Marietta Babos und Damensache: Vom Sparen zum Investieren

Die gebürtige Ungarin, promovierte Ökonomin und frühere Strategieberaterin Dr. Marietta Babos gründete 2018 die Finanz-Plattform „Damensache“, um Frauen in Österreich den Weg zu finanzieller Unabhängigkeit zu ebnen. Am 5. Mai 2025 lädt sie zum „Damensache Day“ ins Wiener Palais Eschenbach – mit Vorträgen, Networking und Finanzwissen – speziell für Frauen. Im Gespräch mit funk tank verrät Marietta Babos, warum Altersvorsorge keine Männerdomäne ist, welche Fehler viele Frauen (unbewusst) machen und wie finanzielles Wissen zum Gamechanger werden kann …

funk tank: Die Nachfrage nach Ihrer Expertise ist groß, was gleichzeitig bedeutet, dass wir in Sachen finanzieller Gleichberechtigung weit hinten sind. Wie weit hinten sind wir wirklich in Fakten und Zahlen?

Dr. Marietta Babos: Ja, die Nachfrage zeigt deutlich, dass viele Frauen aktiv nach finanzieller Selbstbestimmung streben – und das ist gut so. Gleichzeitig spiegeln die Zahlen leider auch, wie viel noch zu tun ist:

• Gender Pay Gap: Frauen verdienen in Österreich im Schnitt rund 17,1 % weniger als Männer (Stand 2023, Statistik Austria). Das ist einer der höchsten Werte in Westeuropa.
• Gender Pension Gap: Die Pensionslücke ist noch gravierender – Frauen erhalten durchschnittlich 41,1 % weniger Pension als Männer.
• Teilzeitquote: Rund 49 % der erwerbstätigen Frauen arbeiten Teilzeit – bei Männern sind es nur rund 11 %. Das wirkt sich massiv auf Einkommen, Karrierechancen und Altersvorsorge aus.
• Finanzbildung: Laut OECD-Studien schätzen sich Frauen im Schnitt deutlich seltener als „finanziell kompetent“ ein als Männer – obwohl sie in vielen Bereichen die besseren Entscheidungen treffen würden.
• Investieren: Nur etwa ein Drittel der Privatinvestor*innen in Österreich sind Frauen. Dabei zeigen Studien, dass Frauen oft risiko- und langfristig orientierter investieren – und damit sogar erfolgreicher sind.

Diese Zahlen zeigen: Wir sind mittendrin im Aufbruch – aber noch lange nicht dort, wo wir hinwollen. Genau deshalb ist finanzielle Bildung für Frauen kein „Nice to have“, sondern ein Schlüssel zur echten Gleichberechtigung.

Bitte erzählen Sie uns ein bisschen etwas über Ihren persönlichen Weg zur Finanz-Expertin …

Ich habe zwar Makroökonomie studiert und in Banking & Finance in St. Gallen in der Schweiz promoviert, aber trotzdem ist etwas in unserer Familie passiert, das von einen auf den anderen Tag alles verändert hat. Mein Vater starb unerwartet an einem Herzinfarkt und neben diesem großen Verlust für unsere Familie war meine Mutter plötzlich armutsgefährdet, obwohl sie stets berufstätig war und zwei Kinder großgezogen hat. Das hat mich nicht in Ruhe gelassen, weil ich eine sehr analytische Person bin, und so habe ich herausgefunden, dass das kein Einzelfall, sondern systematisch in unserer Gesellschaft verankert ist.

Zu dem Zeitpunkt wurde ich 40 Jahre alt, und da habe ich für mich beschlossen, dass ich als Beitrag für eine bessere Welt Frauen aufkläre, wie wichtig es ist, selbstbestimmt zu leben, und sie über Stolpersteine in der Erwerbsbiografie informiere. Damals habe ich meine Studentinnen neben meinem Lehrauftrag einfach so darüber informiert. Irgendwann saßen Hunderte von Studentinnen bei mir und haben mich gefragt, wie sie dieses Wissen umsetzen sollen. Ich habe ihnen empfohlen, eine unabhängige Finanzberatung für Frauen aufzusuchen, und es hat sich herausgestellt, dass es so etwas nicht gab. Das hat mich dazu angespornt, mich mit der Finanzwelt auszutauschen. Ich habe mit sehr vielen Banken und Versicherungen gesprochen, mit der Idee, eine Kampagne nur für Frauen zu starten, aber eigentlich nur Ablehnung erlebt. Somit habe ich ein Start-up gegründet, das war die Geburtsstunde von „Damensache“.

Mittlerweile sind wir kein Start-up mehr. Wir beraten Frauen österreichweit hinsichtlich Finanzplan, Produkte etc. – es ist eine wunderschöne Aufgabe, weil man sieht, wie die Frauen über die Jahre immer selbstbewusster werden und Spaß daran finden. Wir haben aktuell eine Empfehlungsquote von über 40 Prozent und müssen keine Werbung schalten; Mütter bringen ihre Töchter usw. Wir haben echt das Gefühl, dass wir die Welt etwas besser machen!

Portraitfoto Dr. Marietta Babos/Damensache
© Alexandra Grill

Ich finde, dass nicht das Geld das Problem ist, sondern wie wir damit umgehen.

Sie haben selbst eine Tochter. Ab wann beginnt man mit der finanziellen Aufklärung, und wie macht man das am besten aus Elternsicht?

Ich bin Teenager-Mama, allerdings habe ich viel früher mit dem Sparen mit ihnen begonnen, ganz am Anfang mit 6 Euro Taschengeld im Monat. Wir haben das auf 3 Töpfe aufgeteilt. Der erste Topf ist für alles Mögliche, was man sich kaufen möchte. Der zweite Topf ist für etwas, wofür man mittelfristig ansparen möchte. Der dritte Topf ist in Erwachsenensprache die Pensionsvorsorge, in Kindersprache hat es geheißen, dass wir das nie angreifen. So wurde das Geld gedrittelt: Sie hatten etwas für kurzfristigen Spaß, etwas zur Vorfreude und etwas, das langfristig angelegt und nie ausgegeben wurde – das ist allerdings schon einige Jahre her. Durch die Inflation sind die Summen heutzutage sicher anders. Meine Tochter geht bis heute bei ihren Ferienjobs so mit dem Geld um.

Viele Kundinnen sparen auch für ihre Kinder, z. B. 100 Euro im Monat, und dabei ist es schön zu sehen, dass die Kinder informiert werden, wofür gespart wird, z. B. welche Unternehmen in den Wertpapierfonds drinnen sind. Wenn ein Kind adidas liebt und weiß, dass seine Lieblingsmarke auch in den Fonds ist, können Kinder das so miterleben.

Ich bin sehr stolz, dass der Anfang der „Damensache“ Pionierarbeit war und die damalige Bundesministerin einen Termin mit mir vereinbart hat und kurz danach die Finanzbildung für Mädchen und Frauen in das Regierungsprogramm aufgenommen wurde. Mittlerweile gibt es sogar eine nationale Finanzbildungsstrategie, die immer mehr ausgerollt wird.

Ich empfehle jeder und jedem, die Kinder miteinzubeziehen. Bei meinen Kindern ist es so, dass sie ihre Veranlagungen über mich haben und ich ihnen auch die Bewegungen der Kapitalmärkte erkläre. Die ältere Generation hat mit Spar-Produkten/Bausparern gelernt anzulegen, allerdings ist das heutzutage leider nicht mehr ausreichend aufgrund der Inflation. Deswegen müssen wir Mut ergreifen und von Sparerinnen zu Investorinnen werden.

Finanzielle Engpässe können auch von einen auf den anderen Tag passieren, z. B. als selbstständige Unternehmerin und alleinerziehende Mutter. Das sind ja gleich zwei Bereiche, wo es definitiv finanzielle Nachteile gibt. Welche Tipps haben Sie in solchen Fällen?

Absolut richtig – wer selbstständig ist und alleinerziehend, trägt doppelte Verantwortung und hat oft deutlich weniger finanzielle Sicherheitspuffer als andere. Hier sind meine wichtigsten Tipps:

1. Finanzielle Basis schaffen – so früh wie möglich
• Eine Liquiditätsreserve ist das A und O – idealerweise 3 bis 6 Monatsausgaben.
• Wer keine Rücklagen hat: sofort beginnen, auch wenn es nur 50 Euro pro Monat sind. Konstanz schlägt Höhe.
• Fixkosten regelmäßig überprüfen: Was brauche ich wirklich? Was ist verzichtbar?

2. Private und unternehmerische Finanzen trennen
• Das hilft, den Überblick zu behalten und klare Prioritäten zu setzen.
• Gerade bei Engpässen zeigt sich, wie wichtig professionelle Buchhaltung und Planung sind.

3. Vorsorge für Notfälle – auch wenn sie unbequem ist
• Berufsunfähigkeitsversicherung, Krankenversicherung, Haushaltsversicherung – bei Alleinerziehenden unverzichtbar.
• Wer fällt ein, wenn ich plötzlich krank werde? Eine Notfallmappe mit Vollmachten und Kontaktdaten ist Gold wert.

4. Netzwerke und Solidarität
• Keine*r muss alles alleine stemmen: Netzwerke bieten Unterstützung, Austausch und konkrete Hilfen.
• Gemeinsam kommt man oft auf Lösungen, die allein nicht sichtbar waren.

Mein wichtigster Rat: Nicht aus Angst in den Stillstand verfallen. Auch kleine Schritte zählen – und oft öffnen sich neue Türen, wenn man mutig den ersten macht. Wer Unterstützung braucht, findet sie.

Auf Ihrer Website gibt es den Zukunftsrechner. Was hat es damit auf sich?

Der Zukunftsrechner ermöglicht es, basierend auf persönlichen Daten sowie Sparmöglichkeiten und bevorzugten Veranlagungsformen, das spätere private Budget für einen unabhängigen und genussvollen Ruhestand zu berechnen. Anhand eines konkreten Beispiels wird veranschaulicht, wie sich der Zinseszinseffekt über eine möglichst lange Veranlagungsdauer positiv auswirkt. Als Beispiel dient ein Startalter von 25 Jahren – ein guter Zeitpunkt, um mit der Vorsorge zu beginnen, natürlich kann aber jederzeit damit gestartet werden. Dieses gemeinsame „Ausprobieren“ bildet einen zentralen Bestandteil der ersten „Damensache"-Strategiegespräche.

Viele Menschen haben Respekt vor dem Geschäft mit Aktien, Fonds & Co. Wie startet man in die Welt der Anlage und finanziellen Absicherung für die Zukunft?

Wissen ist Macht. Darum veranstalten wir auch am 5. Mai den ersten „Damensache Day“ im Wiener Palais Eschenbach. Wir wollen mit Expert*innen wie Steuerberaterinnen, Juristinnen und Themen wie Anlage, Karriere, Finanz und Familie zeigen, dass es nicht kompliziert ist und an diesem Tag die Angst davor nehmen. Wir erwarten 250 Frauen und sind jetzt schon fast ausverkauft, das ist eine schöne Bestätigung, dass sich so viele Frauen diesen Themen widmen und sich auch frei dafür nehmen. Der 5. Mai ist nicht zufällig gewählt, denn ich habe ihn schon vor Jahren zum Tag der finanziellen Selbstbestimmung ausgerufen, das hat mir damals mein erstes großes Interview im Standard gebracht, letztes Jahr ist an diesem Tag mein Buch „Geld ist Damensache“ erschienen.

