du hast dein letztes Album vor zehn Jahren veröffentlicht, sechs Jahre lang hast du an „Hardcore Workout Queen“ gearbeitet. Was hat so lange gedauert?

Anna F.: Als ich von Berlin nach London gezogen bin, musste ich mich erst einmal zurechtfinden und ankommen. Und dann kam noch Corona. Aber grundsätzlich liegt es wahrscheinlich eher daran, dass ich sehr lange an Dingen arbeite, bis ich etwas wirklich gut finde. Ich mache wirklich sehr viele Versionen von meinen Songs, probiere aus, feile daran herum. Das ist nicht schlau, weil es viel zu lange dauert, das weiß ich. Vor allem, weil ich dann meistens eh zur Ausgangsidee zurückkehre.

Das ist spannend – in der Werbebranche heißt es immer: Nimm nie die erste Idee. Alles, was danach kommt, ist besser.

(Lacht) Ja? Vielleicht ist das in der Musik anders. Ich finde, man kann diesen besonderen Vibe, den eine erste Aufnahme hat, nur ganz schlecht wiederherstellen. Selbst, wenn sie mit schlechtem Equipment an irgendeinem x-beliebigen Ort aufgenommen wurde. Zumindest bei den Vocals funktioniert das für mich nicht – wenn man Drums oder Gitarre dann nochmal einspielt, ja, okay. Aber bei der Stimme? Nein, ich finde, das ist eine ganz bestimmte Stimmung, die du nicht rekreieren kannst.

Wann weißt du denn, wann der Moment ist, einen Song „loszulassen“?

Das ist ein Gefühl, das ich ganz schwer erklären kann. Ich bin sehr kritisch mit dem, was ich mir selbst von anderen Musiker*innen anhöre und dem, was ich selbst produziere. Wenn ich mir denke: „Das würde ich mir selbst gerne anhören!“, bin ich bereit zu sagen: Gut, der Song ist fertig.


Als Anna F. hast du dich zu Beginn deiner Karriere als Solo-Künstlerin etabliert. Wie ist es jetzt, mit Band zu arbeiten?

Noch bevor es „Friedberg“ in dieser Konstellation gab, hatte ich schon sehr viele Songs geschrieben. Nicht nur den Text, sondern auch die Parts für die Instrumente. Wir sind ja eigentlich eine Live-Band – das klingt teilweise beim Konzert auch komplett anders als die Studioaufnahmen. Aber der Großteil des kreativen Prozesses liegt eigentlich bei mir.

Macht man es sich damit schwerer oder leichter?

Gute Frage. Ich weiß es nicht genau, das ist wahrscheinlich Ansichtssache. Es ist meine Art zu arbeiten, ich mache das gerne so.

Also ist es eigentlich Anna F. mit Band?

Es ist mein Projekt, ja. Aber die Live-Shows sind ja wirklich unser Herzstück und die sind uns allen superwichtig. Da heben wir die Songs und die Musik einfach nochmal auf eine komplett andere Ebene. Die Live-Versionen sind ja teilweise doppelt so lang, wir haben ganz lange Jam-Parts und haben da auf der Bühne auch eine richtige Energy. Das ist super. Unseren ersten Live-Gig haben wir übrigens ganz spontan in einem Pub in London an einem Sonntag gespielt, ohne Soundcheck oder Probe vorher. Vor einem Haufen Fremder, die mit ihren Familien gerade „Sunday Roast“ (klassischer Sonntagsbraten, Anm.) gegessen haben. Wir wollten es einfach probieren. Zwei Wochen später hatten wir nochmal einen Gig in einem anderen kleinen Laden – zufälligerweise war dort gerade ein Booking-Agent. So kam dann eines zum anderen.

Du bist von Wien erst nach Berlin und dann nach London. Hier bist du musikalisch jetzt angekommen?

Irgendwie schon. Ich wollte ja eigentlich erst nur für ein halbes Jahr her, aber irgendwann hat es sich richtig angefühlt, hier zu bleiben. In Berlin habe ich mich oft treiben lassen, in London habe ich richtigen Antrieb bekommen, die Stadt ist total inspirierend. Ich lebe im Nordosten von London, in Hackney Wick. Hier leben und arbeiten viele Kreative – Regisseur*innen, Fotograf*innen, Grafikdesigner*innen, Musiker*innen, Filmproduzent*innen. Da ergeben sich oft tolle Dinge, selbst, wenn man nur in der Früh seinen Coffee-to-go holt.

Wie ist dein Blick von London aus auf die österreichische Musikszene?

Manchmal habe ich schon das Gefühl, dass man aus Österreich weggehen muss, um irgendwie Wertschätzung zu bekommen – ich glaube, dass sich da nicht viel verändert hat. Und sonst glaube ich, dass sich österreichische Künstlerinnen und Künstler schon sehr gut behaupten, vor allem aus Deutschland schaut man interessierter nach Österreich und was sich hier tut.

Bandfoto Friedberg
© Lewis Vorn

Manchmal habe ich schon das Gefühl, dass man aus Österreich weggehen muss, um irgendwie Wertschätzung zu bekommen.

In Österreich bist du als „Popwunder“ (Zitat: Die Presse) groß geworden. Wie schaust du auf die Anna F. von damals? Willst du dieses „Label“ noch mit dir in Verbindung bringen?

Boah, manchmal denke ich mir schon, dass ich da einfach so reingepurzelt bin. Ich bin ja direkt von Friedberg nach Wien gekommen und ich hatte ja auch kein richtiges Management oder so und habe überall mitgemacht. Im Nachhinein denke ich mir, da hätte ich manchmal auch ‚Nein‘ sagen können – oder jemand hätte das für mich machen können. Aber das ist nie passiert, ich hatte das Ruder nicht wirklich in der Hand, sondern habe irgendwie immer Menschen getroffen, die mir gesagt haben, was ich jetzt als Nächstes am besten machen sollte. Das ist jetzt definitiv anders, ich habe da viel dazugelernt, sage öfter auch mal ‚Nein‘, weil ich gelernt habe, auf mich und mein Bauchgefühl zu vertrauen. Ich war auch nie wirklich Teil einer „Szene“, was schade ist. Wobei ich nicht mal genau weiß, ob es so eine große Musikszene damals so richtig gab, oder ob sich das erst mit der Zeit etabliert hat. Ach ja, und ich glaube übrigens, dass ich mit all dieser Erfahrung eine ganz gute Managerin und Beraterin wäre (lacht).

Kann man das Projekt „Friedberg“ auch als Abschied an Anna F. sehen?

Für mich ist es eine Art von Abschied, ja. Aber keine Sorge: Es ist nicht schlimm für mich, wenn andere Menschen mich als Anna F. in der Band Friedberg sehen.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass du früher sehr zurückhaltend und schüchtern warst, deine Ideen mit anderen zu teilen.

Das kann man wahrscheinlich auch als Zuschreibung an die Anna F. von früher sehen. Früher war das ganz schlimm, da habe ich Songs monatelang mit mir rumgetragen. Ich hatte wirklich Angst davor, sie jemandem zu zeigen, weil ich Angst vor einer Bewertung hatte – vor allem von Menschen, die man kennt und schätzt. Das hat mich richtig fertig gemacht. Aber da spielt mittlerweile auch rein, dass ich mehr Selbstsicherheit habe und auf meinen Bauch hören kann. Und mir ist es ja auch wichtig, Feedback zu bekommen und damit zu arbeiten. Aber grundsätzlich will man ja, dass das, was da aus dem Innersten von einem selbst hinauskommt, von anderen gemocht wird, oder? Damit bin ich wahrscheinlich auch nicht alleine.

Die Steirerin Anna Wappel alias Anna F. ist seit 20 Jahren Teil der heimischen Musikbranche. Der Durchbruch gelang der heute 38-Jährigen im Jahr 2009 mit ihrem Hit „Time Stands Still“, im selben Jahr veröffentlichte sie mit „For Real“ ihr erstes von drei Alben und sie erhielt den Amadeus Austrian Music Award. Seit 2018 lebt Anna F. in London, mit ihrer Band „Friedberg“ war sie kürzlich Vorband von Placebo, ihre Songs werden auf dem renommierten Sender BBC Radio 6 gespielt, jetzt hat die Band mit „Hardcore Workout Queen“ ihr erstes Album veröffentlicht.

Friedberg touren im Dezember durch Deutschland, Frankreich, Österreich und Portugal: Friedberg Live

Friedberg – Website

Alfred Dorfer: Meisterlicher Blödler, scharfsinniger Satiriker

Er zählt zu den beliebtesten Kabarettisten des Landes und ist neben Josef Hader der einzige Komiker in Österreich, der auch im gesamten deutschsprachigen Raum humoristisch verstanden und verehrt wird. Alfred Dorfer steht seit den 80ern erfolgreich auf der Bühne und hat spätestens mit den Produktionen „Indien“ (1993) und „Muttertag“ (1993) sowie mit der TV-Serie „MA 2412“ (1998–2003) auch im Film- und Fernsehbusiness für Aufsehen gesorgt. Mit der Late-Night-Show „Dorfers Donnerstalk“ (2004–2010) hat Dorfer sein satirisches Talent bewiesen. Es folgten zahlreiche Produktionen und Programme. Bis heute schafft Alfred Dorfer die perfekte Balance zwischen befreiender Unterhaltung und scharfsinnigem Humor, der auch einmal wehtut, weil er so treffend unsere Zeit und Gesellschaft behandelt.

Anlässlich des neuen Programms „GLEICH“, das ab 18. Oktober im Wiener Stadtsaal zu sehen ist, hat Alfred Dorfer mit uns im Wiener Café Prückel über Berufliches wie Privates gesprochen …

funk tank: Wir sitzen heute im Café; Kaffeehäuser haben ja in Wien eine lange Tradition, auch unter den Kunstschaffenden als Ort der Inspiration. Ist das Kaffeehaus auch ein Arbeitsplatz für Sie und entstehen hier kreative Texte?

Alfred Dorfer: Ja, manchmal entstehen in Kaffeehäusern auch meine Texte. Weil ich Gott sei Dank die Eigenschaft habe, dass ich Umgebungen akustisch ausblenden kann. Das haben sehr viele ja nicht, ich kenne Leute, die hören, was die ganz hinten im Raum reden.

Und wollen es auch wissen …

Genau. Ich will es nicht wissen und ich höre es auch nicht.

