Die Liebe zur Musik, erzählt Andreas Nöß, ist ihm praktisch in die Wiege gelegt worden. „Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt, dass meine Eltern Mitglieder einer Dreig’sang-Gruppe waren und zu Hause geprobt haben. Seit ich reden konnte, bin ich daneben gesessen und habe mit meiner Mama die erste Stimme mitgesungen.“ Seine eigentliche Bestimmung ist aber die Ziehharmonika, umgangssprachlich die „Ziach“. „Mich hat von Anfang an fasziniert, dass du gleichzeitig Melodie und Bass spielen kannst. Du brauchst niemanden sonst für eine g’scheite Musi‘.“
Dabei hat der 28-jährige Oberbayer durchaus ein großes Herz für harmonievolles Gruppengefüge – sei es früher mit dem punkig wilden Wamba Brass Club oder heute nebenbei mit seinen zünftigen Schreinerbuam. „Tatsächlich habe ich kurz mit dem Gedanken an eine Karriere als Profi-Musiker gespielt. Aber um mit den großen Kalibern mithalten zu können, hätte ich schon viel früher wesentlich intensiver üben müssen.“ Lieber wurde er Harmonikabauer – oder, wie es so schön im Amtsdeutsch heißt: Handzuginstrumentenmacher. „So kombiniere ich meine Begeisterung für die Musik mit der Leidenschaft fürs Handwerk und der Faszination für die Ziach.“
Instrumente statt Möbel
Andi stammt aus Steingaden, einem bayerischen Erholungsort mit rund 3.000 Einwohner*innen, in der Nähe von Schloss Neuschwanstein und unweit der Grenze zu Österreich. Einige Gipfel der Tannheimer Berge in Tirol sind bei klarem Wetter schön zu sehen. Volksmusik gehört hier – unbeschadet von jeglicher (österreichischer) Leitkultur-Debatte – zum guten Ton, zum Alltag. „Steingaden ist ein ruhiger Ort – aber es hat gut zehn Kneipen und Lokale, in denen immer was los ist. Außerdem hat es ein unglaublich aktives Vereinsleben. Egal, ob Musikverein, Trachtenverein, Fischereiverein oder Schützenverein, alle versuchen, die Jugend mit einzubinden.“
Gelernt hat Andi sein Handwerk beim traditionsreichen Harmonikabauer Öllerer in Freilassing, die Meisterprüfung hat er 2018 als Jahresbester abgelegt. Ehe er die Ausbildung beginnen durfte, absolvierte er auf Empfehlung seines Lehrherren noch eine Schreinerlehre (das bayrische Äquivalent zum österreichischen Tischler). „Das ist auch ein schöner Beruf. Aber ich baue lieber Musikinstrumente als Möbel.“ Seine Entscheidung, die Werkstatt dem Rampenlicht vorzuziehen, bereut er keinen Moment. „Ich bin so zufrieden mit meinem Leben, dass ich mit niemandem auf der Welt tauschen möchte, nicht einmal für einen Tag.“
Forscher Geist
Andi, der im Herbst zum zweiten Mal Vater wird, hat sich seine Werkstatt im Untergeschoß des Wohnhauses eingerichtet. Hier, in seinem knapp 20 Quadratmeter großen Reich, verbindet der Ziachameister volkstümliche Tradition mit moderner Technik, wobei er die Tradition des beliebten Volksmusikinstruments mit einem spitzbübischen Augenzwinkern betrachtet. „Schau, im Vergleich zur Geige oder zu diversen Blasinstrumenten steckt die Harmonika mit ihren knapp 200 Jahren ja quasi noch in den Kinderschuhen.“
Dementsprechend groß sind aus seiner Sicht die Verbesserungsmöglichkeiten, an denen er gemeinsam mit Hardi Schmid, dem Schreiner seines Vertrauens, tüftelt. „Wir schauen ganz genau, welche Wehwehchen dieses Instrument hat und wie wir sie in den Griff bekommen.“ Besonders intensiv haben sie sich zuletzt mit der komplexen Anordnung der einzelnen Tastenhebel im Inneren des Instruments befasst. „Wir haben eine neue Diskantmechanik entwickelt und zum Patent angemeldet.“ Wie die Verbesserung im Detail zustande kommt, kann und will Andi („Betriebsgeheimnis!“) nicht erklären. Nur so viel: „Von außen kannst du keinen Unterschied erkennen. Aber der Spieler/die Spielerin merkt, dass das Spielgefühl wesentlich geschmeidiger ist.“
Klang nach Maß
2019 hat sich Andi, der neben der Ziach auch Gitarre und Posaune spielt, mit seinem Meisterbetrieb „Nöß Harmonikabau“ selbständig gemacht. Mit einem speziellen Angebot an maßgefertigten, sechs bis siebeneinhalb Kilo schweren „Ziacha“ (wie die Mehrzahl korrekterweise heißt). Wobei die Wahl des Holzes tatsächlich in erster Linie optischen Vorlieben folgt, weil die Tonerzeugung über die metallenen Stimmplatten im Inneren entsteht und nicht – wie etwa bei Geigen oder akustischen Gitarren – über den Korpus.