Wir zeigen bei „Damensache“ und dem Event alle Anlagemöglichkeiten, von konservativ bis riskant, ganz objektiv. Wenn man alle Infos auf dem Tisch hat, verschwindet die Angst. Man muss nicht von 0 auf 100 kommen, Hauptsache, man startet mit der ersten Veranlagung. Vielleicht mit etwas Konservativem, wie kostenlos eine Staatsanleihe auf bundesschatz.at zu kaufen. Oder man investiert in physisches Gold oder hat schon Münzen geerbt oder geschenkt bekommen. Oder man startet mit Wertpapierfonds mit Risikostufe 3, es gibt die Stufen 1 bis 7. Das ist kein Wettbewerb und man muss sich mit niemandem matchen. Was ich auf jeden Fall ans Herz lege, sind unabhängige Plattformen, darum gibt es auch unseren Verein. Da zeigen wir alle Möglichkeiten auf, auch wenn wir wirtschaftlich nichts davon haben. Das ist nicht das Ziel. Hauptsache, die Kundinnen finden ihren Weg und verlieren die Angst vor der Anlage, Respekt ist gut, Angst kann man mit Wissen besiegen. Deswegen bieten wir auch unsere Beratungsgespräche kostenlos an, unabhängig davon, wofür sich die Kundin dann entscheidet.

Damensache-Tipps von Dr. Marietta Babos zur Anlage
Tipps aus dem Buch "Geld ist Damensache" von Marietta Babos © Dr. Marietta Babos
Warum denken Sie, dass Frauen noch immer größere Probleme damit haben, über Finanzen zu sprechen und z. B. auch bei Gehaltsverhandlungen zurückhaltender sind als Männer? Und wie kann man dem entgegenwirken?

In Beziehungen ist das Gespräch sowieso Tabuthema, für beide Geschlechter. In der letzten Zeit bemerke ich bei Frauen, dass sie gerne darüber sprechen, das finde ich sehr schön. Laut Analysen ist z. B. bei Wertpapierfonds, die von und mit Frauen geführt werden, die Performance signifikant besser. Weil Frauen sich zwar langsamer entscheiden, weil sie viele Informationen beschaffen, aber dafür sind sie vorausschauender und bleiben dann bei der Strategie, damit sparen sie Kosten und Risiko.

Bei den Gehaltsverhandlungen können wir uns wirklich etwas von Männern abschauen, da sie für sich selbst einstehen. Viele Frauen denken, dass die eigene Leistung eh gesehen wird. Nur gilt: Tu Gutes und sprich darüber. Bis auf die Überwindung kostet das Nachfragen gar nichts, denn es kann nichts passieren, wenn man etwas fordert, auch mit dem „Nein“ kann man dann im Jahr darauf arbeiten und es wieder zum Gespräch machen.

Gehaltsverhandlungen sind strategisch zu behandeln, mit objektiven Gründen kann man sich wunderbar vorbereiten. Je konkreter wir auflisten können, welche Ideen, Gedanken, Leistungen etwas bringen, umso konkreter kann dieser Wunsch in die Chefetage getragen werden. Aus dem HR-Bereich weiß ich, dass diese Gespräche selten zustande kommen. Also bitte: Nur Mut.

Sehr hilfreich sind Vergleichsportale, die einen Überblick geben, wo man sich auf der Skala des Gehalts befindet. Auch diese Skala zeigt leider bis heute deutlich, dass ein Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht wird und Frauen 10 bis 20 Prozent weniger verdienen, bei gleicher Jobbeschreibung.

Sie haben noch 1000 Euro auf Ihrem Konto und wissen nicht, was die finanzielle Zukunft bringt, was tun Sie damit?

Ich würde dann unbedingt in konservative Veranlagungsformen investieren, das sind fix verzinste Tagesgeldkonten, bei denen man 2 bis 3 Prozent Zinsen bekommt. Trotzdem muss man sagen, dass selbst von diesen Minizinsen Steuern abzuführen sind, aber es wäre zumindest mehr, als wenn man gar nichts tun würde.

Wir sind mittendrin im Aufbruch – aber noch lange nicht dort, wo wir hinwollen. Genau deshalb ist finanzielle Bildung für Frauen kein „Nice to have“, sondern ein Schlüssel zur echten Gleichberechtigung.

Geld bedeutet Ihnen …

… Freiheit, mehr Emotion habe ich nicht dazu, aber das ist eine sehr wichtige Emotion. Weil das die Freiheit ist, über einen selbst frei entscheiden zu können. Das ist meiner Meinung nach der Sinn von Geld und nicht die Anhäufung von Gütern. Geld alleine ist auch nicht böse, das ist oft eine Annahme, die viele haben. Denn wenn du Geld hast, kannst du auch die Welt in die gute Richtung lenken. Wenn du dich z. B. für nachhaltige Fonds entscheidest, unterstützt du Unternehmen, Produkte usw., die das Gute fördern. Ich sage es immer scherzhaft: Geld alleine macht nicht unglücklich.

Die finanzielle Freiheit ist ein kostbares Gut, das ich jeder und jedem wünsche. Finanzen in einer Partnerschaft sind auch eine wichtige Sache, ich wünsche daher meinen Kindern und jedem Menschen eine Beziehung, die man führt, weil man sich liebt und die nichts mit finanzieller Notwendigkeit zu tun hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Partnerschaften positiv verlaufen, wenn das Thema Finanzen auf Augenhöhe passiert.

Würde es kein Geld geben, dann …

… würden wir bestimmt anders leben und denken. Wir müssten unsere Bedürfnisse direkt tauschen, z. B. Zeit gegen Nahrung, Wissen gegen Unterkunft, Pflege gegen Schutz. Das klingt romantisch, ist aber oft unpraktisch. Geld ist schon eine geniale Erfindung, weil es den Tausch vereinfacht, wir können Werte vergleichen und Zeit überbrücken. Das sehe ich wirklich rein praktisch. Anders betrachtet gäbe es ohne Geld natürlich auch keine Unterschiede, auch keinen Gender Pay Gap, keine finanziellen Abhängigkeiten, dann müssten wir andere Methoden finden, um Wertschätzung zu zeigen. Ich finde, dass nicht das Geld das Problem ist, sondern wie wir damit umgehen.

Dr. Marietta Babos, geboren 1978 in Ungarn, ist Ökonomin, Unternehmerin und Gründerin der Finanzbildungsplattform „Damensache – Finanzen für Frauen“. Nach ihrem Studium in Budapest und Wien arbeitete sie als Strategieberaterin. 2015 promovierte sie an der Uni St. Gallen im Bereich Banking & Finance. Mit „Damensache“ setzt sie sich seit 2018 für finanzielle Selbstbestimmung von Frauen ein. Für ihr Engagement wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Minerva Award 2023. Babos ist zweifache Mutter und Autorin des Ratgebers „Geld ist Damensache“.

Am 5. Mai 2025 lädt „Damensache“ zum Finanz-Event für Frauen ins Palais Eschenbach in Wien. Geboten werden Workshops, Talks und Finanzwissen – von Vorsorge bis Investment. Das Ziel: Finanzielle Unabhängigkeit für Frauen.

Damensache

PCCC: Queere Insider-Jokes und Feminismus für alle und jederzeit

Das queer-feministische Schaffen von Künstlerin Denice Bourbon ist vielfältig: Sie ist schon als Sängerin, Burlesque-Performerin, Theaterschauspielerin und Stand-up-Comedian auf der Bühne gestanden. Mit ihrem Politically Correct Comedy Club (PCCC) bringt sie vor allem FLINTA*-Personen auf die Bühne …

funk tank: Der PCCC wurde 2017 gegründet. Wie hat er sich seither entwickelt?

Denice Bourbon: Es ist ein Wahnsinn! Ein Thema war am Anfang, dass das queere Publikum in Wien eigentlich überhaupt nicht an Comedy interessiert war, weil wir ja meist selbst part of the jokes waren. Das war ja auch der Grund für den PCCC, weil es damals einfach kaum Kabarettistinnen und Kabarettisten gab, zu denen ich als queere Person hingehen wollte. Und vor allem gab es keine queere Comedy. Wir haben damals in einem Saal mit 100 Plätzen angefangen – und unsere ersten Shows waren alle ausverkauft. Das hat uns sehr überrascht. Dann hat uns das WUK kontaktiert und eingeladen. Ich habe mir gedacht: Das sind 280 Sitzplätze, das werden wir nie füllen.

Und, habt ihr es dann doch füllen können?

Wir waren ein einziges Mal nicht ausverkauft. Damals ist Cher in der Wiener Stadthalle aufgetreten. Das sagt auch etwas über unser Publikum aus.

Ist euer Publikum mehrheitlich queer?

Es ist bunt gemischt. Aber die Queeren darunter erkennt man daran, worüber sie lachen. Uns sind alle willkommen, wir machen keine grundlegende Educational Comedy. Wir verwenden einschlägige Begriffe, und wer die im Publikum nicht kennt, muss sie halt nachschauen. Da merken wir, was für ein Publikum wir haben. Wir sind offen für alle, aber wir machen keine Abstriche, damit auch nicht-queere Personen alles verstehen.

Portraitfoto von Denice Bourbon vom PCCC
© Daniel Hill

Ich möchte nie und nimmer ein Mann sein. Es wirkt so ermüdend, was Männer machen müssen, was sie nicht machen dürfen – ich hoffe, dass wir irgendwann zu dem Punkt kommen, wo Männer verstehen, dass Feminismus für alle da ist.

Ich gebe ehrlich zu: Ich weiß auch erst seit etwa einem Jahr, dass ich ein Cis-Mann bin.

Natürlich wusstest du das vorher nicht mit dem Cis-Mann. Wenn man zur Norm gehört, dann denkt man auch nicht darüber nach. Ich habe zum Beispiel nie darüber nachgedacht, wie mein Körper funktioniert, bis ich eine gute Freundin im Rollstuhl hatte. Das hat meine Sicht verändert.

Als Nicht-Betroffene*r kann man vielleicht mitfühlen und mitleiden, aber man ist selbst nicht eingeschränkt.

Ja, das ist ein Privileg. Darum geht es uns ja: Wir verwenden Comedy als Werkzeug, um auf Sachen aufmerksam zu machen. Und es ist sehr schön, dass Leute von unseren Shows inspiriert sind. Und ja, wir sind politisch korrekt, aber vor allem geht es uns um den Spaß. Vor dem PCCC hatten wir keinen Raum, in dem wir sitzen und gemeinsam über depperte Dinge in unserer Welt lachen konnten. Und das ist so eine Erleichterung, wenn man merkt: Ich bin nicht allein. Mir war auch immer wichtig zu schauen, wer auf der Bühne steht, dass es nicht immer eine weiße Cis-Norm ist, sondern dass die Künstler*innen so vielfältig sind wie das Publikum. Unser Publikum ist wahnsinnig aktiv. Die sind laut, die machen mit, es ist richtig unwienerisch. Das finde ich ja komisch: Wien ist sonst immer so laut, aber im Kabarett sitzen alle ganz still da.

Besteht nicht ein bisschen die Gefahr, wenn queere Menschen queere Comedy für queeres Publikum machen, dass man irgendwann gemeinsam im Selbstmitleid badet und einander vorjammert, wie gemein die cis-normative Gesellschaft zu einem ist?

Darum geht es ja nicht. Wir reden eher darüber, wie super wir sind, statt wie anstrengend die anderen sind. Die interessieren uns ja gar nicht so. Das glauben nur manche Leute, so wie sie bei feministischer Comedy glauben, dass es nur darum geht, wie scheiße Männer sind. Aber das stimmt nicht. Dazu ist mir auch meine Zeit zu schade, um darüber zu reden, was Männer alles falsch machen. Es geht um unsere Erfahrungen ...