Wo und wie trinken Sie Ihren Kaffee am liebsten?

Früher war das Drechsler mein Stammcafé, das hat aber jetzt ein neues Konzept. Das Prückel mag ich sehr, liegt für mich jedoch aus der Hand, weil ich im 4. Bezirk wohne. Ansonsten im Sperl. Im ehrwürdigen Café Jelinek war ich gerne mit meinem Sohn, als er klein war. Dem habe ich versucht anzutrainieren, dass Kaffeehäuser großartig sind.

Generell ist es so, dass ein Tag ohne Kaffee-Beginn nicht geht. Kennen Sie diese Dreher? Das ist meine Art des Kaffees. Ich habe keine Maschine. Jeden Tag schraube ich mir den Kaffee zusammen und trinke ihn. In Kaffeehäusern bevorzuge ich dann Espresso.

Ich möchte, bevor wir zu Ihrem neuen Programm kommen, noch kurz bei Wien bleiben, konkret bei Ihrem Studium der Thewi (Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Anm.). Ich habe 2005 begonnen, Thewi zu studieren und kann mich noch genau daran erinnern, dass ich Sie in den ersten Tagen in der Uni gesehen habe und sofort wusste: „Hier bin ich richtig, hier werde ich was lernen.“

Was für ein Fehlschluss (lacht).

Ja, das stimmt, es war dann doch eher ein brotloses Studium, aber wunderschön (lacht). Sie haben ja lange Pause gemacht mit dem Studium, warum haben Sie sich dann dazu entschlossen, es wirklich fertig zu machen? Ist das was typisch Österreichisches, wo Titel ja noch wichtig sind?

Nein, es war so, dass ich in den 80er-Jahren das Studium fertig gemacht habe, damals war es ein Doktoratsstudium. Ich bin mit dem Diss-Thema in der Hand rausgegangen und habe mir gedacht, dass ich das nicht packe. Ich war 23 Jahre alt. Dann ist es auch geruht, 20 Jahre lang. Irgendwann wurde ich auf Tournee gefragt, warum ich aufgehört habe, obwohl ich doch schon so weit war und nur mehr die Arbeit gefehlt hat. Und ich wusste keine Antwort darauf. Da mich das universitäre Umfeld immer interessiert hat, habe ich dann meine damalige Doktormutter Hilde Haider angerufen und gesagt: „Hier spricht Alfred Dorfer, ich würde jetzt gerne die Diss machen.“ Und sie meinte: „Ich warte schon 20 Jahre auf Sie.“ Zu der Zeit wurde ja das System umgestellt, also musste ich zuerst das Magisterium abschließen und habe danach die Diss geschrieben.

Was ist bis heute Positives hängen geblieben aus dieser Studienzeit? Damals war das ja noch im historischen Institut in der Hofburg …

Ja, wunderschön. Da ich damals parallel Schauspiel gemacht habe, war ich der Meinung, dass du auch die Theorie kennen solltest, wenn du einen künstlerischen Beruf ausübst. Du solltest über Theatergeschichte Bescheid wissen und Stilfragen beurteilen können. Für mich ist Theaterwissenschaften ja ein Bildungsstudium, das war z. B. auch der Stil in der DDR, dass sie ihre Künstler*innen theoretisch ausgebildet haben.

Da mein Sohn dann schon groß war, hatte ich wieder die Zeit dafür und habe das Studium dann nach vier Jahren abgeschlossen. Mir ging es eher darum, eine Lücke zu füllen und eine ungelöste Frage in meiner Biografie zu beantworten. Bei der Promotionsfeier war ich z. B. nicht, ich unterschreibe auch nicht mit Dr. Alfred Dorfer …

Das Studium hat mir zudem noch etwas gebracht, denn aufgrund dieser Tätigkeit habe ich dann einen Lehrauftrag in Graz und Klagenfurt auf der Uni bekommen und rund acht Semester lang gelesen, was toll war.

Ich denke, dass die Tendenz, die Leute gegeneinander aufzubringen, aufspaltend ist. Damit meine ich nicht nur die FPÖ, sondern auch die andere Seite. Eine schlechte Migrationspolitik und eine schlechte Bildungspolitik spaltet alle.

Bildung hat ja auch was mit Politik zu tun bzw. vice versa. Politisch schaut es bitter aus, wenn wir an die Wahlergebnisse bei uns denken. Ihre persönliche Einschätzung: Wie geht es weiter in der Politik? Tritt Van der Bellen zurück? Wird Kickl Kanzler?

Das Problem ist, dass ich mich sehr damit beschäftige, aber es nicht weiß. In dieser Geschichte bin ich ratlos. Wir haben ja praktisch nur zwei Optionen. Und beide stehen für mich nicht dafür, dass wir die großen Probleme, die wir haben und in Zukunft noch mehr haben werden, lösen können. Daher fürchte ich, dass bei uns bald italienischer Wind wehen wird mit Wahlen alle zwei Jahre. Zumindest war das dort früher üblich. Ich denke, dass die Tendenz, die Leute gegeneinander aufzubringen, aufspaltend ist. Damit meine ich nicht nur die FPÖ, sondern auch die andere Seite. Eine schlechte Migrationspolitik und eine schlechte Bildungspolitik spaltet alle. Hätten wir funktionierende andere Parteien, wäre das nicht so ausgegangen. Die personelle Ausdünnung sollte man auch einmal besprechen, das ist zwar kein österreichisches Problem, aber bei uns ist es schlagend. Wo sind die Persönlichkeiten und die Programme? Es fehlt auch, dass die Politiker*innen sagen: „Wir haben einen Fehler gemacht und uns geirrt. Gehen wir es an und ändern das.“

Was wäre Ihre erste Amtshandlung als Politiker?

Ich bin kein Politiker und würde es auch nie machen. Ich könnte es gar nicht, alleine von meiner Psychostruktur her. Du stellst als Politiker*in nur mehr dar, durch die ständige Beobachtung kann alles gegen dich verwendet werden, du verlierst dein Leben.

Krisen haben und hatten wir weltweit. Corona, Kriege, Wirtschaft. Das alles hat natürlich auch die Psyche der Menschen verändert. Was tun Sie persönlich, um zuversichtlich zu bleiben und sich nicht runterziehen zu lassen?

Ich bin grundsätzlich jemand, der immer versucht, konstruktiv zu sein. Das ist noch lange nicht optimistisch (lacht).

Es hat aktuell tatsächlich was gegeben, wo mir das Herz übergegangen ist vor Freude. Die Reaktionen der Menschen auf das Hochwasser waren so positiv. Unter Einsatz der eigenen Gesundheit, ganz egal ob Rot, Blau oder Grün, haben Menschen gratis und in großer Zahl geholfen. Das ist das wirkliche Gesicht des Landes, noch, das finde ich großartig und das gilt es auch zu betonen und daraus Ressourcen zu ziehen. Ich werde Benefiz-Veranstaltungen für die Leute machen, die geholfen haben, die Bergrettung, die Feuerwehr, die Freiwilligen, … Das kann ich dazu beitragen.

Am 18. Oktober feiert Ihr Programm „GLEICH“ Premiere im Wiener Stadtsaal. Mir stellt sich die Frage, warum Kabarett-Programme meist sehr neutrale Titel haben. Bei Ihnen ist es „GLEICH“, bei Thomas Maurer ist es „Trotzdem“. Das kann ja alles und nichts bedeuten …

Um aus der Schule zu plaudern: Du brauchst einen Titel, bevor du weißt, was du machst. Weil die Programmhefte viel früher gedruckt werden und der Vorlauf der Theater lange ist. Du brauchst auch einen Pressetext, bevor du genau weißt, was du machst. Daher ist es super, wenn du einen Titel hast, wo du danach was dazu sagen kannst (lacht). Da kann quasi nix falsch sein an „GLEICH“, „Trotzdem“, … Bei „GLEICH“ kann man immer noch sagen: „Es hat drei Bedeutungen. 1. Damit ist gleichartig gemeint; 2. Es passiert gleich; 3. Alles ist mir gleich.“ Die Wahrheit ist: Der Titel hat mir gefallen, bevor ich wusste, wohin die Reise geht. Und ein kurzer Titel ist immer gut, weil man da relativ wenig falsch schreiben kann und es sich jede*r merkt.

Worum geht es im neuen Programm?

Mittlerweile weiß ich, worum es geht. Es geht um einen sehr losen Rahmen, wie immer bei meinen Programmen. Beim Programm „und …“ war es die Situation Umzug; jetzt geht es um eine Parabel und zwar darum, dass die zu teuren, alten Menschen im Weg sind und sie daher ausgesiedelt werden sollen. Da sie die kaufkräftigste Generation sind und wichtig für die Gesellschaft, weil sie zu den Reichsten gehören, die Wahlen entscheiden usw., kann man sie nicht einfach wegräumen oder sie umbringen. Aber sie stören. Sie wohnen in viel zu großen Wohnungen und werden daher alle zusammengelegt und gemeinsam betreut. Ich werde engagiert, um in diesem Ghetto im Theater aufzutreten und dort der Bezirkskasperl zu sein. Es geht darin überhaupt nicht um die Diskriminierung der Alten, sondern eher um den Umgang mit dem Alten, in dem wir noch stecken. Das bietet wunderbare Gelegenheiten, um u. a. über Migration, Bildung, Generationskonflikte zu sprechen. Aber eben auf meine Art, ohne gegen jemanden oder etwas zu wettern.

Portraitfoto Kabarettist Alfred Dorfer im Zuge vom neuen Programm "Gleich"
© Stefan Csáky, www.grainyday.photo

Ich bin grundsätzlich jemand, der immer versucht, konstruktiv zu sein. Das ist noch lange nicht optimistisch.

Sie nehmen also keine Position ein …

Das mache ich selten. Manchmal tue ich das, damit es nicht zu Missverständnissen führt. Ironie kann man ja immer so oder so deuten, die einen fühlen sich bestätigt, die anderen angegriffen. Aber im Prinzip ist es keine Predigt.

Sie treten ja auch viel in Deutschland auf. Adaptieren Sie Ihr Programm dafür? Hat man dort einen anderen Schmäh?

