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„Ich kann berichten, dass der Wahnsinn schon manchmal an meine Tür geklopft hat!“

Gerd Hermann Ortler hat für das Orchester der Südtirol Filarmonica „Expedition to Paradise“ komponiert. Das Werk wird am 13. Oktober im Wiener Konzerthaus erstmals in Österreich präsentiert. Ein Gespräch mit dem Künstler über das wahre Paradies, Heimat und Inspiration.
Gerd Hermann Ortler
© Helga Traxler

In diesem Werk geht es um das Kind in uns, das seiner Bestimmung folgt und die Entfaltung in Musik sucht – wie ein Zugvogel, der sich unerschrocken südwärts macht.

Einmal im Jahr kehren Südtiroler Musiker*innen, die sonst bei Orchestern wie den Wiener oder Berliner Philharmonikern spielen, zurück in ihre Heimat – und formieren sich zum Orchester der Südtirol Filarmonica.

Heuer gastieren die Künstler*innen am 13. Oktober im Wiener Konzerthaus. Unter dem Titel „Gustav Mahler und Gerd Hermann Ortler treffen sich im Konzerthaus“ begegnen sich an diesem Abend zwei Werke, die exemplarisch für die künstlerische wie biografische Verbundenheit zwischen Südtirol und Wien stehen. Gespielt werden Gustav Mahlers Adagio aus der 10. Symphonie (in Toblach entstanden!), die „Fuga Ricercata“ von Bach in der Bearbeitung von Anton Webern – und als Highlight die österreichische Erstaufführung des neuen Werks „Expedition to Paradise“ von Gerd Hermann Ortler, komponiert für Klarinette, Trompete und Orchester.

Wir haben vorab mit dem Komponisten und Musiker über seine Wurzeln, Einfälle sowie Genie und Wahnsinn in der Kunst gesprochen …

funk tank: Sie sind in Südtirol geboren und wohnen in Wien. Wie unterscheidet sich die Lebensart der beiden Orte und wo und wie empfinden Sie Heimat?

Gerd Hermann Ortler: Südtirol ist ländlich geprägt, besonders der obere Vinschgau, wo ich aufgewachsen bin: atemberaubende Landschaft, Ruhe, Genuss sowie meine Eltern und Brüder in Glurns, einem mittelalterlichen 900-Einwohner-Städtchen.

Wien dagegen ist urban, dynamisch, ein Zentrum der Kunst. Hier findet man renommierte Museen und Konzerthäuser, inspirierende Künstler*innen und Musiker*innen – auch aus der Vergangenheit: Es ist ein Ort, wo Beethoven gewohnt hat, Schubert herumspaziert ist, Mozart gezecht und Brahms ein Würstel gegessen hat. Die eklektische Vielfalt Wiens, die historischen Vorbilder und die zeitgenössischen Künstlerkollegen und Kolleginnen motivieren mich weiterzuwachsen, denn diese Mischung aus Tradition und Offenheit inspiriert mich enorm und gibt mir Raum für künstlerische Entfaltung.

Ich brauche Südtirol und Wien, den Kontrast, den Wechsel, neue Perspektiven, frische Eindrücke, um dadurch ein dreidimensionales Bild der Welt für meine Kreativität zu bekommen. Heimat? Sie ist, wo meine Musik ist. In Klang, nicht in Koordinaten.

Ihre neue Komposition „Expedition to Paradise“ feiert im Wiener Konzerthaus österreichische Premiere. Was war Ihre Inspiration dafür?

Die Initialzündung für dieses Doppelkonzert für Klarinette, Trompete und Orchester kam von Bertold Stecher. Er stammt ebenfalls aus Südtirol und ist Berliner Philharmoniker. Er hatte die Idee, dass ich ein Werk für ihn und Andrea Götsch als Solist*innen komponieren sollte. Auch Andrea ist Südtirolerin und spielt bei den Wiener Philharmonikern.