Da kann man dann auch Insider-Jokes machen, weil man weiß, dass sie von allen im Saal verstanden werden.

Genau. Wenn ich zum Beispiel erzähle, dass ich fünf Toaster daheim habe, dann wissen alle Lesben im Publikum, dass das eine Anspielung auf Ellens Coming-out in einer TV-Show in den Neunzigern ist. Und es ist okay, wenn das nicht alle verstehen, weil der nächste Witz ist dann wieder für alle lustig. Was mir oft passiert ist – und das freut mich auch – war, dass nach der Show Leute zu mir gekommen sind und zum Beispiel gesagt haben: „Ich bin ein heterosexueller Cis-Mann, und ich hatte keine Ahnung, aber jetzt hab ich was Neues gelernt, und es ist ur lustig.“ Ich glaube, Leute, die noch nie in unseren Shows waren, haben fast ein bisschen Angst und glauben, dass es zu exklusiv für sie ist und sie sich nicht wohlfühlen werden. Aber das ist es nicht. Wir machen das ja nicht, um Leute zu bestrafen, sondern um Leute zu bespaßen. Wir sind ja auch keine Aliens.

Sind alle Performer*innen queer?

Es leben nicht alle queer, aber sie bringen alle ein Verständnis dafür mit. Das Wichtigste für mich ist, dass es intersektional ist, dass sie also etwas anderes mitbringen. Wir haben auch PoC (People of Color, Anm. der Redaktion) auf der Bühne. Aber natürlich habe ich viele Trans-Performer*innen. Es geht darum, die Norm zu brechen, und langsam wird es besser in Österreich. Dass wir jetzt so viele junge Kabarettistinnen haben, ist auch zu einem Gutteil unser Verdienst. Malarina kommt vom PCCC – das ist ja eine großartige Geschichte: Sie wollte für mich schreiben, und ich habe gesagt: „Ich glaube, du solltest deine Texte selber auf die Bühne bringen.“ Maria Muhar hat bei uns angefangen, Toxische Pommes …

Lauter Preisträgerinnen beim Österreichischen Kabarettpreis.

Ja genau, und das hat der PCCC geschafft. Ich bin ziemlich sicher, dass AnnPhie Fritz, die auch zum PCCC-Pool gehört, auch eine Auszeichnung bekommen wird. Ihre Show ist unglaublich gut. Normalerweise treten Queers oder Punks – ich definiere mich als queer-lesbische Fem-Punk – in irgendwelchen Kellern mit zwanzig Plätzen auf. Dass wir mit dem PCCC diese große Bühne kriegen, diese Räume besetzen können und unsere Sachen auch andere Leute interessieren, das ist richtig cool. Wir machen ja auch Gastspiele in Berlin.

Wie steht denn Österreich im internationalen Vergleich da?

Ich bin in Schweden aufgewachsen und habe immer schon die britische und amerikanische Stand-up-Comedy sehr geliebt. Als ich vor mehr als zwei Jahrzehnten nach Wien gekommen bin, hat es da hier kaum etwas gegeben. Das klassische Kabarett mit geschriebenen Texten war einfach nichts für mich. International hat sich in den vergangenen zehn Jahren viel verändert. Ich glaube, das hat mit MeToo zu tun, dass Leute gesagt haben: „Warte mal, stop! Wir wollen keine rassistischen Witze mehr, wir wollen not another fucking guy talking about his dick.“ Und seitdem ist es so breit geworden.

Deine Comedy ist auf Englisch.

Ja, oder Denglisch. Als ich angefangen habe, wurde mir gesagt: Stand-up-Comedy auf Englisch in Wien, das kannst du vergessen. Und ich habe mir gedacht: Let’s see, I will try. In Wien gibt es ja ur viele Menschen, die nicht Deutsch als Erstsprache haben, und das wird einfach ignoriert, wie viele das sind. Auf meiner Tour mit Christiane Rösinger und Stefanie Sargnagel habe ich festgestellt, dass das mit den englischsprachigen Programmen in Österreich einfacher ist als in Deutschland. Dort sind sie irgendwie konservativer, wenn es um die Sprache geht. Obwohl das Publikum da wie dort ähnlich ist.

Gibt es da ein West-Ost-Gefälle zwischen ehemaliger BRD und DDR?

Das kann ich nicht sagen, weil wenn wir in Ostdeutschland auftreten, dann sind wir an coolen, alternativen Spielorten. Die ganze Welt hat sich verändert, die Szene in Wien hat sich verändert, und ich weiß, dass der PCCC einen großen Teil dazu beigetragen hat.

Färbt das auch auf etablierte Kabarettistinnen und Kabarettisten und Comedians ab?

Auf jeden Fall. Ich weiß aber, dass viele männliche Kabarettisten den PCCC als den größten Scheiß sehen, den man überhaupt nicht braucht.

Ich nehme an, das sind die, die sagen, dass man gar nichts mehr sagen darf.

Was ja nicht stimmt, denn offensichtlich darf man immer noch alles sagen. Die Frage ist nur: Warum will man es sagen? Ich weiß auch nicht, warum die so viel Energie darauf verwenden. Der PCCC tut ja niemandem weh, wir sind ja nicht gemein zu irgendwem, wir machen es einfach so, wie wir es richtig finden. Und es ist mir völlig egal, was andere machen. Sollen sie es machen. Aber dann gehe ich halt nicht dorthin. Ich glaube, das hat viel mit Angst zu tun. Man hat Angst, Macht zu verlieren, man hat Angst, irrelevant zu werden. Vor zwanzig Jahren war ich noch wütend darüber, aber inzwischen habe ich Besseres zu tun. Ich freu mich lieber, dass es bei uns so gut läuft.

Gibt es nicht auch umgekehrt den Trend, dass queer heute als hip empfunden wird?

Queer, non-binary oder trans ist nicht 24/7 superlustig. Es ist wahnsinnig schwierig, eine Wohnung zu finden, auf Urlaub zu fahren, sich irgendwo einzuschreiben. Wenn du mit deiner Partnerin unterwegs bist, musst du dich jedes Mal outen. Auf der Straße wirst du immer noch komisch angeschaut. Man bekommt Rechte zugestanden bis zu einer gewissen Grenze, und dann heißt es: Jetzt ist es zu viel. Aber wer entscheidet das, die Cis-Community? Es ist beim Rassismus genau das Gleiche. Ich meine, vor nicht einmal zehn Jahren hat sich ein Kabarettist backstage aufgeregt, dass er das N-Wort nicht mehr auf der Bühne sagen darf. Jetzt ist das keine Diskussion mehr. Es kommt immer eine Empörung auf, wenn jemand sagt: „Ich hätte gern meine Rechte.“ Da hab ich echt keinen Bock mehr drauf. Was geht es andere Leute überhaupt an, wenn jemand non-binary ist? Das hat original gar nichts mit deren Leben zu tun. Viele Leute haben viel zu viele fucking Meinungen in Bezug auf Dinge, die sie nicht betreffen.

Ich bin seit dreißig Jahren politisch aktiv und habe alles mitgemacht. Ich war in der Gay-Bewegung, dann kam Trans, vor etwa zehn Jahren ging es wieder vor allem um Rassismus, seit einiger Zeit reden wir verstärkt über Gender, und jetzt wird bald Klasse kommen. Ich verstehe es einfach nicht, wenn die Norm sich empört über Leute, die nicht der Norm entsprechen. Ich rege mich ja auch nicht über heterosexuelle Kleinfamilien auf, die Häuser bauen. Weil es mich nicht betrifft.

Wie definierst du Feminismus?

Auf jeden Fall intersektional. Das ist einer der wichtigsten Begriffe, weil es da ein System gibt. Feminismus bedeutet Gleichberechtigung für alle. Es geht darum, dass es für alle gleich und fair ist.

Männer müssen sich ebenfalls befreien, und zwar von toxischer Hardcore-Maskulinität. Das ist ja unglaublich ungesund, darüber müssen wir wirklich dringend reden. Das ist ein bisschen, als ob man einen Scheiß-Job hat, den man hasst, aber man wird mit einem hohen Gehalt an der Stange gehalten. Dann macht man sich vor, dass es schon passt, aber in Wahrheit ist man todunglücklich dabei. Und so sieht in meinen Augen die Gesellschaft für Männer aus. Ich möchte nie und nimmer ein Mann sein. Es wirkt so ermüdend, was Männer machen müssen, was sie nicht machen dürfen – ich hoffe, dass wir irgendwann zu dem Punkt kommen, wo Männer verstehen, dass Feminismus für alle da ist. Und dass es um eine schönere Welt für alle geht, unabhängig von dem, was man zwischen den Beinen hat oder halt nicht. Nicht mein Körper definiert, was mit mir passiert, sondern die Gesellschaft tut das. Und das ist für mich alles Feminismus. Das große Problem ist, dass es Feminismus heißt, und damit fühlen sich die Männer überhaupt nicht angesprochen.

Viele Männer sehen im Feminismus ja auch etwas, das Männern etwas wegnimmt.

Ja, das müssen wir aber auch tun. Wir müssen ihnen etwas wegnehmen und den Frauen dazugeben, damit beide das gleiche Level erreichen. Weil wir Frauen schon so wenig haben, und das seit Jahrtausenden.

Was geht es andere Leute überhaupt an, wenn jemand non-binary ist? Das hat original gar nichts mit deren Leben zu tun. Viele Leute haben viel zu viele fucking Meinungen in Bezug auf Dinge, die sie nicht betreffen.

Rund um den Weltfrauentag am 8. März mehren sich Jahr für Jahr in den Medien die Berichte über die Geschlechterungleichheit.

Und es ist immer noch dringend notwendig, aufzuzeigen, wie unglaublich ungleich unsere Gesellschaft ist. Es war für mich ein echter Schock, als ich von Schweden nach Österreich gekommen bin. Und wie es noch immer aussieht. Ich habe das oft genug erlebt, dass ich wo privat zum Essen eingeladen war, und dann haben die Frauen die Teller abgeräumt, während die Männer sitzen geblieben sind. Ich habe gedacht, ich bin in den Fünfzigerjahren – was ist das für ein Scheiß? Das ist nur ein winziges Detail, aber es illustriert die Realität in unserer Gesellschaft. Mütter sind 24/7 im Einsatz, auch zu Hause, Väter helfen bestenfalls daheim und lassen sich feiern, wenn sie einmal babysitten. Alleinerzieherinnen, die nur Teilzeit arbeiten können, werden gebasht von Politikerinnen wie Johanna Mikl-Leitner. Es ist einfach absurd.

Wir müssen darüber reden, auch über Femizide. Und dafür ist der 8. März da. Aber man kann auch aufzeigen, was wir Frauen Geiles gemacht haben. Und das feiere ich auch. Erst gehe ich auf die Demo für Frauenrechte, und am Abend feiere ich dann mein Frausein. Was wir aber brauchen, ist Support 365 Tage im Jahr und nicht nur an einem einzelnen Tag. Und bitte, keine Geschenke zum Weltfrauentag! Es ist ja kein Ehrentag, sondern eine jährliche Erinnerung daran, wie scheiße es ist. Dass ich einmal in Armut sterben werde als kinderlose Single-Frau.

Apropos feiern: Denkst du eigentlich schon ans zehnjährige Jubiläum des PCCC in zwei Jahren?