Ich wollte deswegen nach Deutschland gehen, um herauszufinden, ob das, was ich mir ausdenke, nicht nur ein Lokalkolorit ist. Und es hat in Deutschland und der Schweiz funktioniert und tut es noch. Im Laufe der 20 Jahre habe ich aber begonnen, die Orte so auszusuchen, wo ich das Gefühl hatte, dass man es humoristisch gut versteht und die wegzulassen, wo man sowieso anrennt. Z. B. Köln. Ich bin viel zu alt und es ist viel zu weit weg, um meine Abende damit zu verbringen, dort Humorbotschafter zu sein. Die Karnevalshochburg hat einfach einen anderen Zugang zu Humor.

Im Zuge des neuen Programms habe ich gesehen, dass Sie auf Instagram sehr aktiv sind, sogar Reels gepostet werden. Sind Sie Fan der neuen Medien oder muss man da einfach mitmachen? Reichweite haben Sie ja sowieso …

Mich interessiert an Social Media etwas: Mich interessiert, wie man in diesem ganzen Müll und Sumpf mit Bild oder Text etwas herstellen kann. Etwas, das was aussagt, auch in der Kürze der Aufnahmefähigkeit. Ich bin noch in der Versuchsphase. Ich glaube, dass das eine Möglichkeit ist, eine Kolumne zu haben. Wie ich sie damals in der Zeit hatte, wo ich 14 Jahre lang jede Woche versucht habe, politische Themen aus satirischer Sicht darzustellen. Die noch offene Frage, ob das auf Social Media auch geht, möchte ich klären. Und ich will herausfinden, ob ich so jüngeres Publikum ansprechen kann.

Sie sind Meister im Blödeln und beherrschen tiefsinnige Komik – was ist leichter zu schreiben/spielen?

Diese von Ihnen angesprochene Spanne bildet sehr gut ab, was ich bin. Weil ich finde, dass Unterhaltung, wo es rein um das Entladende geht, eine große Kunst ist. Ich kenne nicht viele Leute, die das können. Also Unterhaltung, die nicht unter der Gürtellinie ist, aber auch nicht belastet mit Themen wie Krieg usw. Ich blödle privat unheimlich gern. Ich gehöre nicht zu der Kategorie, die besagt, dass der klassische Komiker privat mieselsüchtig oder depressiv ist.

Oder zu intellektuell und verkopft …

Genau. Diese Verkrampfung im Gesäß habe ich nicht.

Ich gehöre nicht zu der Kategorie, die besagt, dass der klassische Komiker privat mieselsüchtig oder depressiv ist.

Gibt’s beruflich irgendetwas, das Sie unbedingt verwirklichen wollen, aber bisher nie möglich war?

Mit 60 Jahren dämmert dir schon was, was mit 58 Jahren noch kein Thema ist. Plötzlich kriegst du fast einen Aktivitätsstress: Das wollte ich noch. Und das wollte ich noch. Und das wollte ich noch.

Ich wollte z. B. ein Lokal eröffnen. Ich fand die Idee einer Mischung aus Buch und Kaffee oder Buch und Wein eine lange Zeit sehr faszinierend. Das habe ich mittlerweile verworfen. Jetzt sind es kleinere Geschichten, die ich vorhabe. Also nicht so was Großes wie das Studium.

Ich war sehr viel in Südamerika und in Mittelamerika unterwegs. Dort kommst du mit Englisch nicht durch. Da ich gut Latein kann, habe ich dann bei meinen Trips vor Ort Spanisch gelernt. Und dort die Leute wie ein kleines Kind gefragt, was was heißt. Die Menschen waren sehr freundlich, ich hatte also über 100 Lehrer*innen. Irgendwann habe ich diese Leidenschaft nicht mehr ausgeübt, daher kann ich Spanisch bis heute nicht gut genug. Solche Pläne habe ich. Also kleine Geschichten, keine großen Konzepte, wie das Erlernen eines neuen Berufs.

Wobei, in der Corona-Zeit habe ich einen neuen Beruf gelernt. Ich habe zwei Jahre lang als Gemüseverkäufer am Naschmarkt gearbeitet, weil ich die damaligen Betreiber einer der Geschäfte dort gut kannte. Ich kenne mich jetzt sehr gut aus mit Gemüse und der Zubereitung von beispielsweise Schwarzkohl, das ist übrigens der absolute Trend momentan.

Klingt blähend?!

Natürlich, wie jeder Kohl. Jedenfalls habe ich so mit 60 noch einen neuen Beruf gelernt. Ich könnte jetzt überall anfangen als Gemüseverkäufer. Das Leben am Markt war für mich eine schöne Zeit. Ein Teil dieser Erfahrungen kommt auch im neuen Programm vor.

Bis Mitte 2025 sind Sie mit „GLEICH“ auf Tour. Was kommt danach?

Ich bin länger damit unterwegs. Rein geografisch gesehen dauert die Runde mit Österreich, Deutschland und der Schweiz sicher zweieinhalb Jahre. Rechnen wir den Ausfall der Pandemie dazu und wenn ich dann noch zwei Mal mein Programm spiele pro Stadt, sind wir schon bei sieben Jahren. Also werde ich das jetzt mindestens drei bis vier Jahre machen …

Portraitfoto Kabarettist Alfred Dorfer im Zuge vom neuen Programm "Gleich"
© Stefan Csáky, www.grainyday.photo

Alfred Dorfer zählt zu den beliebtesten Kabarettisten im deutschsprachigen Raum. Der Wiener steht seit den 80ern erfolgreich auf der Bühne und hat spätestens mit den Produktionen Indien (1993) und Muttertag (1993) sowie mit der TV-Serie MA 2412 (1998–2003) auch im Film- und Fernsehbusiness für Aufsehen gesorgt. Sein neues Kabarett-Programm „GLEICH“ feiert am 18. Oktober 2024 im Wiener Stadtsaal Premiere. Einige Abende sind schon ausverkauft, für die Termine ab Dezember sind noch Karten erhältlich.

Fotos Interview: Stefan Csáky

Thomas Maurer Interview – Soloprogramm „Trotzdem“

In seinem Soloprogramm „Trotzdem“, das im Wiener Stadtsaal Premiere feiert, entführt Thomas Maurer das Publikum in eine „Mischung aus Wellnesshotel und Social-Media-Entzugsklinik“. Es geht unter anderem darum, was Social Media und Artificial Intelligence mit uns machen. Wie das Komische die Rettung sein kann, erklärt der 57-jährige Wiener im funk tank-Interview:

funk tank: Sehr verehrter Herr Maurer, „Obwohl“ oder „Trotzdem“ … ?

Thomas Maurer: Trotzdem klingt heroischer. Obwohl obwohl schon auch was hat. Aber ich nehm trotzdem trotzdem.

Für wen ist Ihr neues Programm genau das Richtige und wer sollte lieber zu Hause bleiben?

Wenn man gern einen pointenreichen Abend hat und es nicht als Nachteil empfindet, wenn diese Pointen auch unangenehmen Dingen und Sachverhalten abgerungen werden, wird man das Programm, denke ich, mögen. Wenn nicht, dann nicht.

Sowohl aus politischer Sicht als auch das Klima betreffend und vom globalen Gemeinschaftsgedanken sowieso, sieht es bitter aus – Wie schaffen Sie es, trotzdem Humoriges auf die Bühnen zu bringen und was tun Sie, wenn Ihnen einmal nicht mehr zum Lachen ist?

Alles, was schiefgeht, kann man ins Komische drehen. Und ich finde, man soll auch. Die Brechung, die Pointe erzeugt einen – oft sehr nötigen – Abstand zur unmittelbaren Empfindung. Auch und gerade, wenn’s einen selbst betrifft. Ich hatte zum Beispiel unlängst inmitten einer extrem stressvollen Arbeitsphase derart lang und derart intensiv Zahnweh, dass ich die Absurdität der Situation selber komisch fand.

Sie haben schon unzählige Soloprogramme geschrieben, jedes einzelne davon war ein Erfolg. Wovon oder von wem lassen Sie sich dafür inspirieren? Kennen Sie dennoch sowas wie Lampenfieber oder Blackout-Momente, wo gar nichts mehr geht?

Zu Lampenfieber habe ich nie geneigt, zu Blackouts Gott sei Dank auch nur alle heiligen Zeiten. Inspiration kann aus allen möglichen unerwarteten Richtungen kommen. Ich habe auch schon einmal mit großer Freude den Beleg für die „Rambo III“-DVD in die Buchhaltung getan, weil ich im gerade entstehenden Programm daraus zitiert habe und im Fall einer Steuerprüfung beweisen könnte, dass das eine berufliche Ausgabe war. Großartige Kollegen und Kolleginnen versuche ich eher zu genießen, als zu versuchen, mir was abzuschauen.

Ist Humor angeboren oder erlernbar?

Vermutlich beides. Man sollte eine entsprechende Disposition mitbringen, aber es gibt natürlich auch so was wie einen Trainingseffekt. Damit meine ich nicht, dass man routiniert alte Scherze neu verpackt, sondern dass es eine spezielle Art des Denkens ist, in möglichst allem das potentiell Komische entdecken und dann auch artikulieren zu können. Und die wird einem mit den Jahren immer selbstverständlicher.

Zusammen mit Florian Scheuba und Robert Palfrader sind Sie ab Oktober mit neuem Programm der „Wir Staatskünstler“ unterwegs; fast zeitgleich startet Ihr Soloprogramm. Quasi ein Leben auf Tour. Wie geht sich das eigentlich aus? Schlafen Sie auch irgendwann? Werden die Wahlergebnisse spontan in Ihr Staatskünstler-Programm einfließen oder gibt es schon einen fixen Inhalt?

Ich bin eigentlich ein fauler Hund, der tragischerweise im Körper eines Workaholics gefangen ist. Freiberufler*innen tun sich generell schwer damit, etwas abzusagen, weil man ja nie weiß, wann die nächste Gelegenheit kommt. Die Wahlergebnisse werden bei den Staatskünstlern und in meinem Podcast mit Thomas Cik ein Thema sein, im Solo werden sie eher eine Art Hintergrundrauschen bilden.

"Wir Staatskünstler": Thomas Maurer, Florian Scheuba, Robert Palfrader.
"Wir Staatskünstler": Thomas Maurer, Florian Scheuba, Robert Palfrader © Ingo Pertramer

Ich bin eigentlich ein fauler Hund, der tragischerweise im Körper eines Workaholics gefangen ist.

Was geht leichter von der „Feder“ – politisches Kabarett oder Comedy? Gibt es Themen, wo Sie klare Grenzen ziehen und über die Sie nicht sprechen bzw. Witze machen?