Ich habe mich gefragt: Was verbindet uns? Die Reise. Vom ersten Tag als Kind mit dem Instrument in der Hand bis zur großen Bühne. Das habe ich „Expedition to Paradise“ genannt. Aber kein Paradies mit Palmen oder pausbackigen Engeln, sondern ein Ort, den wir selbst bauen: eine Welt, in der Musik die Menschen über Grenzen hinweg verbindet und gemeinsame Erlebnisse schafft. Die Solist*innen bringen nicht nur den brillanten Klang ihrer Instrumente ein, sondern ganze Universen: Wiener Glanz, Berliner Dynamik, Südtiroler Bodenhaftung. Dabei webe ich jodelnde Walzer-Techno-Beats in die Komposition ein – wie ein Ruf aus den Bergen, der sich im Wiener Dreivierteltakt dreht und dann von Techno-Druck aufgeladen wird. Dazu lasse ich den facettenreichen Sound des Jazz sowie frische Farben der Neuen Musik einfließen und verschmelze sie zu meiner ureigenen Klangwelt.

In diesem Werk geht es um das Kind in uns, das seiner Bestimmung folgt und die Entfaltung in Musik sucht – wie ein Zugvogel, der sich unerschrocken südwärts macht.

Gerd Hermann Ortler, Andrea Götsch, Michael Pichler, Bertold Stecher (von vorne nach hinten)
Gerd Hermann Ortler, Andrea Götsch, Michael Pichler, Bertold Stecher (von vorne nach hinten) © Lukas Lorenz
Sie haben das Stück speziell für die Südtirol Filarmonica komponiert. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit diesem Ensemble?

Die Südtirol Filarmonica ist eine Initiative von unschätzbarem Wert: Sie bringt Südtiroler Musiker*innen, die in renommierten Orchestern weltweit spielen, einmal im Jahr zusammen. Es ist ein kulturelles Fenster: Südtiroler Perspektiven aus dem Ausland fließen zurück in die Region und umgekehrt tragen wir die Essenz Südtirols als Botschafter*innen in die Welt hinaus. Die Zusammenarbeit mit diesem Orchester ist sehr erfreulich, denn wir teilen die Überzeugung, dass künstlerischer Austausch sehr wichtig ist. Wir sind am stärksten, wenn wir unsere Augen, Ohren und Herzen öffnen, das Schöne und Beeindruckende auch außerhalb unserer Grenzen wahrnehmen, davon lernen und unsere Entwicklung damit bereichern.

Gustav Mahler gilt als visionärer Komponist, irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sehen Sie Parallelen zwischen seiner kreativen Kühnheit und Ihrem eigenen Schaffen?

Ich würde mich nie direkt mit Mahler auf eine Stufe stellen – das wäre anmaßend. Seine Musik inspiriert mich und bewegt mich tief. Aber es gibt wahrscheinlich einige Parallelen: Das Ringen, sein Innerstes in Töne zu pressen, eine ganze Welt in ein Klangbild fassen zu wollen, das innere Kind herauszulassen, Geschichten zu erzählen – nicht mit Worten, sondern mit Musik.

Komponist sein ist ein sehr einsamer Beruf und man muss tief in sich hineinhorchen. Genie und Wahnsinn liegen bekanntlich nahe beieinander. Ich kann davon berichten, dass zumindest der Wahnsinn schon manchmal an meine Tür geklopft hat!

Gerd Hermann Ortler ist ein Südtiroler Komponist, Dirigent und Musiker, der für seine genreübergreifenden Werke zwischen zeitgenössischer Musik, Jazz und Improvisation bekannt ist.

Das Orchester der Südtirol Filarmonica spielt seit 2019 in wechselnder Besetzung mit international erfolgreichen Südtiroler Musiker*innen, die jährlich für gemeinsame Konzerte in ihre Heimat zurückkehren.

Gerd Hermann Ortler

Südtirol Filarmonica

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Alicia Weyrich
arbeitet als Journalistin, Texterin und PR-Beraterin in Wien. Neben dem geschriebenen Wort liebt sie die Musik, das Meer, gutes Essen sowie Zeit mit ihren Lieblingsmenschen.

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