O Gott, nein! Ich kann bis November planen, das ist meine Grenze. Ich kriege Anfragen für in einem Jahr und denke mir: Wer weiß, was in einem Jahr sein wird, womöglich bin ich da gar nicht mehr in Wien? Ich habe nie so gelebt. Aber natürlich muss ich ein bisschen vorplanen, weil ich für meine Performer*innen verantwortlich bin. In Berlin gibt es im Mai eine Show, in Wien machen wir jetzt einmal Pause bis zum Herbst, dann wollen wir uns mit einer großen Gala im WUK zurückmelden. Und es wird auch eine Doku über uns gedreht, durchaus mit lustigen Elementen.

Hast du denn vor, Wien zu verlassen?

Nein, ich liebe Wien, ich werde weiter hier leben und hier sterben. Mein Plan ist aber, allmählich die Führung an jemand anderen zu übergeben. Es war nie so gedacht, dass ich die Oberchefin bin, sondern der PCCC ist eine große Community. Malarina hat es zurecht als Familie bezeichnet. Vielleicht werde ja dann auch einmal ich vom PCCC gebucht. Es ist zuletzt auch ein bisschen viel geworden. Wir hatten ja nicht nur dieses große Format mit 300 Leuten im Publikum, sondern daneben gab es auch noch Open Mics, und weil ich gemerkt habe, dass für manche der Schritt vom Open Mic zur Show zu groß ist, habe ich noch ein Zwischenformat für die New Beginners im Spektakel mit circa 100 Leuten konzipiert. Und dann kam eine Anfrage von der Kulisse, sodass wir dort Abende mit jeweils zwei Solo-Performer*innen gemacht haben. In den vergangenen zwei Jahren gab es also vier verschiedene PCCC-Formate, das war zwar sehr cool, aber irgendwie ist es ein bisschen zu viel geworden, fast wie McDonald’s. Wenn man das die ganze Zeit hat, ist es nichts Besonderes mehr. Ich war irgendwann nahe am Burn-out.

Ich habe mehr als dreißig Performer*innen im Pool und versuche, die Auftritte so fair wie möglich zu verteilen. Da habe ich auch einiges dazugelernt in den vergangenen Jahren. Bei den Hauptshows hatten wir am Anfang acht Performer*innen pro Abend, das war einfach verrückt. Das waren bloß zehn Minuten pro Person, und dazu kam dann noch meine Moderation. Das war einfach too much. Jetzt sind es vier oder fünf Acts. Dafür gebe ich meinen Künstler*innen ziemlich große Freiheiten. Ich bin ja selber Anarchistin.

Aber es sind dreißig verschiedene Befindlichkeiten, auf die du Rücksicht nehmen musst.

Ja, aber sie sind alle pflegeleicht. Weil die meisten aus der Queer-Szene kommen, und wir sind es gewohnt, als Kollektiv zusammenzuarbeiten. Und wir genießen das auch. Es gibt keinen Wunsch nach einem Super-Diva-Gehabe – außer es ist zum Spaß. Und alle wissen, dass ich keine Zeit habe, Egos zu streicheln.

Denice Bourbon heißt bürgerlich Denise Fredrikson und wurde 1976 in Finnland geboren, aufgewachsen ist sie in Malmö (Schweden). Im Alter von 26 Jahren ist sie nach Wien gekommen und geblieben. Die Musik ihrer Band Bonanza Jellybean verortet sie „zwischen Country, finnischem Tango, traurigen Melodien und lustigen, lesbischen Texten“, mit Me and Jane Doe hat sie Electropunk gesungen. Im queeren Künstler*innenkollektiv Club Burlesque Brutal (später Club Grotesque Fatal) spielte sie mit Geschlechterrollen. 2015 kuratierte Denice Bourbon gemeinsam mit Denise Kottlett Wiens erstes internationales queeres Performance-Festival „Straight To Hell“ im Kosmos Theater, zwei Jahre später gründete sie mit Josef Jöchl den Politically Correct Comedy Club (PCCC), der politisch korrekten Humor so definiert, dass keine Witze auf Kosten von Minderheiten gemacht werden, und der vor allem FLINTA*-Personen (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, transgeschlechtliche und agender) auf die Bühne bringt.

Denice Bourbon – Instagram

PCCC – Instagram

Tala Al-Deen ist „das Geheimherz“

Manchmal finde ich es unfair, dass es im Kino dunkel ist. Mehrmals möchte ich den Block zücken und kluge Sätze aufschreiben (ich mache es dann doch, tastend, nach Gefühl, Handynotizen halte ich für ein No-go gegenüber den anderen). Die meisten dieser Sätze kommen von Farrah, der syrischen Haushälterin, die im Laufe des Films auf eine ganz besondere Art und Weise eine Familie rettet, „eine typische dysfunktionale Familie, wo jeder sein Süppchen kocht und sich nicht um den anderen schert“, wie es die rebellische klimaaktivistische Tochter Frieda formuliert.

Doch die Finsternis im Kino ist natürlich gut, gerade bei einem Film wie „Das Licht“ (u. a. mit Lars Eidinger, Nicolette Krebitz). Sie trägt zur Magie bei, die der deutsche Star-Filmemacher Tom Tykwer („Babylon Berlin“) auslösen will: mit einer Geschichte im und um das Leben einer Familie, die praktisch all unsere Baustellen seziert, um nach gut zweiundeinhalb Stunden zu einem aufwühlenden und letztlich auch ein bisschen tröstlichen Schluss zu kommen, den Schauspielerin Tala Al-Deen im Finale dieses Gesprächs beschreibt. Ohne zu spoilern.

Eine Anmerkung noch vorab: Dass sich bei all dem Drama auch Schmäh ausgeht, ist schon noch mal ein feiner Zug von Tom Tykwer.

funk tank: Welche Gedanken hattest du, als du das Drehbuch gelesen hast – wie kamst du zum Projekt?

Tala Al-Deen: Ganz klassisch, mit einem E-Casting. Ich habe mit einer ganz lieben Freundin vom Theater bei ihr daheim die Szene zwischen Farrah und Frieda aufgenommen. Ich hatte eine halbe Seite Screenshot vom Pitch (Projektvorstellung, Anm.) und die eine Szene, mehr wusste ich nicht.

Also auch nicht, wo sie eingebettet war?

Nein, nur dass eine mysteriöse syrische Haushälterin in das Leben einer Familie tritt. Trotzdem dachte ich mir sofort: Das ist ungefähr die vielschichtigste Figur, von der ich jemals gelesen habe. Ich habe das Handyvideo abgeschickt und bin dann wieder in meinen Probenalltag gegangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde ich von Tom Tykwer in sein Büro in Berlin eingeladen. Das war ein sehr nettes Treffen und ich hab’ mir gedacht: total schön, ein ganz normaler Mensch. Ich glaube, er war auch aufgeregt.

Er hat etwas zu Papier gebracht, was ihm sehr wichtig ist – und er hat zu mir gesagt: Ich gebe dir das jetzt, lies es dir durch und du sagst mir nächste Woche, was du davon hältst.
Ich weiß noch, dass ich im 15. Wiener Gemeindebezirk auf dem Balkon stand und gesagt hab’: Du hast da schon etwas Irres geschrieben, aber ich finde es richtig gut, es hat mich sehr berührt und ich wäre sehr gerne dabei. Das haben wir dann gleich besiegelt – quasi mit einem telefonischen Handschlag.

Tom Tykwer sagt in einem Interview: Farrah ist „das Geheimherz“ des Films. Welche Bedeutung hat das für dich? Wie hat der Film deinen persönlichen Horizont erweitert?

Farrah transformiert ihren Schmerz auf so eine meisterhafte Art. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, zu wie viel Empathie Menschen in der Lage sind, obwohl ich verstehen könnte, wenn sie das nicht wären – gemessen an dem, was sie erlitten haben oder was ihnen passiert ist. Solche Menschen gibt es in der Realität, das habe ich in der Recherche und auf der Suche nach dieser Figur erfahren.

Serpil Temiz Unvar ist so ein Mensch. Sie ist die Mutter von Ferhat Unvar, der in Hanau beim rassistischen Mordanschlag gestorben ist. Diese Frau hat im Namen ihres Sohnes eine Bildungsinitiative gegründet und spricht auf Demos für Demokratie. Das inspiriert mich sehr.

„Das Licht“ hat mich außerdem an einem Punkt getroffen, an dem ich schon für die Dinge, die diese Figur mitbringt, empfänglich war. Der Film hat das noch vertieft. Weder ich noch mein Umfeld sind klassisch religiös, trotzdem hat man Rituale, um Achtsamkeit zu zelebrieren. Ich habe immer schon meditiert und – das ist jetzt sehr persönlich – seit Farrah mache ich das regelmäßiger und schreibe danach meine Gedanken auf.

„Das Licht“ fordert auf vielen Ebenen intensiv. Welche Gedanken reißt er bei dir auf?

Ich finde mich in „Das Licht“ in fast allen Figuren wieder. Ich bin irgendwo dazwischen. Ich bin keine Bobo-Mittelstandsgöre, die Klimaaktivismus macht, aber es ist etwas davon in mir. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber meine Eltern sind irakisch. Auch dieser Hintergrund beschäftigt und beeinflusst mich.

Der Film macht den Wahnsinnsversuch, eine Klammer um alles zu machen, alles zu fassen, was diese Welt bedeutet, und dabei das Liebevolle und das Menschliche hochzuhalten. Das versuche ich auch. Das wird in letzter Zeit viel zu wenig gemacht und das zu tun, fühlt sich fast schon wahnwitzig an, aber umso mehr lohnt es sich, es trotzdem zu versuchen.

Wie hat dich der Inhalt in deiner Arbeit bewegt und inspiriert?

Ich habe eine klare antirassistische Haltung und finde es völlig absurd, welche und wie Migrationsdebatten geführt werden. Wenn man gestern oder heute nach Syrien schaut, in das Land, wo meine Figur verortet ist, denkt man sich: Was gibt es da überhaupt zu überlegen? Ich könnte Zahlen und Statistiken auspacken, was bei uns passieren würde, wenn die migrantischen Leute verschwinden würden, aber für mich ist die europäische Wirtschaft gar nicht die zentrale Frage, sondern: Da sind Leute, die können nicht leben, wo sie sind, und zwar nur, weil sie beispielsweise Alawiten sind.
Deswegen war es mir auch so wichtig, aus Farrah eine greifbare Figur zu machen. Sie ist fast ein engelsgleiches, magisches Wesen, aber trotzdem ein Mensch und sie hat einiges erlebt.

Ich habe viel Arbeit in die Figur gesteckt, ein großer Schlüssel war die Sprache. Würde ich mit dem Dialekt sprechen, mit dem ich großgeworden bin, würde ich klar als Irakerin identifiziert werden. Es war mir sehr wichtig, so gut ich kann, den syrischen Dialekt zu lernen. Ich hatte einen tollen Dialektcoach an meiner Seite und wir haben sehr intensiv daran gearbeitet.

Mudar, mein lieber Mann im Film, und Mido, mein Sohn, sind beide Syrer und ich habe ihnen immer wieder gesagt, sie müssen streng mit mir sein (die beiden Schauspieler sind Mudar Ramadan und Mido Koitani, Anm.). Ich habe wirklich mein Bestes getan und hoffe, dass das auf eine schöne Art auch etwas für ein arabisch sprachiges Publikum hergibt.

Was wünschst du dir: Was soll generell beim Publikum ankommen?

Das Spannende ist, dass es hier ja nicht um eine oberflächliche, reiche Familie geht. Aber es ist nun einmal so, dass es selbst für Leute mit schönen Idealen eine Herausforderung wurde, in dem turbokapitalistischen System, in dem wir uns global befinden, noch als Mensch oder als Familie stattzufinden.