Ich seh da nicht so einen großen handwerklichen Unterschied. In beiden Fällen geht’s darum, eine möglichst komische Idee zu haben. Im Kabarettfall soll die halt einen Gedanken oder Inhalt vermitteln, bei Comedy ist die Pointe selbst der Inhalt. Und natürlich ist es besonders reizvoll, einen guten Witz an einer Stelle zu reißen, die man allgemein für unpassend halten würde. John Oliver etwa hat großartige aufklärerische, aber auch saukomische Sendungen über Themen wie die Todesstrafe oder die US-Opioid-Krise gemacht. Aber natürlich ist ein schlechter Witz über ein heikles Thema etwas furchtbar Unerfreuliches.

Wäre die Welt eine bessere, hätten wir Kabarettist*innen in der Politik? Können Sie sich vorstellen, als Politiker zu arbeiten?

Ich glaube, ich hätte für die Ochsentour durch die Partei nie die Mentalität und Konstitution gehabt. Und Quereinsteiger gehen in der Regel mangels Netzwerk und Hausmacht kläglich unter. Noch dazu bin ich auf keinem Gebiet wirklich Experte. Ich weiß zwar, dass ich diese Eigenschaft mit viel politischem Personal vom Bundeskanzler abwärts teile, aber besser wär’s, wenn’s anders wär.

Worüber haben Sie zuletzt gelacht? Und was hat Sie zuletzt zum Weinen gebracht?

Ich habe unlängst wieder in Helmut Qualtingers furiose „Schwejk“-Lesung hineingehört, das ist ein All-time-Favorite. Weinen tu ich selten und strikt privat.

Ihr Satire-Podcast „Maurer & Cik“ ist für den Österreichischen Kabarettpreis nominiert. Es gibt sie also doch, die intelligenten Content-Creator*innen. Wie wichtig sind Ihnen Auszeichnungen? Und inwiefern unterscheidet sich die Arbeit mit Podcasts zu Ihren Programmen auf der Bühne? Passiert da viel spontan?

Eine Auszeichnung ist schon einmal deshalb angenehm, weil sie der Eitelkeit schmeichelt und obendrein dazu beiträgt, dass mehr Leute von der Existenz des ausgezeichneten Produkts erfahren.

In meinen Programmen stecken normalerweise doch viele Arbeitswochen; beim Podcast wird vorab nur grob eine Themenliste erstellt – okay, Thomas Cik bereitet sich richtig vor, aber der ist ja auch Journalist – und der Rest passiert dann eigentlich spontan, ohne Vorformulierung und in der Regel unkorrigiert.

Bis Anfang 2025 sind Sie mit den diversen Programmen auf Tour. Was kommt danach?

2026. Hoffentlich.

Der Wiener Thomas Maurer, 57, arbeitet als Kabarettist, Autor und Schauspieler. Zusammen mit Florian Scheuba und Robert Palfrader widmet Maurer sich mit „Wir Staatskünstler“ der politischen Satire. Sein neues Soloprogramm „Trotzdem“ feiert am 8. Oktober 2024 im Wiener Stadtsaal Premiere und geht bis Dezember 2024 in mehreren Bundesländern über die Bühnen.

Thomas Maurer

Wir verlosen 1 x 2 Tickets für den Kabarett-Abend mit Thomas Maurer und „Trotzdem“ am 17. Oktober 2024 ab 19.30 Uhr im Wiener Stadtsaal: Zum Gewinnspiel!

Claudia Kottal Kennst du Ruth Maier?

Sie haben uns geschlagen. Gestern war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiß jetzt, was Pogrome sind, was Menschen tun können, die Ebenbilder Gottes. In der Schule sagte der Direktor, sie zünden Tempel an, verhaften, schlagen. Vor der Tür steht ein Lastauto, drei Professoren haben sie verhaftet. Dann werden wir nach der Reihe zum Telefon gerufen. Wie in einem Schlachthaus …“
Das ist ein kurzer Auszug aus Ruth Maiers Text, den sie am Freitag, den 11. November 1938, in ihr Tagebuch schrieb. Einen Tag zuvor hatte die Wienerin ihren 18. Geburtstag. Wenige Monate später gelingt es ihr, nach Norwegen zu emigrieren. Doch auch dieses Land wird von den Nazis besetzt, sie wird deportiert.

Ihre Texte gelten heute als bemerkenswert reflektiert, der norwegische Autor Jan Erik Vold hob 2007 ihren literarischen Schatz. 2020 wurde Es wartet doch so viel auf mich … auf Deutsch im Mandelbaum Verlag herausgegeben; das Werk beinhaltet Texte aus ihren Tagebüchern und Briefen.

„Es berührt ganz tief, den Bericht einer Augenzeugin zu lesen“, sagt Schauspielerin Claudia Kottal, die wir am Wiener Naschmarkt zum Interview treffen. „Sie beschreibt Plätze in Wien, die wir kennen, über die wir heute gehen.“ Sie wollte für eine bessere Welt kämpfen und sie wollte Kinder gebären, auch das schrieb Ruth Maier einmal. Die Chance, Mutter werden zu können, wurde ihr mit 22 Jahren genommen: Sie wurde im KZ Auschwitz ermordet.

„Ich bin irgendwann in der Früh aufgewacht und hatte diesen Titel im Kopf: ‚Ich bin Ruth‘. Er erzählt, dass es uns allen hätte passieren können oder uns auch heute passieren könnte“, beschreibt die Schauspielerin. Die durchaus inspirierende Scheiß-mir-nix-Attitüde der Sandra Tichy, die Claudia Kottal in der ORF-Serie Biester spielt, weicht im Interview einer feinfühligen Künstlerin, die sich im Wortsinn politisch engagieren will. Gegen Gewalt an Frauen, gegen Mobbing und Diskriminierung – und mit der Theaterproduktion „Ich bin Ruth“, die sie mit ihrer Frau Anna Kramer und der gemeinsamen Freundin Suse Lichtenberger auf die Beine stellt.

Die ausverkaufte Premiere ging am 17. September über die Bühne, bis 3. Oktober ist das Stück noch in der Wiener Semmelweisklinik zu sehen. Wir haben mit Claudia Kottal vor der Premiere gesprochen …

funk tank: Es ist mir unangenehm, aber ich kannte Ruth Maier zuvor nicht …

Claudia Kottal: Uns ging es genauso! Meine Frau und ich haben im DÖW, im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, zum Thema Homosexualität im Nationalsozialismus recherchiert; eine ganz tolle Mitarbeiterin dort hat uns auf sie aufmerksam gemacht. Das DÖW hatte sogar eine Wanderausstellung über sie gemacht, es gibt auch eine ORF-Dokumentation, aber die wenigsten kennen Ruth Maier. Das liegt auch daran, dass ihre Texte erst 2007 zunächst auf Norwegisch und noch später auf Deutsch veröffentlicht wurden. Wir haben ihr Buch zu lesen begonnen – und sofort beschlossen, daraus etwas zu machen. Man fühlt sich in die Zeit zurückversetzt, ihre Tagebucheinträge berühren sehr; auch die Briefe, die sie an ihre jüngere Schwester geschrieben hat. Sie hat es noch mit dem ersten Kindertransport nach England geschafft und überlebte.

Wie setzt ihr das auf der Bühne um?

Wir drei Schauspielerinnen erarbeiten das im Kollektiv, ohne Regie „von außen“. Wir haben uns zunächst in einem sehr langwierigen Prozess herausgefiltert, welche Passagen wir verwenden; auf der Bühne sind wir dann alle drei Ruth. Wir sprechen und spielen ausschließlich ihre Texte und sagen bewusst nichts, was nicht sie geschrieben hat. Infotexte, Bilder – Fotos und Zeichnungen von ihr – werden auf die Wand projiziert, dafür haben wir zwei ganz tolle junge Bühnenbildnerinnen gefunden: Hannah Berki und Monika Kovačević.

Außergewöhnlich ist zudem die Location …

Wir wollten das unbedingt an einem nicht klassischen Theaterort umsetzen. Dann sind wir auf die Semmelweisklinik gestoßen, die heute Künstler*innen für Ateliers und Performances nutzen. Ein Theaterstück wurde dort noch nicht aufgeführt. Wir müssen also Podeste bauen, die Sesseln reinbringen …

Wow, klingt nach sehr viel Arbeit …

Ja, aber es wird magisch! Wir spielen in der ehemaligen Waschküche, das ist ein riesengroßer, denkmalgeschützter Raum. Und: Wir sind draufgekommen, dass Ruth Maier in derselben Straße gelebt hat. Wenn man eine Station früher aus der Straßenbahn steigt, geht man an ihrem Haus vorbei (Hockegasse 2).

Theaterstück "Ich bin Ruth" in der Wiener Semmelweisklinik
"Ich bin Ruth" in der Wiener Semmelweisklinik © Apollonia Theresa Bitzan

Ich bin irgendwann in der Früh aufgewacht und hatte diesen Titel im Kopf „Ich bin Ruth“. Er erzählt, dass es uns allen hätte passieren können oder uns auch heute passieren könnte.

Die Musik dazu machen Clara Luzia und Cathi Priemer-Humpel – seit Kurzem spielt ihr sogar gemeinsam in einer Formation: The Quiet Version. Da ist neu in deinem Tun …

Wir haben kürzlich das erste Mal einen Song für Pratersterne gespielt, das erste Konzert haben wir erst am 11. Jänner 2025 im Wiener Stadtsaal. Als sie mich gefragt haben, habe ich gesagt: Ich kann das nicht, ich bin keine Musikerin. Ich habe zwar lange Klavier gespielt, aber ich bin tausend Mal mehr nervös, wenn ich Klavier spielen muss, als reden auf der Bühne (lacht).

Aber zusammen gearbeitet habt ihr schon?

Ja, mehrfach, und wir sind auch sehr gut befreundet. Wir haben zum Beispiel 2019 für das Kosmos Theater „Jetzt müssen wir auf morgen warten“ (Regie: Amina Gusner) und 2020, während der Pandemie die Webcomedy „Die Massnahme“ gemeinsam gemacht.

Ruth Maiers Texte sind sehr aktuell. Wie erlebst du die aktuelle politische Situation?

Heute dieses Stück zu machen, während es Kriege gibt und die Bedrohung für uns höher ist als jemals zuvor, seit ich auf der Welt bin, ist doppelt so arg. Wir fragen uns ständig: Wie konnte das alles passieren? Wie konnte der Antisemitismus so stark werden?