„Im Endeffekt“, verspricht der Instrumentenbauer, „können wir alles individualisieren, von den Tonarten über das Material der Knöpfe hin zur Balgfarbe und dem Muster der Tragegurten.“ Wobei das, wie er sagt, andere Ziach-Hersteller*innen natürlich ebenfalls anbieten. „Auf Wunsch kann ich aber auch die Mechanik des Instruments und damit den Tastendruck ganz individuell den Ansprüchen der Spieler anpassen. Und das Tremolo, also die Schwebung und damit das Klangbild von ganz flach bis richtig krachig, kannst du dir bei uns ebenfalls maßfertigen lassen.“
Was Andi, der sich auch mit dem Reparieren von Harmonikas regional einen guten Namen gemacht hat, hingegen nicht anbietet, sind Instrumente für Linkshänder*innen, wie er lachend hinzufügen möchte. „Wenn ich alles seitenverkehrt aufbauen müsste, wären die Fehlerquellen unüberschaubar. Da ist es wirklich g’scheiter, du lernst, wie ein Rechtshänder/eine Rechtshänderin zu spielen …“
Die erste Ziach für Stofferl Well
Die allererste Ziach aus dem Hause „Nöß Harmonikabau“ spielt übrigens eine (Volks-)Musiklegende, die weit über die bayerischen Grenzen hinaus bekannt ist. Christoph „Stofferl“ Well, jüngster der drei Well-Brüder, die schon unter dem Namen Biermösl Blosn Volksmusik mit satirischen Texten verbunden haben und immer noch gemeinsam mit Gerhard Polt (und manchmal mit dem Toten Hosen-Frontmann Campino) für urige und gleichzeitig ironische Stimmung sorgen. „Der Stofferl hat vor ein paar Jahren eine Sendung für den Bayerischen Rundfunk bei uns gedreht. Da ging es eigentlich um meine damalige Band, aber danach hat er sich sehr für meine Ziach interessiert und gesagt: „Wenn du dich dann einmal selbständig machst, dann baust du dein erstes Instrument für mich!“
Und das hat Andi gemacht. „Als es so weit war, habe ich ihn angerufen und ihn gefragt, ob sein Angebot noch steht, und er hat gesagt: „Logisch!“ Der Arbeit für Stofferl Well gingen – wie immer bei Maßanfertigungen – wichtige Gespräche voraus. „Er hat sich für eine kleine Ziach, eine Dreireiher entschieden, weil große Instrumente für ihn unhandlich sind. Gestimmt haben wir sie auf ein mittleres Tremolo, genauso wie er es haben wollte. Ich glaube, er dürfte recht zufrieden sein, zumindest habe ich bis heute keine Beschwerden von ihm gehört …“
Ich bin so zufrieden mit meinem Leben, dass ich mit niemandem auf der Welt tauschen möchte, nicht einmal für einen Tag.
Qualität braucht Zeit
„Der Bau einer Ziach – pardon, eines Handzuginstruments – verlangt Geduld – ich baue jede Taste aus neun Einzelteilen zusammen –, eine ruhige Hand und ein ausgezeichnetes Gehör. Außerdem ein Verständnis, wie man so unterschiedliche Materialien wie Holz, Leder, Filz, Papier, Pappe und Metall optimal miteinander verbindet.“ Bis zu 150 Arbeitsstunden stecken in einer Nöß-Ziach. Pro Monat kann Andi im Schnitt ein Instrument fertigen. Dass diese handwerkliche Qualität ihren Preis hat, ist seinen Kund*innen bewusst und auch, dass sie mittlerweile gewisse Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. „Die nächsten eineinhalb Jahre bin ich jedenfalls schon gut ausgelastet.“
Grundlage seiner Unternehmensphilosophie ist, das Holz und dutzende weitere Einzelteile möglichst von lokalen oder regionalen Anbieter*innen zu beziehen. „Ich will nichts aus dem Internet bestellen, nur weil es irgendwo billiger produziert worden ist. Ich brauche persönliche Ansprechpartner*innen, die – genau wie ich – größten Wert auf Qualität legen.“
Zudem sorgt der Kontakt zu Metaller*innen, Holztandler*innen und Trachtenschneider*innen im engsten Umfeld ja auch wieder für gute Unterhaltung für die ganze Familie. „Die Balgschoner kann ich mit dem Rad abholen. Speziell für mich gefertigte Metallteile bringt meine Frau mit, wenn sie mit dem Buam spazieren geht, und die Riemen holt die Mama ab, wenn sie den Opa besuchen fährt.“ Und so klingt Andis Ziach so richtig nach dem echten Leben.
Andreas Nöß, Jahrgang 1995, baut zu Hause im bayerischen Steingaden Steirische Harmonikas, die allerdings ursprünglich in Wien erfunden wurden und ohne einen auch heute noch nachvollziehbaren Grund „Steirische“ genannt werden. Bei Andi heißen diese diatonischen, wechseltönigen Handzuginstrumente mit Knopf-Tastatur ohnehin „Ziach“.
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