Ich hab’ das in den letzten Jahren selbst gemerkt, dass ich Momente hatte, in denen ich krass überarbeitet war und mir alles auf die Füße gefallen ist. Da wird mir immer bewusst, wie dankbar ich für meine leibliche und meine gewählte Familie bin, die mich auffangen und die ich auffange, weil es jeden Tag viel zu verkraften gibt. Ich hoffe, dass das Publikum genau das aus dem Film zieht: wie wichtig „Familie“ – in welcher Form auch immer – und Community sind. Wir müssen gemeinsam sein, mir fällt nichts anderes für diese Zeit ein.

Portraitfoto Tala Al-Deen
© Charlot van Heeswijk

Der Film macht den Wahnsinnsversuch, eine Klammer um alles zu machen, alles zu fassen, was diese Welt bedeutet, und dabei das Liebevolle und das Menschliche hochzuhalten. Das versuche ich auch. Das wird in letzter Zeit viel zu wenig gemacht und das zu tun, fühlt sich fast schon wahnwitzig an, aber umso mehr lohnt es sich, es trotzdem zu versuchen.

Machen wir noch einen kleinen Abstecher zu deiner Bio: Du hast in Deutschland zunächst Arabistik und amerikanische Literatur studiert. Wie bist du auf die Kunstuni in Graz gekommen?

Retrospektiv würde ich sagen: Ich wollte eigentlich etwas Künstlerisches machen, aber es hat sich zuerst nicht so angefühlt, als würde mir da etwas zur Verfügung stehen. Ich hatte ein sehr gutes Abitur, aber auch das Gefühl, dass meine Eltern sich ein „anständiges“ Studium gewünscht haben. Man muss hier dazu sagen, dass mein Bruder Musiker (Laith Al-Deen, Anm.) wurde – ziemlich erfolgreich sogar (lacht).

Mein Englischlehrer hat mich einmal gefragt, ob ich zur Theater AG kommen möchte. Ich mochte ihn und war auch gut in Englisch, ich wollte ihn nicht enttäuschen und bin da donnerstags nach der Schule hin. Ich bin dabei geblieben bis ich irgendwann gemerkt habe: Das rettet mich, dort einen Ausdruck zu finden, und vor allem dieses Miteinander. Das bewegt und interessiert mich bis heute an meinem Beruf, dass wir immer als Gruppe etwas erschaffen. Da ist von jedem etwas drinnen, das finde ich besonders.

Jedenfalls bin ich zum Studieren nach Leipzig gezogen und als ich 23 wurde, wusste ich: Das ist der letzte Moment, um sich für Schauspiel zu bewerben; es gab da Altersfristen. Also habe ich die Runde gemacht und an etwa zwölf Schulen vorgesprochen. Und dann wurde es Graz.

Du spielst aktuell auch am Schauspielhaus Wien. In welcher Produktion wirst du demnächst zu erleben sein?

Wir beginnen jetzt die Romanadaption von „Content“ von Elias Hirschl zu proben. Das ist ein geniales Buch, eine Art Dystopie über eine Agentur namens „Smile Smile Inc.“, die Content produziert, während um sie herum alles schon unter Wasser steht. Ich freue mich richtig darauf, mit der Regisseurin Aslı Kışlal daran zu arbeiten.

Tala Al-Deen ist 1989 in Heidelberg geboren und aufgewachsen. Sie spielt seit der Schulzeit Theater, studierte aber zunächst Arabistik und amerikanische Literatur. Ihr Schauspielstudium absolvierte sie an der Kunstuniversität Graz. Zwischen 2014 und 2017 erarbeitete sie mit Regisseurin Sophia Barthelmes Performances und Theaterstücke. Sie ist seit 2016 Sängerin und Stylophonistin der Grazer Band Frau Sammer und Mitglied des queerfeministischen Theaterkollektivs Deine Mudda. Zudem war sie in der Gruppe NSU Komplex auflösen aktiv, die sich gegen strukturellen Rassismus engagiert. Aktuell ist sie Teil des Ensembles am Schauspielhaus Wien. Vor der Kamera stand sie unter anderem in der Tatort-Folge „Wer zögert, ist tot“ (2021) sowie in der Serie „A Thin Line“ (2023).

„Das Licht“ war der heurige Eröffnungsfilm der Berlinale, der 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Kinostart vom neuen Film von Tom Tykwer ist am 20. März 2025.

Tala Al-Deen am Schauspielhaus Wien: „Content“, nach dem Roman von Elias Hirschl, Regie: Aslı Kışlal, Premiere: 7. Mai 2025.

Tala Al-Deen – Instagram

Rahel: „Körper sind so langweilig. Ich mag Gedichte lieber!“

Musikalisch trifft bei Rahel New Wave auf Dream-Pop. Sowohl Rahels Stimme als auch ihre Texte laden zum Träumen ein, ohne dabei oberflächlich zu sein, denn Text ist für sie „ein ganzes Land“ …

funk tank: Liebe Rahel, dein Debütalbum „Miniano“ ist so erfrischend hoffnungsvoll, trotz der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage. Im Song „Schaffner“ beispielsweise gibt es keine Ungerechtigkeiten und Unterschiede mehr hinsichtlich der Geschlechter. Ist Optimismus dein Schlüssel zum Glück?

Rahel: Besten Dank. Ich bin längst nicht immer zuversichtlich. Bei tiefen inneren Abgründen sehnt man sich aber wahrscheinlich besonders nach paradiesischen Zuständen. Musik oder kreative Produkte können Räume aufmachen, in denen Mensch ein Mensch sein kann. Das funktioniert nämlich nicht in einer Drogerie und hat im besten Fall nichts mit Einkaufen zu tun!

Das Musikbusiness ist nach wie vor stark männerdominiert. Welche Erfahrungen hast du gemacht? Gehen deiner Meinung nach Männer mit Frauen beruflich anders um als mit Männern bzw. hattest du jemals das Gefühl, aufgrund deines Geschlechts benachteiligt zu werden?

Viele Dinge spürt man im ersten Moment gar nicht. Selbst als eine Person, die sich viel mit diesen Themen auseinandersetzt. Manchmal braucht es Jahre, bis man merkt: Das war eigentlich gar nicht okay. Aber natürlich wird das Empfinden verlässlicher und die Reaktionsfähigkeit schneller.

Oft sind es Blicke, beiläufige Kommentare. Es kursieren sonderbare Meinungen: Frauen, die zu akustischen Gitarrenklängen singen, sind süß, Frauen, die auf der Bühne stehen, müssen einem gewissen Ideal entsprechen. Oft hört man auch von Frauen selbst komische Sachen, da muss man sich dann daran erinnern, dass es nicht ihre Schuld ist, sondern die patriarchale Ordnung, unter der sie selbst leiden. Männer bilden öfter Banden, weil sie nicht glauben, dass andere Männer ihnen etwas wegnehmen.

Männer sind in vielen Dingen natürlich viel freier und müssen weniger Mut haben. Auch wenn fragwürdige Werte wie Ageism oder eine abgeschwächte Form von Schönheitsdruck auch bei ihnen stattfinden.

Wie gehst du mit dem Begriff „Powerfrauen“ um? Ich finde ihn ja bedenklich …

Ja, voll. Ich sag dann: Oh, ein richtiger Powermann. Ein Hausmann. Eine gar nicht so schlechte Männerband.

Frau sein bedeutet für dich … ?

… Männern die Frage zu stellen, was Mann sein für sie bedeutet.

Der schlimmste Satz, den du beruflich über dich ergehen lassen musstest … ?

Uiui. Die wenigsten negativen Sachen bekommt man ja ins Gesicht gesagt. Was ich aber schon zweimal gehört habe, hat mit der ersten Frage zu tun: Wow, du bist ja gar nicht so schön und stehst trotzdem auf der Bühne! Ur mutig! Da muss ich dann lachen, wenn ich überall schwitzige, wabernde, sabbernde, oberkörperfreie, sich in den Schritt greifende Männer sehe. Oder mir wurde in einem Interview von einem Mann gesagt, dass es mutig ist, dass das Profil meines Gesichtes das Albumcover von „Miniano“ ist. Weil ich ja eine ‚große‘ Nase habe. Körper sind aber auch so langweilig, irgendwie. Ich mag Gedichte lieber!

Du hast bei Elfriede Ott Schauspiel studiert, machst mit Produzent Raphael Krenn Musik, 2021 kam deine erste Single „Tapp Tapp Tapp“ heraus, 2024 dein erstes Album. Warum der Switch vom Schauspiel zum Gesang? Schlüpfst du auch als Musikerin Rahel in eine Rolle? Wie und wo ziehst du textlich die Grenzen zwischen beruflich und privat? Gibt es Themen, die du textlich nicht behandeln willst?

Ich war im Schauspiel weder wahnsinnig erfolgreich, noch hat es mich wohl auf Dauer ausreichend interessiert. Und ich war noch zu jung im Kopf. Dann habe ich Raphael Krenn gesucht und gefunden und hatte plötzlich eine Möglichkeit, etwas ganz Eigenes zu erfinden, was erstmal immer nur uns gehört.

In der Musik denke ich nicht an (Text-)Begrenzungen. Wenn ich schreibe, denke ich nur an die Wörter und was für Bilder, was für Farben, Formen und Gefühle sie auslösen. Schreiben zu lernen ist für mich echt eine lebenslange Reise.

Ich glaube, im Moment verschwimmen die Grenzen zwischen Bühnen-Ich und Schreibenden-Ich immer mehr und das ist sehr schön. Ich will keine Barriere, ich will, dass die Texte ankommen und dazu muss alles sehr, sehr nah und kompromisslos an mir dran sein. Und das funktioniert am allerbesten, wenn ich Texte schreibe, die sehr, sehr nah und kompromisslos an mir dran sind.

Deine Lyrics sind tiefsinnig, intelligent und haben dennoch viel Interpretationsspielraum. Wie und wodurch wirst du dafür inspiriert? Was genau macht gute Songtexte aus?

Dankesehr für die Frage. Text ist einfach ein ganzes Land. Dieses Land ist noch viel, viel tiefer und weiter, als ich dachte. Von dieser Erkenntnis muss ich mich gerade erst erholen.

Ich werde oft von coolen Liedern inspiriert. Im Moment von denen von der Band Keimzeit, aber auch von denen der Gruppe Jetzt!. Manchmal von Büchern, aber oft fällt es mir schwer, den Weg in ein Buch zu finden. Wenn es mir gelingt, dann will ich nicht mehr rauskommen. Bei Helena Adler passiert mir das oder Bachmann, jetzt nehme ich mir Ilse Aichinger vor.

Deine momentanen Lieblingskünstler*innen … ?

Ein paar deutschsprachige: Ulla Meinecke, Hildegard Knef, Frau Lehmann, Gustav, Marlene Dietrich, Texte von Peter Licht, Lilith Stangenberg, Kreisler (wenn er nicht so grässliche Femizid-Fantasien hätte) zum Beispiel.
Und englische höre ich viel Velvet Underground, English Teacher, Connor Oberst, Fever Ray, Spacemen 3, David Bowie, Frankie Cosmos, The Cure, Radiohead, …

Ich mag deine Version von „Wir trafen uns in einem Garten“ sehr gerne. Hattest du Bedenken, dich an eine so große und bekannte Nummer zu wagen bzw. dir selbst Druck gemacht, wie es die Leute finden würden?

Ja, natürlich. Aber Raphi und ich sind dann ganz intuitiv rangegangen. Wir hatten auch ein zweijähriges Kind im Studio. Und unser Studio war ein halb verlassenes Kindergartengebäude in den Bergen. Wir haben immer vollwertig gefrühstückt und der Sonne gefrönt. Vielleicht hat das alles ein bisschen geholfen, wer weiß!