Ruth Maier war ein sehr politischer Mensch, sie hat die Situation klug analysiert – und wir finden Parallelen zu heute. Sie schreibt beispielsweise darüber, dass die Regierung die Verantwortung nicht übernimmt und versucht, den Leuten die Schuld an der Wirtschaftskrise unterzujubeln.

Du hast kürzlich in einem Interview gesagt, dass du dich verstärkt gegen Gewalt an Frauen und gegen Mobbing engagieren möchtest. Wieso diese beiden Themen?

Ich denke gerade an die kürzlich ermordete Olympia-Marathonläuferin Rebecca Cheptegei, ein Femizid. Es erschreckt mich, in welchem Ausmaß Gewalt an Frauen vor allem von ihren Partnern verübt wird. Ob wir es jemals schaffen, etwas dagegen zu unternehmen? – Dafür muss sich gesellschaftlich einiges verändern.

Mobbing ist für mich ein wichtiges Thema, weil ich das als Kind erlebt habe. War ich zu lieb oder habe ich zu sehr aus der Reihe getanzt? Einmal wurde ich in einem Sommercamp gefesselt und in eine Pferdebox gesperrt. Das Auslachen hat sich irgendwie durch die Schuljahre durchgezogen. Ich glaube, heute gibt es ein höheres Bewusstsein dafür. Natürlich hat die junge Generation auch ihre Schwierigkeiten, aber ich bin begeistert, wie sie sich vielen Dingen offen oder gegen Dinge stellt. Ich war eher ängstlich, zurückhaltend, ich bin beeindruckt, wie selbstbewusst heute junge Frauen sind.

Wieso wurdest du Schauspielerin?

Ich bin mit 16 beim Schultheater auf der Bühne gestanden, obwohl ich sonst sehr schüchtern war – und mit 18 dachte ich mir: Ich probiere es einfach. Aber selbst auf der Schauspielschule blieb das Schüchternsein zunächst und die Selbstzweifel kommen immer wieder. Das könnte mit dem früheren Mobbing, mit der Angst, ausgelacht zu werden, zusammenhängen. Ich glaube, ich wollte mich überwinden, das war wohl ein Grund. Aber nicht der einzige! (lacht) Es war schon auch immer der Wunsch da, sich auszudrücken.

Deine Sandra Tichy pfeift sich nix! Mittlerweile habt ihr auch schon die zweite Staffel der ORF-Serie „Biester“ abgedreht – wir warten gespannt auf den Sendetermin …

Ich liebe die Rolle wirklich sehr! Ich habe die ersten Zeilen vom Text gelesen und wollte sie unbedingt spielen. Es macht mir Spaß, dass sie sich so viel Raum nimmt, dass sie so ganz anders ist, als ich.

ORF-Serie „Biester“ mit Anja Pichler und Claudia Kottal
„Biester“ mit Anja Pichler und Claudia Kottal © ORF/MRFILM/Petro Domenigg
Dürfen wir etwas spoilern? Gibt es weitere spannende Projekte?

Es passieren viele unerwartete Wendungen, die Dynamik zwischen den jungen Girls verändert sich, und auch die Situation von Sandra und ihrem Mann … Es gibt für mich auch ein neues Fernsehprojekt, aber da darf ich noch nichts verraten. Jetzt bin ich zunächst einmal Ruth Maier.

Suse Lichtenberger, Anna Kramer und Claudia Kottal in "Ich bin Ruth"
Suse Lichtenberger, Anna Kramer und Claudia Kottal in "Ich bin Ruth" © Hannah Berki

Claudia Kottal wurde 1981 als Tochter einer Polin und eines Österreichers geboren und wuchs in Fischamend, Niederösterreich, auf. Ihre Schauspielausbildung machte sie am Konservatorium Wien. Sie spielte u. a. am Theater in der Josefstadt, Kosmos Theater, Theater der Jugend, im Dschungel Wien, bei den Wiener Festwochen und den Salzburger Festspielen. Claudia Kottal schrieb für das Wiener Theater Bronski & Grünberg „Vor dem Fliegen“ nach dem Roadmovie „Thelma & Louise“ und inszenierte es auch selbst. Vor der Kamera stand sie etwa für die ORF-Satire „Wir Staatskünstler“, den Kinofilm „Love Machine“ – und kürzlich für die zweite Staffel der TV-Serie „Biester“. Claudia Kottal ist mit Schauspielerin Anna Kramer verheiratet.

„Ich bin Ruth. Das kurze Leben der Ruth Maier“: Uraufführung. Premiere: 17. September 2024, 19.30 Uhr. Semmelweisklinik, Hockegasse 37, Haus 4, 1180 Wien. Weitere Vorstellungen: 18., 25.–29. September, 1.–3. Oktober, jeweils 19.30 Uhr. Dernière: 6. Oktober, Matinée um 11 Uhr (im Rahmen von Kunstfest Währing, inklusive Publikumsgespräch).

Ich bin Ruth – Infos & Tickets

Interview mit Michel Attia zum 50. Musikstammtisch

Langsam, aber sicher will sich der 46-jährige Michel Attia zurückziehen. Nicht ganz, aber einfach ein bisschen leiser treten „und nur mehr für zwei arbeiten“. Was das genau bedeutet, woher der Musikexperte seine Inspiration nimmt und warum er es liebt, Musiker*innen zu vernetzen, hat uns Michel anlässlich seines Musikstammtisch-Jubiläums verraten …

funk tank: Lieber Michel, wer in Österreich was mit Musik zu tun hat, kommt an dir nicht vorbei, du kennst gefühlt jede*n in der Szene und bist Netzwerk-König. Was machst du eigentlich genau?

Michel Attia: Ich bin Jongleur und jongliere mit Gefallen. Mein Brotjob ist bei FM4 seit knapp 22 Jahren als Event-Chef, damit verdiene ich mein Geld und das macht mir noch immer Spaß. Ansonsten habe ich viele Ideen, die ich umsetze, aber damit wenig bis kein Geld verdiene. Ich veranstalte Michels Musikstammtisch alle zwei Monate in Wien, unregelmäßig in Hamburg, dann gibt es noch das Speak Ösi in Hamburg, ab und zu das Katerfrühstück und ich habe ein Postkarten-Label namens Bussi, Wien.

Der Musikstammtisch feiert am 26. September sein 50. Mal. Wie ist die Idee dazu entstanden und was macht diesen Treffpunkt in Wien aus? Für wen ist er?

Eigentlich war das eine spontane Idee, ich hätte damals zum Echo in Berlin fliegen sollen und konnte wegen eines Arzttermins nicht hinfliegen, das hat mich total geärgert. Dann habe ich in meiner Bubble auf Facebook ausgerufen, dass ich eine Konkurrenzveranstaltung dazu in Wien mache, was natürlich total absurd war. Da ich damals auch ein Lokal hatte, war das easy zu organisieren und ich habe mit 20 Leuten gerechnet, es kamen dann aber um die 100 Personen. So war mir klar, dass es den Bedarf gab und darum habe ich dann entschlossen, das regelmäßig alle zwei Monate als Afterworkevent zu machen.

Michels Musikstammtisch existiert bis heute und ist für die Musikbranche gedacht, also für Musiker*innen und Menschen aus der Branche. Ich habe keine strengen Kriterien, aber irgendwas muss man schon mit Musik zu tun haben, wenn man nur Blockflöte spielt, ist das auch okay.

Darf irgendwer nicht rein? Sagen wir z. B. Rammstein?

Wenn Rammstein tatsächlich kämen, dann würde ich zumindest dafür sorgen, dass sie nicht bedient werden an der Bar und dann würden sie das hoffentlich kapieren. Eigentlich sind aber alle herzlich willkommen, die Einladungen gehen ja über meine Facebook-Gruppe raus und da sehe ich sowieso, wer sie bekommt.

Musikstammtisch im Wiener WUK
Musikstammtisch im Wiener WUK © Nikolaus Ostermann
Du hast ja immer Partner*innen für Freigetränke für den Musikstammtisch, finanzierst du so diese Events? Und es gibt immer internationale Gäste aus der Branche, wie suchst du die aus?

Anfangs habe ich mein privates Geld reingesteckt, mittlerweile habe ich zum Glück ein Jahressponsoring der Wirtschaftsagentur Wien und es gibt fast jedes Mal einen Partner/eine Partnerin für Freigetränke, da freuen sich vor allem die Nachwuchsmusiker*innen.

Das mit den Gästen hat sich zufällig entwickelt. Die deutsche Agentur Goodlive war auf der Suche nach einem passenden Event in Wien, wo sie sich präsentieren kann. Mittlerweile melden sich immer wieder Agenturen, Plattenfirmen, Kulturvereine, Unternehmen usw. oder ich suche sie aus, was öfter vorkommt.

Gibt es dann auch Panels oder sowas in der Art?

Nein, bei mir ist das Ganze niederschwellig und ohne Talks, Panels usw., genau das genießen die Leute, glaube ich.

Wer aus der Branche kommt dann genau?

Im Großen und Ganzen kommen die Stammgäste aus dem Alternative Mainstream. Aber auch z. B. von Starmania, von Ö3, Energy oder aus dem Jazz. Was mir am meisten fehlt, ist, dass auch die Leute aus der Clubkultur kommen und Personen aus der Hochkultur würde ich mir ein bisschen mehr wünschen.

Du veranstaltest ja nicht nur in Wien deine Stammtische, sondern auch in Hamburg. Was machst du dort?

Ich liebe Hamburg und habe dort schnell bemerkt, dass es nichts Regelmäßiges für die Musikbranche gibt, außer halt einmal im Jahr am Reeperbahn Festival. Dort kenne ich auch viele Leute und habe denen von meinem Musikstammtisch erzählt und die haben es wieder weitererzählt und seitdem veranstalte ich das in Hamburg unregelmäßig.

Zusätzlich habe ich Speak Ösi dort gemacht. Ich liebe schlechte Wortspiele (lacht). Mir gefällt die Idee der Speakeasy-Bars und das habe ich dann in Hamburg als Speak Ösi umgesetzt. Für 12 Personen mit Kulinarik aus Österreich, also österreichische Produkte und Köch*innen. Das ist dann in einer Wohnung versteckt und die Leute werden abgeholt und dorthin gebracht. Z. B. mit Hubert Mauracher, der Musiker ist und für viele als der beste Thai-Koch des Landes gilt, was ja witzig ist, weil er eigentlich aus der Tiroler Wirtshausküche kommt. In der Zeit vom Reeperbahn Festival habe ich das dann veranstaltet, bisher 5 Mal, heuer lasse ich das mal aus, um das Festival genießen zu können.

Ich mache das alles ja nicht, um mir selbst einen Gefallen zu tun, sondern weil ich Menschen und Ideen gerne zusammenbringe.

Spannend bei dir ist ja auch, dass du wenig aktiv auf Social Media bist, aber dennoch immer überall mitmischt. Wie trittst du mit den Leuten in Kontakt?

Social Media interessiert mich eigentlich gar nicht. Ich versuche alles auf Telefonate, Textnachrichten und E-Mails zu beschränken. Aber ich habe Leute, die mir damit helfen. Beim Speak Ösi z. B. verschicke ich das an 100 Leute in Hamburg und dann spreadet sich das von selbst und dann melden sich auch Menschen, die ich vorher gar nicht kannte, das ist sehr lustig. Es wird aber ab demnächst für den Musikstammtisch eine einfache Website inkl. Newsletter und LinkedIn geben, weil die Branche dann doch den Termin via Facebook nicht immer mitbekommt. Algorithmus und so.

Katerfrühstück im Jaz in the City Wien
Katerfrühstück im Jaz in the City Wien © Marvin Strauss

Ich mache das alles ja nicht, um mir selbst einen Gefallen zu tun, sondern weil ich Menschen und Ideen gerne zusammenbringe.

Noch mal kurz zu Hamburg. Wenn du die Hamburger Musikszene mit der Wiener vergleichst – Welche Gemeinsamkeiten gibt es und worin besteht noch Nachholbedarf in Österreich?

Ich sehe es eher andersherum. Ich sehe Nachholbedarf in Hamburg. Ich finde, Wien ist viel gemeinschaftlicher in der Szene als Hamburg, in Hamburg kocht jede*r ihr/sein eigenes Süppchen, das erinnert mich an Wien vor 20 Jahren.

Dein Lieblingsfestival national und international?

National natürlich die Events von FM4, ich mag sehr gerne unser Geburtstagsfest und das nicht nur, weil ich das buche und kuratiere. Ansonsten gibt es ganz schön viele Festivals in Österreich, es wird immer mehr und nie weniger. Was auch nicht ganz unproblematisch ist. Mir gefällt das Lido Sounds, das finde ich sehr charmant. Oder das Acoustic Lakeside. International ist das Primavera ein Vorzeigefestival in Barcelona mit der Kombi aus Musik und Essen und Meer. Aber es gibt noch so viele andere, ich suche immer nach Gründen, um nach Hamburg zu reisen, also natürlich das Reeperbahn Festival. Genial finde ich auch das Roskilde Festival in Dänemark, vor allem für die Größenordnung. Das Flow Festival in Helsinki, das Oya Festival in Oslo, …

Obwohl du sehr viel unterwegs bist, bleibst du Wien treu. Warum?

Ich bin in Wien geboren, es ist ein bisschen eine Hassliebe. Ich liebe die Stadt, die Menschen, das Essen. Ich bin total froh, dass das meine Homebase ist. Aber nur Wien würde ich nicht aushalten. Durch das Reisen kann ich das ausgleichen. Weil hier alles länger dauert und Wien keine Trendstadt ist, ist alles ein bisschen langsamer, das finde ich super.

So kannst du bei deinen Ideen auch schneller als andere sein …

So sehe ich das auch. Ich war ja mit vielen Eventkonzepten für FM4 hier der Erste und alles war aus anderen Ländern geklaut. Die FM4 Überraschungskonzerte habe ich von den MySpace Secret Shows, die FM4 Radio Session ist nichts anderes als MTV Unplugged, die Eastpak Beatsteaks Wohnzimmertour in Deutschland habe ich übernommen und hier die FM4 Private Sessions daraus gemacht. Das ist natürlich ein Vorteil, man kann sich gut von anderen Ländern inspirieren lassen. Hamburg ist Wien da sehr ähnlich, es hat auch ein bisschen einen Dorfcharakter. Darum hat Speak Ösi dort funktioniert, in Berlin wäre das nicht gegangen, da gibt es sowieso schon viele Pop-up-Restaurants …

Eine Hommage an die Stadt hast du ja auch zusammen mit einer Kollegin geschaffen. Erzähl mal von deinen Postkarten …

Eigentlich wieder nur geklaut. Ich habe beim Mauerpark-Flohmarkt in Berlin Postkarten von den Straßen Berlins mit Streetart usw. gesehen und in Wien gab es das noch nicht. Dann habe ich das einfach gemeinsam mit Fotokünstlerin Claudia Stegmüller gemacht.

Postkarten-Label Bussi, Wien
Postkarten-Label Bussi, Wien © Bussi, Wien
Was steht als Nächstes bei dir an?

Ich versuche langsam weniger zu machen, den Musikstammtisch wird es weiter geben, aber Ziel ist es, weniger zu arbeiten und nicht mehr. Es gab immer noch eine Idee und auch ein bisschen der Gedanke der Welteroberung. Noch geht es mir gut, aber ich merke, dass ich aufpassen muss und nicht mehr über meine Grenzen gehen sollte. Meine Mutter hat immer gesagt: ‚Du musst so viel arbeiten wie für drei Österreicher, weil du wirst es nicht leicht haben hier.‘ Das war noch eine andere Generation, ich habe mich aber daran gehalten. Jetzt versuche ich nur mehr für zwei zu arbeiten …

Michel Attia konzipiert und bucht beim Radiosender FM4 als „Head of Booking & Events“ diverse Eigenveranstaltungen wie die FM4 Radio Sessions, FM4 Überraschungskonzerte oder das FM4 Geburtstagsfest. Aus einer Laune heraus initiierte er 2016 den regelmäßigen Branchentreff Michels Musikstammtisch in Wien, den er mittlerweile auch unregelmäßig in Hamburg veranstaltet. Mit seinem Postkarten-Label Bussi, Wien huldigt er seine Homebase, die er liebt, aber immer wieder auch gerne verlässt, um sich für neue Ideen inspirieren zu lassen.

Bussi, Wien

Matthias Bartolomey – Progressiver Spirit am Cello

Der 39-jährige Matthias Bartolomey möchte mit seinem progressiven Spirit die sonst recht schnöde und strenge Musikwelt des Cellos aufrütteln und die Brücke zwischen Klassik und Popularmusik schlagen. Seit 2012 ist er mit dem Geiger und Mandolaspieler Klemens Bittmann als BartolomeyBittmann – progressive.strings musikalisch unterwegs. Jetzt hat er sein erstes Solo-Album mit dem Titel „Solo“ herausgebracht. Wir haben mit dem vielseitigen Cellisten gesprochen …

funk tank: Lieber Herr Bartolomey, Ihr Vater war Solocellist der Wiener Philharmoniker, Sie selbst haben bereits mit sechs Jahren Cellounterricht von ihm erhalten. Die Musik liegt Ihnen also im Blut. Wann war klar, dass Sie sich professionell für den Beruf als Musiker entscheiden, und wie kam es dann schlussendlich dazu?

Matthias Bartolomey: Mein Vater war nicht nur Solocellist, sondern auch die bereits dritte Generation von Bartolomeys bei den Wiener Philharmonikern. Ich bin für das Aufwachsen in dieser, über mehr als ein Jahrhundert gelebten musikalischen Kultur sehr dankbar und hatte bereits in frühen Jahren mein Ziel, eine professionelle Laufbahn als Musiker anzustreben, definiert. Wie genau diese aussehen würde, stellte sich jedoch erst deutlich später heraus.

Was kann das Cello, das andere Musikinstrumente nicht können?

Darüber könnte ich Stunden sprechen, aber ein sehr wichtiger und deutlich spürbarer Aspekt ist der große Tonumfang und die Nähe zur menschlichen Stimme. Das Cello kann aber auch ein Rock-Instrument sein, dem man schwere Riffs und verzerrte Klänge entlocken kann. Es steckt voller spannender Kontraste.

Cellist Matthias Bartolomey
© Stephan Doleschal

Im übergeordneten Sinn geht es mir darum, aufzuzeigen, dass gute Musik etwas Zeitloses hat. Etwas, das unabhängig davon, wann und in welcher Zeit es geschrieben wurde, berühren oder erschüttern kann.

Sie sind aktiver Musiker und unterrichten auch an der Universität Mozarteum Salzburg. Welche Eigenschaften braucht es, um erfolgreich im Musik-Business bestehen zu können? Ist es das Talent oder harte Arbeit und Fleiß, die eine*n zur guten Musikerin/zum guten Musiker machen?

Aus meiner persönlichen Erfahrung braucht es vor allem zwei Eigenschaften, um ein erfolgreicher Musiker/eine erfolgreiche Musikerin zu sein: Talent und harte Arbeit gehen Hand in Hand. Ein Talent ohne Disziplin, Ehrgeiz und Konsistenz wird ungeformt bleiben. Somit bildet beides einen essenziellen Aspekt des Musiker*innen-Daseins.

Die zweite Eigenschaft hat mit Musik nicht viel zu tun — es ist die unternehmerische Tätigkeit. Die Selbstvermarktung, der Kontakt zu Veranstaltern, Honorarverhandlungen, Netzwerke aufbauen etc.

Wichtig ist aber auch, sich in Geduld zu üben und das Scheitern als unumgänglichen und lehrreichen Faktor zu akzeptieren.

Österreich hat eine lange Tradition, was klassische Musik betrifft. In anderen Musik-Genres ist es hier jedoch etwas zu klein(kariert), um mit Kunst groß rauszukommen. Wieso sind Sie in Österreich geblieben bzw. gibt es Momente, wo Sie lieber in einem anderen Land leben würden? Welches Land wäre das und warum?

Gustav Mahler hat gesagt: „Wenn die Welt untergeht, möchte ich in Wien sein, da passiert alles 50 Jahre später.“ Das hat wohl heute immer noch gewisse Gültigkeit. Ich bin aber seit jeher mit Österreich sehr verwurzelt und hatte trotz meiner vielen Konzertreisen nie die dringende Sehnsucht, wegzugehen.

Es ist vielleicht gerade auch die traditionelle Ausprägung in Österreich, die mich motiviert hat, hier zu bleiben, um einen neuen und progressiven Spirit beizutragen.