Ich hab nicht erwartet, dass mich so viele auf das Lied ansprechen werden. Ich hab es zum Beispiel noch nie live gespielt, aber manche waren traurig deswegen, deshalb habe ich es jetzt auf die Setlist geschrieben.

Wie sieht dein Musikerinnen-Alltag aus, wenn du nicht gerade auf Tour bist?

Im Moment etwas zerfahren. Die Struktur ist schon eine schöne Erfindung, da stimme ich auch ausnahmsweise mit der Arbeitswelt überein. Ich suche noch nach einem Ausgleich. Falls jemand eine Käsefarm hat, ich würde gerne halbjährlich vorbeikommen.

Was steht im Jahr 2025 musikalisch bei dir an? Worauf dürfen wir uns freuen?

Ich weiß noch nicht, wann und wie sich Hörende konkret freuen können. Einstweilen freue ich mich aber aufs Weiterschreiben.

Musikerin Rahel
© Merve Ceylan

Wenn ich schreibe, denke ich nur an die Wörter und was für Bilder, was für Farben, Formen und Gefühle sie auslösen. Schreiben zu lernen ist für mich echt eine lebenslange Reise.

Die österreichische Musikerin Rahel heißt bürgerlich Rahel Klara Kislinger. Die 1995 im Waldviertel geborene Künstlerin studierte bei Elfriede Ott Schauspiel, 2021 kam ihre erste Single „Tapp Tapp Tapp“ heraus, 2024 ihr erstes Album „Miniano“. Live spielt Rahel heuer u. a. am 15. Juni 2025 am Kimiko Isle of Campus Festival und am 26. Juli 2025 am Noisehausen Festival in Deutschland.

Rahel

Das Interview ist mit freundlicher Zusammenarbeit mit Headliner entstanden.

Eva Poleschinski: Zwischen Laufsteg und Lavafeldern

Eva Poleschinski zählt zu den bekanntesten Modedesignerinnen Österreichs und hat sich mit ihren maßgeschneiderten Roben sowohl national als auch international einen Namen gemacht. Ihre Kreationen vereinen Eleganz mit Handwerkskunst und stehen für außergewöhnliche Materialkompositionen, detailverliebte Applikationen und sinnliche Schnitte. Jedes ihrer Designs erzählt eine eigene Geschichte und trägt dabei stets ihre unverkennbare Handschrift …

funk tank: Du bist seit 17 Jahren ein fester Bestandteil der österreichischen Modeszene. Wie hat sich die Branche in dieser Zeit verändert und in welche Richtung entwickelt sich die Nachfrage heute?

Eva Poleschinski: Ich finde es sehr positiv, dass in den letzten Jahren viele Kolleg*innen in Österreich den Schritt in die Selbstständigkeit wagen und dadurch den Markt mitprägen. Die Modeindustrie hingegen ist in den letzten Jahren definitiv schnelllebiger geworden, nicht zuletzt dem Onlinehandel geschuldet. Das stellt besonders kleine Labels, die keine großen Stückzahlen produzieren, vor wirtschaftliche Herausforderungen und erschwert die Wettbewerbsfähigkeit.

Ich habe mich bereits 2014 bewusst dazu entschieden, dieser Schnelllebigkeit entgegenzuwirken und mich auf individuelle Designentwicklung spezialisiert. Sofern nicht anders gewünscht, bestehen meine Roben aus mehreren Einzelteilen, die sich vielseitig kombinieren und unterschiedlich tragen lassen.

Gibt es in Österreich noch genügend Anlässe für maßgeschneiderte Couture-Roben?

Dank der tief verwurzelten Balltradition gibt es in Österreich nach wie vor einen großen Markt für Abendroben. Diese Veranstaltungen sind fest in unserer Kultur verankert und halten die Nachfrage nach eleganten Kleidungsstücken lebendig.

Wie hat sich der Markt für Abend- und Hochzeitsmode in den letzten Jahren verändert?

Meine Kundinnen schätzen zunehmend multifunktionale Designs, die es ermöglichen, einzelne Teile nicht nur zum Ball oder zur Hochzeit, sondern auch in anderen Kombinationen über Jahre hinweg zu tragen. Zudem hat sich neben den klassischen Frühlings- und Sommerhochzeiten ein klarer Trend zu Winterhochzeiten entwickelt.

Opernball-Moderatorin Teresa Vogl in Eva Poleschinski
Opernball-Moderatorin Teresa Vogl in Eva Poleschinski 2025 © ORF/Thomas Ramstorfer

Mit meinen Kleidern möchte ich Geschichten erzählen und Teil einzigartiger Momente sein. Meine Mode soll Freude schenken und meinen Kundinnen ein besonderes, angenehmes Gefühl vermitteln – sie sollen sich darin außergewöhnlich und einzigartig fühlen.

Wie hältst du deine Kreativität frisch und innovativ?


Als Designerin ist es mir wichtig, mich kontinuierlich weiterzuentwickeln – sowohl in Bezug auf Materialien als auch auf handwerkliche Techniken. Inspiration finde ich auf meinen Reisen, aber auch in den individuellen Präferenzen der Kundinnen oder Kooperationspartner, mit denen ich arbeite. Jedes Stück ist einzigartig, und genau diese Vielfalt macht meine Arbeit so spannend. Mit meinen Kleidern möchte ich Geschichten erzählen und Teil einzigartiger Momente sein. Meine Mode soll Freude schenken und meinen Kundinnen ein besonderes, angenehmes Gefühl vermitteln – sie sollen sich darin außergewöhnlich und einzigartig fühlen.

Wohin entwickelt sich die Mode in Österreich? Ist handgefertigte und individuelle Mode noch gefragt?

Der Trend geht eindeutig in Richtung Handwerk und Individualität. Viele meiner Kundinnen distanzieren sich zunehmend von der Schnelllebigkeit der Modebranche und dem damit verbundenen Wegwerfverhalten. Stattdessen legen sie bewusst Wert auf nachhaltige, hochwertige und langlebige Modestücke.

Du verbringst viel Zeit mit deiner Familie in Island und reist mittlerweile mit einem personalisierten Van bis in den Norden. Was fasziniert dich so sehr an diesem Land, und warum zieht es dich immer wieder dorthin?

Mich begeistert die unberührte Landschaft und ihre faszinierenden Kontraste. Besonders beeindruckt mich das Licht, das selbst im dichtesten Nebel oder an klaren Wintertagen eine einzigartige Atmosphäre schafft. Wir reisen abseits des Mainstreams und genießen diese besondere Verbindung zur Natur.

Wie sieht ein typischer Tag im Van-Life für dich aus? Folgst du festen Routinen oder lässt du dich einfach treiben?

Die Routinen gibt mittlerweile unsere Tochter vor. Unsere täglichen Radien sind kleiner geworden, doch das tut der Intensität des Erlebens keinen Abbruch. Der Früh-Kaffee ist nicht verhandelbar und der Rest des Tages richtet sich nach Wetter und der jeweiligen Route. Die kann sich manchmal untertags spontan ändern – jeder Tag ist ein Abenteuer.

Modedesignerin Eva Poleschinski: Zwischen Fashion und Lavafeldern
© Eva Poleschinski
Euer Van ist eher ein Geländewagen als ein klassischer Wohnwagen. Wie müssen wir uns die Lebensmittelversorgung vorstellen? Kauft ihr auf Vorrat oder spontan, und wie organisiert ihr das Kochen?

Unser Fahrzeug ist ein echter Alleskönner (lacht). In die Gegenden, in denen wir unterwegs sind, käme ein Wohnwagen gar nicht erst hin – deshalb haben wir uns bewusst für dieses Setting entschieden. Die ursprüngliche Ladefläche des Pick-ups ist mit einem ausgeklügelten Ladensystem organisiert und ein separater Alu-Cap-Aufbau bietet zusätzlichen Stauraum. Wir kochen dort, wo die Aussicht passt, mit unserem Gaskocher, auf dem wir auch schon eine Pizza mit Aussicht auf den Gletscher genossen haben. Teilweise bringen wir Lebensmittel aus Österreich mit, aber meistens versorgen wir uns vor Ort in Supermärkten oder in den vielen Fischgeschäften mit frischer Ware. Und da in Island dank intensiver Geothermienutzung sogar Bananen wachsen, ist auch die Obstversorgung gesichert.

Schlaft ihr ausschließlich im Van oder gönnt ihr euch zwischendurch mal eine feste Unterkunft?

Ehrlich gesagt schlafen wir am besten in unserem Dachzelt – dafür lassen wir (fast) jede feste Unterkunft links liegen. Nur wenn die Wettervorhersage wirklich extrem ist, etwa bei heftigem Sturm und Starkregen, gönnen wir uns ausnahmsweise eine feste Bleibe. Das kommt allerdings selten vor. Als Backup haben wir außerdem immer unser Bodenzelt dabei.

Wie sieht es mit sanitären Anlagen aus? Wie lange kommt ihr ohne feste Einrichtungen aus?

Die meisten Campingplätze verfügen über gute Sanitäranlagen. Außerdem sind wir große Fans der isländischen geothermischen (Frei-)Bäder – so ist Duschen für uns nie ein Problem. Und selbst wenn wir länger im Hochland unterwegs sind, finden sich oft nette heiße Quellen.

Gibt es Parallelen zwischen deinem Leben in der Natur und deinem kreativen Schaffen?

Definitiv. Die raue Schönheit der Natur inspiriert mich und bildet einen spannenden Kontrast zu meiner eigenen Interpretation davon. In meinen Designs setze ich diese Eindrücke um, indem ich natürliche Strukturen, Farben und Stimmungen aufgreife und ihnen eine individuelle, kreative Form gebe.

Islands Landschaften sind atemberaubend – roh, unberührt und in ihrer Vergänglichkeit perfekt. Geformt von Naturkräften, entstehen einzigartige Szenerien. Genau diese Dynamik spiegelt sich in meiner Arbeit wider: Als Perfektionistin bin ich erst zufrieden, wenn jedes Kleid ‚perfectly in shape‘ ist.

Modedesignerin Eva Poleschinski: Zwischen Fashion und Lavafeldern
© Oliver Rathschueler
Wenn Island ein Kleid wäre – wie würde es aussehen?

Island ist eine meiner größten Inspirationsquellen – seit 2016 sieht man in meinen Kollektionen den Einfluss. Über die Jahre ist es zu meinem Markenzeichen geworden, meine Kreationen mit der Natur verschmelzen zu lassen und ihre raue, zugleich faszinierende Ästhetik in meinen Designs einzufangen.

Was bedeutet für dich mehr Luxus – ein maßgeschneidertes Couture-Kleid oder die Verbundenheit zur Natur?

Beides löst in mir ein ähnliches Gefühl von Glück aus. Wenn ein perfekt gelungenes Couture-Kleid vor mir liegt, empfinde ich dieselbe Faszination wie inmitten der Natur. Besonders eindrucksvoll war für mich der Vulkanausbruch am Fagradalsfjall 2021 – ein unvergessliches Naturschauspiel, das ich nicht nur erlebt, sondern auch genutzt habe, um meine Designs in dieser einzigartigen Kulisse in Szene zu setzen.

Was hat dir Island über dich selbst beigebracht, das heute in deine Arbeit als Designerin einfließt?