Mit dem Geiger und Mandolaspieler Klemens Bittmann sind Sie als BartolomeyBittmann –progressive.strings unterwegs. U. a. auch in der Berliner Philharmonie, der Elbphilharmonie Hamburg und rund um den Globus. Musik ist ja eine universelle Sprache. Wie gehen Sie konkret beim Komponieren vor, wie entstehen Ihre Stücke? Und an welche Zielgruppe richten sich die Werke?

Wir haben mit BartolomeyBittmann von Beginn an den Fokus auf den Aufbau eines eigenen Repertoires gelegt und immer gemeinsam auf intuitiv-schöpferische Art Musik komponiert. Das machen wir nun seit mehr als zwölf Jahren so und haben hier ein spezielles Ökosystem für uns entwickelt. Momentan spielen wir unser Best of BB Programm, haben aber bereits Ideen für neue Stücke. Nächstes Jahr wird es auch eine Kooperation mit dem Niederösterreichischen Konzertchor im Festspielhaus St. Pölten geben. Unsere Musik um einen Chor zu erweitern, finden wir sehr spannend und wir freuen uns bereits darauf, die Arrangements dafür zu schreiben.

Wir haben per se keine direkte Zielgruppe. In erster Linie schreiben wir die Musik, die auch wir gerne hören würden. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass Menschen mit einer gewissen klassischen Grundbildung (bzw. einer Sensibilisierung für Streichinstrumente) unsere Musik interessant finden. Man könnte auch sagen: Ö1-Hörer*innen mögen uns. Es ist aber immer ein schönes Erlebnis, wenn Menschen, die aus einer gänzlich anderen musikalischen Sozialisierung kommen, unsere Musik für sich entdecken.

In der Musik abstrahieren wir unser Leben und die Welt, wie wir sie wahrnehmen. Das können banale, aber auch tiefgründige und bedeutungsvolle Dinge sein. Musik zu schreiben hat auch viel damit zu tun, sich selbst besser kennenzulernen.

Was inspiriert Sie für Ihr künstlerisches Schaffen?

Wenn man mit einem offenen Herzen und offenen Augen durch unsere Welt geht, kann alles, was man darin findet und erlebt, inspirierend sein.

In der Musik abstrahieren wir unser Leben und die Welt, wie wir sie wahrnehmen. Das können banale, aber auch tiefgründige und bedeutungsvolle Dinge sein. Musik zu schreiben hat auch viel damit zu tun, sich selbst besser kennenzulernen.

Die Cellisten Matthias Bartolomey und sein Vater Franz Bartolomey
Die Cellisten Sohn Matthias Bartolomey und Vater Franz Bartolomey © privat
Ende Mai haben Sie Ihr erstes Solo-Album herausgebracht. Hier trifft Tradition mit J. S. Bach auf progressive Eigenkomposition. Wunderbar dynamisch und mitreißend, wie ich finde. Ihnen gelingt die Verbindung von Klassik mit modernen, rockigen und energiegeladenen Stücken. Inwiefern braucht es das „Klassische“ für das „Neuartige“ und was bevorzugen Sie? Wie verbinden Sie „Alt“ und „Neu“?

Im übergeordneten Sinn geht es mir darum, aufzuzeigen, dass gute Musik etwas Zeitloses hat. Etwas, das unabhängig davon, wann und in welcher Zeit es geschrieben wurde, berühren oder erschüttern kann. Bach ist hier ein gutes Beispiel.

Was meine eigene Musik betrifft, kommt meine Motivation in erster Linie daher, dass mir ein Großteil der zeitgenössischen klassischen Musik fremd und zu intellektualisiert ist. Im Verlauf des 20. Jhdts. hat sich enorm viel Kreativität in der Popularmusik entwickelt. Mit der Brücke zur Popularmusik sehe ich die Zukunft der klassischen Musikwelt und möchte hier auch aktiv schöpferisch (vom Instrument für das Instrument komponierend) meinen Beitrag leisten.

Eine weitere Verbindung zwischen Alt und Neu manifestiert sich auf diesem Album nicht zuletzt dadurch, dass ich auf zwei Celli spiele. Das erste Instrument ist ein Violoncello von David Tecchler und wurde 1727 in Rom erbaut – es repräsentiert die Musik Bachs. Das zweite Violoncello ist dessen detailgetreue Kopie, welche von Philip Bonhoeffer im Jahre 2021 erbaut wurde und meine Musik repräsentiert. Es entsteht also nicht nur musikalisch, sondern auch instrumental ein Bogen über 300 Jahre.

Welche Herausforderungen hat die Arbeit zum ersten Album mit sich gebracht?

Ich hatte einen ganz speziellen Klang im Kopf. Einerseits ging es mir um sehr viel Nähe zum Instrument, um mit Direktheit die Musik unmittelbar spürbar zu machen. Andererseits sollte das Instrument und der Klang frei atmen und sich groß entfalten können. Mit dem Tonmeister David Furrer hatte ich hier genau den richtigen Mann mit an Bord, der mich mit viel Geduld und Gespür unterstützt hat.

Sie sind heuer live noch viel unterwegs. Auf welche Auftritte freuen Sie sich besonders? Und was steht in den kommenden Monaten sonst noch an?

Es kommen viele spannende Konzerte auf mich zu, denen ich allen mit viel Freude entgegensehe. Besonders freue ich mich auf die Cello Biennale in Amsterdam im November 2024.

Unter anderem habe ich für den Festivalwettbewerb der Biennale das zeitgenössische Auftragswerk komponiert, das alle Kandidat*innen der ersten Runde spielen werden. Eine große Ehre.

Matthias Bartolomey, 39, ist österreichischer Cellist, Komponist und Professor an der Universität Mozarteum Salzburg. Die Verbindung von Klassik mit modernen, rockigen und energiegeladenen Stücken ist seine Spezialität, denn für ihn hat gute Musik etwas Zeitloses. Bartolomey tourt dieses Jahr durch Österreich, u. a. hat er Auftritte mit Karl Markovics & Helmut Deutsch, Rudolf Buchbinder & Volkhard Steude sowie Ursula Strauss & Ariane Haering.

Matthias Bartolomey

BartolomeyBittmann

Pflegefamilie Podcast Antonia Stabinger Ludwig Krausneker

Sie trinkt aus einem Gurkenglas, hinter ihr drängt sich charmant eine Leiter ins Rampenlicht: Die Kabarettistin Antonia Stabinger hat alle Hände voll zu tun, um ihr neues Zuhause in Wien einzurichten – mit einem extra Zimmer für ihre Tochter. Ohne Babybauch und ohne viel Trara ist sie Mama geworden und nimmt sich trotz Baustellenstress Zeit, um uns davon zu erzählen. Das ist mehrfach bemerkenswert, sonst kann sie Interviewfragen zum Privatleben gar nicht leiden.

An ihrer Seite treffen wir Ludwig Krausneker, er ist Klinischer Psychologe und Pflegefamilienberater bei affido, einer gemeinsamen Einrichtung des Pflegeelternvereins Steiermark und der Gesellschaft für steirische Kinderdörfer. Gemeinsam moderieren sie seit Kurzem den Podcast „Kreisrund mit Ecken“, der so fesselnd und bewegend ist, dass ich zuletzt mitten in der Nacht trotz Ankunft daheim nicht aus dem Auto steigen wollte, ehe die Folge zu Ende war.

funk tank: Antonia, kaum jemand wusste davon – und dann wurdest du plötzlich Mama, nämlich Pflegemama. Wie fing das an?

Antonia Stabinger: Meine Tochter ist am 25. Juni vor einem Jahr bei mir eingezogen. Dazu gibt es eine schöne Anekdote: Am Abend davor war ich beim „Zusperrfest“ im Kabarett Niedermair. Da treffen sich viele Kolleg*innen, danach ist Sommerpause. Davor habe ich sehr wenigen Leuten erzählt, dass ich eine Pflegetochter bekomme – so wie man meist nur wenigen erzählt, wenn man frisch schwanger ist. Dann stand ich dort aufgeregt mit einem weißen Spritzer in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen – ich rauche ab und zu – und habe gesagt: „Morgen bekomme ich ein Kind!“ Daraufhin gab es irritierte Blicke, abwechselnd auf mein Glas, meine Zigarette und meinen Bauch – das war sehr unterhaltsam.

Und am nächsten Tag ist dann tatsächlich meine Tochter eingezogen und ich war auf einen extrem herausfordernden Sommer eingestellt. In der Ausbildung wurde ich darauf vorbereitet, dass man meist die Wut des Kindes abbekommt, die eigentlich den bisherigen, „verschwundenen“ Bezugspersonen gilt. Der Sommer war dann aber tatsächlich halb so wild. Ich habe mich zurückgezogen, war ein paar Wochen ausschließlich für das Kind da, so wie uns das in der Ausbildung empfohlen wurde. Anfangs habe beispielsweise nur ich sie gehalten, damit sie versteht: Ich bin ihr neues Zuhause, ihr Anker. Es war ein schöner Sommer: Wir waren viel draußen, haben alle aus dem Familien- und Freundeskreis getroffen, die sie kennenlernen wollten, und ganz viel Zeit zu zweit verbracht.

Wieso dieser mutige Schritt?

Ich hatte das Bedürfnis, etwas Soziales zu machen. So, dass ich wirklich das Gefühl habe, ich verändere tatsächlich etwas. Als ich dann im Grundkurs der Wiener MA11 (Kinder- und Jugendhilfe, Referat für Adoptiv- und Pflegekinder, Anm.) gesessen bin, mit lauter netten Menschen, habe ich öfter laut sagen müssen: „Wie gut, dass es das gibt!“ – Stellen wir uns vor, das gäbe es nicht, es käme kein Jugendamt, um Kinder aus Gefahrensituationen zu holen, und sie würden keine zweite Chance bekommen.

Die Schlagzeilen werden immer verrückter, es herrschen Kriege, Menschen ertrinken im Mittelmeer – all das ist schwer auszuhalten und zu integrieren. Ich glaube, es gibt mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen: Entweder man verdrängt es, man leidet – oder tut eben etwas, bei dem man das Gefühl hat, es hilft. Egoistisch gesagt: Es funktioniert. Ich habe heute das Gefühl, dass ich zumindest das Leben einer Person signifikant besser mache.