Island hat mich gelehrt, nie aufzuhören zu staunen, neugierig zu bleiben und mich immer wieder auf Neues einzulassen. Vor allem aber hat es mir gezeigt, wie wichtig es ist, auf mein Bauchgefühl zu vertrauen – eine Haltung, die sich in jedem meiner Designs widerspiegelt.

Modedesignerin Eva Poleschinski: Zwischen Fashion und Lavafeldern
© Eva Poleschinski

Eva Poleschinski wurde 1984 geboren und entdeckte früh ihre Leidenschaft für Mode. Ihre Mutter, eine talentierte Hobbyschneiderin, inspirierte sie dazu, ihren eigenen kreativen Weg zu gehen. Mit nur 23 Jahren gründete die Hartbergerin 2008 ihr eigenes Modelabel und schaffte mit eisernem Willen den Sprung in die internationale Modewelt.

Ihre Designs sind heute auf den renommiertesten Red Carpets, darunter die Oscars und Golden Globes, sowie in großen Modemagazinen wie Vogue, Elle und Madame zu sehen. Sie präsentierte ihre Kollektionen unter anderem auf der Mercedes-Benz Fashion Week Berlin, in New York, Paris und Tokio, realisierte kreative Kooperationen mit namhaften Marken und wurde 2014 zur „Designerin of the Year“ gekürt.

Ihr Stil zeichnet sich durch einen außergewöhnlichen Materialmix, Individualität und höchste Handwerkskunst aus. Trotz ihres vermeintlich glamourösen Berufs zieht sie sich regelmäßig nach Island zurück, wo sie mit ihrer Familie Ruhe und Inspiration findet – ein prägender Einfluss, der sich in vielen ihrer Entwürfe widerspiegelt.

Eva Poleschinski

Mira Lu Kovacs: „Ich will nicht ankommen, nur immer weiter gehen“

„Ich will noch so viel lernen und ausprobieren“, erklärt die 37-Jährige im Interview. Mira Lu Kovacs ist der beste Beweis dafür, dass langjährige Erfahrung und wissbegieriger Elan sich nicht ausschließen müssen. Die Künstlerin kann und macht viel im Musik-Business, neben ihrem Soloprojekt spielt sie z. B. bei My Ugly Clementine und Sad Songs To Cry To. Außerdem ist sie momentan bei der Linzer Theaterproduktion „The Broken Circle“ im Einsatz. Warum die Gleichberechtigungsdebatte Mira manchmal langweilt, haben wir u. a. mit ihr im Interview besprochen …

funk tank: Liebe Mira, dein aktuelles und zweites Soloalbum „Please, Save Yourself“ strahlt eine weise Gelassenheit aus. Fühlst du dich als „alte Häsin“ musikalisch angekommen und geerdet? Was würdest du aus heutiger Sicht deinem jüngeren Ich karrieretechnisch raten und anders machen?

Mira Lu Kovacs: Das Wort „angekommen“ macht mir Angst. Ich will nicht ankommen, nur immer weiter gehen. Aber es stimmt, ich fühle mich zumindest auf einem ziemlich sicheren Plateau. Von dort aus lässt es sich wirklich gut sein, arbeiten, kommunizieren. „Geerdet“ nehm ich mir gern als Beschreibung (lacht).

Meinem jüngeren Ich, das sich kaum was zugetraut hat, sich selbst ständig under-rated hat und vor allem und jedem Angst hatte, würde ich raten, nicht zu bescheiden zu denken. Aber vor allem würde ich sie gern in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles, was sie fühlt, okay und gut ist. Auch würd ich ihr sagen, dass sie sich entspannen darf. Aber all das hätte wahrscheinlich nichts genutzt, denn alle Ängste und Unsicherheiten waren notwendig, um sich jetzt davon frei(er) zu fühlen und zu verstehen: Es gab sehr verdammt gute Gründe für diese Zustände, ich hatte „recht“ damit und jetzt stehe ich noch viel aufrechter da und weiß, warum ich mache, was ich mache.

Wenn ich so überlege, weiß ich nicht recht, was ich groß anders machen würde. Ich würde lauter sein, bei zachen Situationen ruhiger und dadurch stabiler dagegenhalten. Solche Dinge … but it’s all good now.

Die Lyrics deines Albums wirken sehr nahbar und intim, wer oder was inspiriert dich? Und was machen eingängige und gute Lyrics aus?

Mich inspiriert, was um mich herum passiert. Was mir meine Freund*innen rückmelden, wie auf mich und mein Handeln reagiert wird. Ich gehe beruflich quasi ständig in Selbstreflexion. Das klingt extrem einseitig, aber ich kann ja nur aus meiner Perspektive berichten, will keine Geschichten von anderen klauen. Ich denke, je persönlicher die Geschichtenerzählung, desto politischer.

Dein Sound stimmt nachdenklich und es spielt auch immer ein bisschen Traurigkeit mit. Braucht große Kunst auch großes Leid? Oder anders gefragt: Würde das Leben immer nur auf der Sonnenseite stattfinden, wäre es dann überhaupt möglich, kreativ zu arbeiten?

Ich liebe den Satz „Ohne Dunkelheit, kein Licht“. Ich denke, das sagt alles. Das Klischee der leidenden Künstler*in mag ich nicht, aber natürlich ist Kunst und Ausdruck ein unfassbar heilsames Mittel, um mit Trauma und Leid umzugehen. Daher gibt es halt auch viele traumatisierte und leidende Künstler*innen. Und aus genau dem Grund sollte auch jeder Mensch die Möglichkeit zu kreativem Schaffen bekommen.

Mira Lu Kovacs
© Ina Aydogan

Das Klischee der leidenden Künstler*in mag ich nicht, aber natürlich ist Kunst und Ausdruck ein unfassbar heilsames Mittel, um mit Trauma und Leid umzugehen.

Neben deinem Soloprojekt spielst du nach wie vor bei My Ugly Clementine und widmest dich auch deinem Musikprojekt Sad Songs To Cry To. Seit 1. Februar gastierst du am Landestheater Linz mit dem Stück „The Broken Circle“. Worum geht es da und was ist dein Part? Wie kam es zu dem Projekt?

Mit Sara Ostertag, der Regisseurin von „The Broken Circle“, arbeite ich nun das zweite Mal zusammen. Sie hat mich 2023 das erste Mal gefragt, ob ich bei einem Stück von ihr Musik komponieren und performen möchte, das war damals auch das erste Mal Theater für mich.

In dem Stück geht es um Eltern und deren Kind, um Krebs und ums Sterben. Viele meiner Angehörigen wollen und können sich das Stück nicht ansehen, weil allein der Stoff zu hart ist. Ich verstehe das und gleichzeitig empfinde ich es als unheimlich tröstend, so ein Stück zu erarbeiten. Ich mag die Konfrontation. Ich brauche sie, um zu begreifen, was geschieht. Das „nicht drumherum reden“ ist auch zentral in dem Stück, das Ensemble und die Crew sind fantastisch.

Was bevorzugst du: Intime Clubkonzerte oder große Festivalbühnen?

Intime Clubkonzerte! Schöne, alte Theaterräume oder alte Kinos, alles, was viel Holz hat und gut klingt.

Laut deiner Website kann man dich auch für Vocal-Coachings buchen. Wie sieht so ein Unterricht aus und was muss ich mitbringen, damit du mich unterrichtest?

Ich begleite in meinem Coaching Menschen, die sich mit ihrer Stimme auseinandersetzen wollen, mit oder ohne Erfahrung. Ich selbst habe Jazz-Gesang studiert, damit hat mein Unterricht aber nichts mehr zu tun, denke ich.

Ich mag es, mit Leuten zu arbeiten, die ihren Körper spüren lernen wollen, interessiert sind an dieser Form des Fokus und des Atmens. Aber natürlich singt man dann auch irgendwann Lieder und hat einfach Spaß an diesem Ausdruck.

Deine momentanen musikalischen Lieblingskünstler*innen sind …?

Adrienne Lenker steht seit einigen Jahren ganz, ganz oben auf meiner Liste, aktuell höre ich gerade wieder mehr Paula Cole und Kate Bush. Ich liebe auch sehr Beth Gibbons, Brandi Carlile und so ein paar Ausschnitte von Musicalgrößen à la Aaron Tveit …

Stichwort Frau im Musikbusiness. Leider noch immer Thema, denn sowohl auf als auch hinter den Bühnen wird die Branche größtenteils von Männern dominiert. Hattest du jemals das Gefühl, benachteiligt zu werden, weil du eine Frau bist?

Ganz knapp, zu Beginn: einfach JA.
Mir knallt vor Langeweile bei dem Thema regelmäßig der Kopf auf den Tisch. Leider müssen wir immer noch drüber reden.

Wir erleben trotz aller Errungenschaften und guten Entwicklungen wieder eine extreme Rückentwicklung von Dingen, die schon fast selbstverständlich geworden sind für mich. Und jetzt, wo immer mehr rechtsextreme Parteien und Faschist*innen auf der Welt regieren, wird sich das ganz sicher noch drastisch verschlechtern. Überall soll die Frau wieder in die Tradition zurückgedrängt werden und es darf nicht mehr als zwei Gender geben. Darauf bewegen wir uns gerade wieder zu. Daher können wir uns kein Müde- oder Faulwerden erlauben.

Statistiken wie die Zahl der Femizide in allein diesem Land geben auch Einblick in den Ist-Zustand. Die Kunst und Kultur lebt ja nicht komplett außerhalb dieser Verhältnisse. Mir geht es außerdem auch um das allgemeine (Arbeits-)Klima und die weiterhin großen Chancenungleichheiten durch unter anderem Unterforderung und -förderung. Hohe bzw. die höchsten Positionen in z. B. großen Häusern sind nach wie vor vornehmlich männlich besetzt. Und wenn es mal anders ist, ist das eher eine Ausnahme und in der nächsten Periode braucht es wieder ausgleichend eine traditionellere Besetzung.

Ganz persönlich muss ich sagen, habe ich mir vor längerer Zeit ein wenig die Scheuklappen aufgesetzt, weil mich gewisse Dinge einfach so zurückhalten und aggressiv machen. Don’t get me wrong, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, eine Grenze übertreten wird, handle ich. Aber ich bewege mich in einer relativ gesunden Bubble und in der fühle ich mich einigermaßen safe. Aktuell ist mein Fokus, mich eher schützend und unterstützend vor und hinter andere, die nachkommende Generation zu stellen. Deren Selbstwert zu supporten und sie darin zu bestärken, alles zu hinterfragen und bei sich zu bleiben.

Ist nach dem Album schon vor dem kommenden Album? Was sind deine musikalischen Pläne für heuer und wo siehst du dich karrieretechnisch in weiteren 12 Jahren?

Heuer spiele ich mal das neue Album, das ich letztes Jahr herausgebracht habe, ein bisschen live. Also es stehen einige Konzerte an. Ich spiele wieder mit einer ganz neu zusammengesetzten Band. Ich freu mich schon sehr darauf!

Ich habe im Zuge der Theaterproduktion in Linz einiges komponiert, was dann aber für das Stück nicht gepasst hat. Vor ein paar Tagen erst ist mir aufgefallen, dass das bereits die nächste Welle sein könnte (lacht).

In 12 Jahren? 2037? Ist da was Spezielles? Gute Zahl jedenfalls. Ich hoffe einfach, immer weitermachen zu können, herausgefordert zu werden. In der Branche als Frau altern zu können und dürfen und mich weiterzuentwickeln. Ich will noch so viel lernen und ausprobieren. Das Einzige, was nicht eintreten darf, ist Langeweile.