Ich wünsche mir für mein Kind, dass ich es schaffe, dass sie alles bekommt, was sie braucht, um sich zu entfalten, um so zu werden, wie sie ist.

Ludwig, wann kommen Kinder von ihren Familien weg?

Ludwig Krausneker: Es muss wirklich „viel“ passieren, ehe Kinder aus ihrem Familiensystem herausgenommen werden. Wir wissen: Das Beste ist, wenn Kinder bei ihren Herkunftsfamilien aufwachsen. Es sind triftige Gründe, wenn das nicht mehr geht, beispielsweise wegen Gewalt oder grober Vernachlässigung.

… das hinterlässt bestimmt auch seelische Wunden und Narben bei Kindern, wie können Pflegefamilien damit umgehen?

Dieser Theorie folgend, müssten alle Kinder- und Jugendpsychiatrien nur mit Pflegekindern voll sein – und das ist nicht der Fall. Aus der Herkunftsfamilie herausgenommen werden zu müssen, ist natürlich kein idealer Start; einige Kinder stecken das gut weg, andere brauchen vielleicht etwas mehr Unterstützung. Auch deswegen gibt es Einrichtungen wie affido: Durch unsere enge Begleitung kann man sehr viel kompensieren, das gelingt ganz vielen Familien und in vielen Bereichen.

Manchmal bekommt ein Kind im Krankenhaus eine Pflegemama bzw. einen Pflegepapa, weil es schon klar ist, dass nur so ein sicheres Umfeld garantiert werden kann – und um dem Neugeborenen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Moodbild Familie
© Juliane Liebermann/Unsplash
Antonia, deine Tochter war neun Monate alt, als sie zu dir kam. Wieso keine Adoption?

Für Adoption gibt es meist lange Wartezeiten und man ist schnell zu alt dafür. Für mich macht das Pflegesystem mehr Sinn. Außerdem ist es durchaus angenehm, wenn man Unterstützung bekommt – ich habe das gerne, wenn mich mein MA11-Sozialarbeiter regelmäßig fragt: „Frau Stabinger, wie geht es Ihnen und Ihrem Kind?“ Natürlich ist er auch da, um zu kontrollieren, dass mein Kind bei mir sicher und gut aufgehoben ist.

Was waren deine größten Sorgen?

Dass meine Tochter wieder zu ihrer leiblichen Mutter zurückkommt. Ich habe erst vor Kurzem wieder über den Terminus Pflegemutter nachgedacht; er klingt nach einer temporären Betreuung, nicht nach echten Eltern. Aber das stimmt nicht. Ich bin ein vollwertiger Elternteil (auf dem Papier bis zum 18. Lebensjahr, Anm.). Ich habe im Zuge der Ausbildung erfahren, dass nur 1 bis 3 Prozent in ihre Herkunftsfamilien zurückgehen. Das war für mich ein Risiko, das ich bereit war, einzugehen. Aber wenn das Kind dann eingezogen ist, sind auch 1 bis 3 Prozent nicht ohne. Ich persönlich habe es für mich jetzt eingeordnet als etwas, das manchmal im Leben passieren kann und das man nicht kontrollieren kann – einen schlimmen Unfall zum Beispiel. Das gehört eben dazu. Es wurde uns ausdrücklich gesagt: Wenn das unvorstellbar ist, dass das Kind in die Herkunftsfamilie zurückgeht, darf man es nicht machen. Man hat uns durchaus schockierende Fallbeispiele erzählt; aber es wurde weder schwarz gemalt, noch schöngeredet.

Das Interessante nach einem Jahr ist, dass der soziale Aspekt, also meine eigentliche Motivation, komplett in den Hintergrund gerückt ist. Es ist jetzt einfach mein Kind – und sie ist ein so cooles Kind (sehr strahlend)! Es ist natürlich auch anstrengend und spannend, welche Seiten es in einem herausholt. Ich habe neue Aspekte über mich gelernt (lacht)!

Welche?

Wie wütend ich werden kann. Dass ich so gechallenged sein kann, dass ich aus dem Raum gehen muss, um kurz zu schreien (lacht)! Aber um meine Vorbereitung und die Ausbildung beneiden mich oft Eltern mit leiblichen Kindern. Ein „klassisches“ Heteropaar macht sich vorher oft nicht allzu viele Gedanken. Wer setzt sich zehn Monate in einen Kurs, um zu reflektieren: Will ich das wirklich? Geht es sich finanziell, organisatorisch und logistisch aus? Ob für gleichgeschlechtliche Paare oder Alleinerziehende, für alle, die vom Modell Vater-Mutter-Kind abweichen, ist diese Entscheidung langwierig und aufwändig. Das hat aber vielleicht auch Vorteile bei einem so großen, existenziellen Thema, bei der man ja immerhin die Verantwortung für einen Menschen übernimmt. Das ist ja keine Anschaffung von einem Gerät, einem neuen Handy. Es gibt da Unterschiede! Achtung, ein Kind kann man zum Beispiel weder muten noch abschalten!

Psychologe Ludwig Krausneker und Kabarettistin Antonia Stabinger
Psychologe Ludwig Krausneker und Kabarettistin Antonia Stabinger © affido

Wir wünschen uns, dass es mehr Bewusstsein dafür gibt und eine Pflegefamilie als normale Familienform in den Köpfen Einzug hält.

Ihr habt im Mai mit dem Podcast „Kreisrund mit Ecken“ gestartet. Mit welchen Zielen?

Ludwig: Vor allem um Werbung für dieses Modell zu machen, weil es viel zu wenig bekannt ist. Wir wollen Pflegefamilien auch eine gewisse Bühne geben, Pflegemamas und -papas erfüllen rund um die Uhr eine sehr wichtige Aufgabe. Wir können ganz klar sagen: Es gibt mehr Pflegekinder, als es Plätze gibt. Wir haben uns vorgenommen, jene Gründe zu ändern, die wir ändern können. Dazu gehört es, Ängste und Vorbehalte zu nehmen. Wir wünschen uns, dass es mehr Bewusstsein dafür gibt und eine Pflegefamilie als normale Familienform in den Köpfen Einzug hält.

Antonia, wie hat sich dein Leben verändert?

Ich habe zuvor viel gearbeitet, weil mein Beruf auch mein Hobby ist. Aber in den letzten Jahren habe ich Lust bekommen, auch eine andere Art von Arbeit zu machen – Care-Arbeit. Und mit meinem Kind Zeit zu verbringen, gefällt mir wirklich sehr gut! Was nervig ist, ist der Haushalt: Die ganze Zeit kochen, putzen, Wäsche waschen, wegräumen, … – das ist verzichtbar. Ich verstehe jetzt noch mehr, warum jahrhundertelang der Hälfte der Gesellschaft eingeredet wurde: Ihr seid dazu geboren, diese Arbeit gratis zu machen. Überhaupt nicht fair, aber ich verstehe, dass das echt praktisch war.

Wer sind eure Gesprächspartner*innen beim Podcast?

Ludwig: Uns ist eine Mischung aus Pflegemamas, -papas und -familien wichtig – und ebenso aus Professionist*innen, um möglichst viel Einblick in das Modell Pflegefamilie zu geben. Wir haben bereits sehr unterschiedliche Gäst*innen getroffen und obwohl es mein Beruf ist, berühren auch mich ihre Geschichten sehr. Jede ist individuell, so wie jedes Kind und jede Familie unterschiedlich ist; wir hören – mit all ihren Höhen und Tiefen – viele Erfolgsgeschichten voller schöner Momente. Schon unsere erste Gästin, eine Ärztin mit zwei Pflegekindern, hat eine so ansteckende Art.

Mood Podcast "Kreisrund mit Ecken"
© affido
Was brauchen Kinder?

Ludwig: Das ist ein sehr hoher Anspruch an Eltern, aber vor allem Verständnis für die Kinder – für ihr Erleben und ihre Herkunft. Sie brauchen Beziehungskonstanz, Wertschätzung und bedingungslose Liebe. Die bräuchten auch Eltern …

Antonia: Wer gibt ihnen die? Das Kind sicher nicht, das Kind stellt viele Bedingungen (lacht). Ich bin neu in dem Business, aber vom Gefühl her würde ich auch sagen: Kinder brauchen Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, etwas tun zu müssen – sie brauchen eine Begleitung beim Aufwachsen.
Ich wünsche mir für mein Kind, dass ich es schaffe, dass sie alles bekommt, was sie braucht, um sich zu entfalten, um so zu werden, wie sie ist. Ich wünsche mir höchstens, dass sie später in keinem menschenverachtenden Beruf arbeitet, aber davon abgesehen soll sie bitte werden, was sie will.

Der Podcast „Kreisrund mit Ecken“ ist ein kleines A bis Z für alle, die in die vielfältige Welt von Pflegefamilien eintauchen wollen. Die vom Verein affido initiierte Gesprächsreihe wurde im Mai 2024 gestartet, jeden Mittwoch erscheint eine neue Folge. Dabei wechseln einander kurze, informative „Nachgefragt“-Sendungen und Gespräche mit den beiden Hosts Ludwig Krausneker und Antonia Stabinger ab. Der Psychologe und die Kabarettistin und Pflegemama plaudern dabei mit Pflegefamilien, Berater*innen und Expert*innen über das Schöne und die Herausforderungen der besonderen Familienform – jeweils mit ganz viel Gänsehaut- und Lerngarantie.

Antonia Stabinger ist Kabarettistin und seit 2009 erfolgreich mit dem mehrfach ausgezeichneten Kabarett-Duo „Flüsterzweieck“ in Österreich, Deutschland und der Schweiz unterwegs. Sie gastiert regelmäßig in ORF-Shows wie „Was gibt es Neues?“ oder „Pratersterne“, für FM4 schreibt und spricht sie die Politsatire-Kolumne „Die Zudeckerin“ und produziert Hörspiele mit dem Kollektiv „Das magische Auge“. Im Herbst 2024 präsentiert sie ihr erstes Solo-Programm „Angenehm“. Seit einem Jahr ist sie Pflegemama einer heute knapp zwei Jahre alten Tochter.

Ludwig Krausneker studierte Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und absolvierte parallel das Psychotherapeutische Propädeutikum. Die klinische Ausbildung machte er an einer Kinder- und Jugend-Psychosomatik-Abteilung in Oberösterreich. Seit 2023 ist Krausneker bei affido in der Steiermark als Pflegefamilienberater und Psychologe tätig.

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