Mira Lu Kovacs ist eine österreichische Musikerin, Komponistin und Performerin. Bekannt wurde die 37-Jährige mit dem Band-Projekt Schmieds Puls (2013–2019), seit 2019 ist sie mit ihrem Soloprojekt unterwegs und zudem bei weiteren Bands aktiv, z. B. bei My Ugly Clementine und Sad Songs To Cry To. Außerdem ist sie momentan bei der Linzer Theaterproduktion „The Broken Circle“ im Einsatz.

Wer Mira live erleben möchte, kann das heuer u. a. am 26.2. im Dom im Berg in Graz, am 27.2. in den Kammerlichtspielen in Klagenfurt, am 28.2. im Treibhaus in Innsbruck, am 23. und 24. Juni im Wiener Stadtsaal, bei diversen Festivals im Sommer, z. B. am Linzer Lido Sounds und am Poolbar Festival in Feldkirch. Weitere Live-Dates:

Mira Lu Kovacs

Das Interview ist mit freundlicher Zusammenarbeit mit Headliner entstanden.

Kabarettist Hosea Ratschiller im Interview

Die „Pratersterne“ sind zurück. Gingen viele davon aus, dass die 2017 erstmals on Air gegangene ORF-Sendung nach der vergangenen Staffel eingestellt wurde, gibt es jetzt doch ein Wiedersehen mit Moderator Hosea Ratschiller und dem vielversprechendsten Kabarettnachwuchs des Landes. Und das in einer neuen Umgebung. Denn das „sehr räudige“ (Zitat Hosea Ratschiller) Fluc am Wiener Praterstern, das der Sendung ursprünglich den Namen mitgegeben hat, wurde gegen das noble Ambiente der Roten Bar im Volkstheater eingetauscht. Zu sehen sind die neuen Folgen seit 7. Jänner im ORF. Wie sich der neue Spielort anfühlt, hat uns Hosea Ratschiller ebenso geschildert wie sein Verhältnis zu Social Media und zu Political Correctness.

funk tank: Die „Pratersterne“ sind nach einer einjährigen Pause zurück – aber an einer neuen Location.

Hosea Ratschiller: Ja, wir sind vom sehr räudigen Fluc am Praterstern, das aber eine sehr urbane Stimmung hatte und so eine Ausgeh-Atmosphäre, übersiedelt in die Marmorhallen des Volkstheaters. Ich glaube, die Idee dahinter, die „Pratersterne“ in die Rote Bar zu verpflanzen, war: Wir machen sozusagen einen Ausflug, und dann hat der Onkel mit der dicken Brieftasche uns eingeladen ins feine Restaurant, und wir ziehen uns das edelste Gewand an, das wir finden können. Es fühlt sich ein bisschen wie eine Mottoparty an.

Aber ihr seid immer noch dieselben Kinder, die sich nicht zu benehmen wissen?

Genau, wir erzählen trotzdem von unseren Dating-Unfällen und wo wir überall ausgerutscht sind, und was uns so alles auffällt. Es ist zwar rundherum Marmor, und an der Decke hängt ein Kristallluster, aber je länger wir da sitzen, desto wohler fühlen wir uns und denken nicht mehr darüber nach, welche jetzt die Fischgabel ist. Jetzt ist die Frage, wie das Fernsehpublikum diesen Wechsel annimmt.

Wird die andere Location im TV überhaupt groß auffallen?

Ich glaube, es wird schon einen Unterschied machen. Aber die Bilder sind so schön – es wirkt fast wie ein Fiebertraum von Arthur Schnitzler. Es ist eine andere Seite von Wien, die wir da jetzt zeigen, das Großbürgertum.

Ist die Kleinkunst jetzt in der Hochkultur angekommen?

Zumindest gehen wir da hin und zeigen uns – aber auf Einladung, das möchte ich schon betonen. Wir sind keine Hausbesetzer, sondern wir kommen einer Einladung nach, benehmen uns dann aber daneben.

Habt ihr auf diese Einladung gewartet?

Wir waren sehr zufrieden im Fluc, es hatte eine tolle Atmosphäre. Es hat alle Beteiligten inklusive mich selbst sehr überrascht, wie dankbar auch ein Publikum, das sonst nie in ein solches Lokal gehen würde, uns dorthin gerne gefolgt ist. Wir fühlen uns aber in der Roten Bar auch sehr wohl. Es ist nur eine andere Art von Ausgehen. Es ist mehr Maturaball als Freitagabend-Fortgehen.

Ist das Publikum gleich geblieben nach der Pause und dem Ortswechsel?

Ja. Aufmerksame Zuseher*innen werden zum Beispiel erkennen, dass der eine Herr, der fast in jeder Sendung war, auch im Volkstheater wieder aufgetaucht ist. Das hat uns sehr gefreut.

Der ist mitgefahren auf Klassenfahrt.

Genau. Ob er der Klassenlehrer ist, wird sich erst herausstellen.

Die „Pratersterne“ werden als Talenteschmiede für heimischen Kabarettnachwuchs wahrgenommen. War das auch der Grundgedanke bei der ersten Sendung 2017?

Das Coole ist, dass tatsächlich Leute, die vor ein paar Jahren bei uns als Neulinge aufgetreten sind, jetzt die Stars sind: Christoph Fritz, Malarina, Berni Wagner, die hatten alle bei uns ihren ersten TV-Auftritt – und jetzt sind sie unsere Headliner. Wir haben zwar nicht viel Geld zu verteilen, aber dafür Aufmerksamkeit, Fernsehzeit, den Rückhalt einer Redaktion, ein Publikum und – was man nicht unterschätzen darf – sendefähiges Material. Weil wir wirklich Top-Kameraleute und mit Jan Frankl einen absoluten Profi für den Schnitt haben. Diese Mannschaft bietet den Leuten, die da antreten, ideale Bedingungen, um auch selbst ein Material zu bekommen, das man dann überall hinschicken kann.

Kabarettist Hosea Ratschiller mit den Pratersternen in der Roten Bar im Wiener Volkstheater
© ORF/Hubert Mican
Wer wählt die Künstler*innen aus?

Das macht die Redaktion, und die macht das sehr gut. Ich mische mich nicht ein. Ich mache höchstens Vorschläge, aber ich habe von Anfang an gesagt: Ich möchte nicht darüber entscheiden, welche Kolleg*innen hier eine Plattform kriegen. Es ist nicht meine Sendung, ich bin nur der Moderator im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir haben alte Freunde, die zu uns kommen, obwohl sie das nicht müssten, wie Thomas Maurer, Gunkl oder Christoph & Lollo. Das freut uns sehr, und mindestens genauso freut uns, dass unsere Nachwuchsarbeit so gut funktioniert. Wir sind quasi das Salzburg des Kabaretts, wir haben die Talente schon, wenn sie ganz jung sind – und immer noch, wenn sie große Stars sind.

Nehmen die Arrivierten dann nicht Jungen den Sendeplatz weg, die ihn dringender bräuchten?

Zu Beginn haben wahrscheinlich viele Leute die „Pratersterne“ vor allem wegen Josef Hader, Andreas Vitásek, Alfred Dorfer, Roland Düringer, Thomas Stipsits, Klaus Eckel und all diesen Leuten geschaut. Mittlerweile schalten sie, glaube ich, wirklich wegen der Sendung selbst ein. Aber ich würde jeder humoristischen Sendung, wenn sie solche Stars bekommen kann, schwerstens empfehlen, ja zu sagen.

Welche Talente werden 2025 für Aufsehen sorgen?

Bei uns wird es ganz schön viele neue Gesichter zu sehen geben. Vor allem musikalisch: Resi Reiner, Rahel, Endless Wellness – diese Namen hat ein breiteres Publikum bisher nicht allzu oft gehört. Aber die sind echt gut. Und Leute wie Ina Jovanovic oder Tereza Hossa, die schon in der Sendung waren, sind sehr jung, aber schon sehr weit fortgeschritten. Und Romeo Kaltenbrunner ist aus meiner Sicht nicht nur der schönste Kabarettist des Landes, sondern der hat es echt drauf, bist du deppat. Der ist zwar schon Mitte dreißig, aber immer noch neu.

Du hast jetzt mehrere Frauen genannt. Wird das Kabarett von unten her weiblicher? Wie siehst du den Satirenachwuchs in Österreich?

Unser Anliegen bei den „Pratersternen“ war, zu zeigen, dass viele unterschiedliche Ansätze nebeneinander funktionieren können. Meine Lieblingssendung in der ersten Staffel war die, wo Thomas Stipsits und die damals noch undergroundige Stefanie Sargnagel hintereinander aufgetreten sind, und beide haben beim Publikum exakt gleich gut funktioniert und könnten unterschiedlicher nicht sein. Dass dann, wenn man das bewiesen hat, es diverser zugehen kann und auch die Entscheidungspersonen überzeugbar sind, dass man nicht immer dieselben fünfzehn, zwanzig Personen nehmen muss, darauf haben wir ein bisschen gewettet – und die Wette haben wir gewonnen. Und dass sich parallel dazu die Welt dahingehend verändert hat, dass es nicht mehr ungewöhnlich ist, dass eine Frau auf der Bühne steht und Witze erzählt, das spielt uns natürlich in die Hände. Wir waren immer offen dafür, Unterschiedliches nebeneinander abzubilden. Dass das so aufgeht, ist schön, und ich freue mich darüber. Aber unser Hauptanliegen bleibt, dass es lustig ist. Dass wir zeigen, was die österreichische Kabarettszene so hergibt. Und dass die so bunt und divers ist wie nie zuvor, ist einfach unser Glück.

Befeuern das die Sozialen Medien? Eine Toxische Pommes etwa ist ja zuerst dort bekannt geworden und erst danach auf die Kabarettbühne gegangen.

Früher war man im Kulturbereich abhängig von einigen wenigen Personen, die Entscheidungen getroffen haben. Alles war sehr hierarchisch organisiert und stark männlich dominiert. Mittlerweile kann man sich online selber ein Publikum erspielen. Aber das auch nur, wenn man die Zeit dafür hat, den Erwerbsdruck nicht hat, um vier Stunden am Tag Social Media bespielen zu können. Ich behaupte: Als Alleinerzieherin hast du es da immer noch schwer. Als jemand, der sich in seinem Privatleben um andere kümmert, Rechnungen zu bezahlen hat, kein Erbe im Hintergrund hat, ist es nicht deutlich leichter geworden. Aber für Leute, die ungebunden sind und ihre ganze Lebenszeit und -energie in den Aufbau einer Instagram- oder Tiktok-Seite investieren können, gehen die Türen leichter auf als früher.

Und die Spaß daran haben.

Natürlich, es muss einem auch liegen. Toxische Pommes hat in einem Interview gesagt, wenn du keine Lust darauf hast, kannst du es gleich bleiben lassen, weil das merkt man. Das ist ein bisschen das, worin ich gefangen bin – weil mir macht es keinen Spaß, Zwanzig-Sekunden-Videos zu machen. Ich habe A nicht die Zeit, B nicht die finanzielle Absicherung und C nicht die Lust daran. Hätte ich nicht drei Kinder und diesen Mental Load, müsste ich nicht die Miete zahlen, den Alltag meiner Familie organisieren, putzen, kochen und so weiter, vielleicht würde es mir Spaß machen. Und vielleicht hätte ich es früher als Zwanzigjähriger auch gemacht. Aber jetzt hab ich echt ein Problem, das gebe ich ehrlich zu. Ich muss versuchen, diese alten Formen gut genug zu bespielen und trotzdem ein Publikum anzusprechen, das nicht nur vor sich hin altert. Zum Glück gelingt das, und es sitzen bei mir nicht immer dieselben drin und altern mit mir, sondern es kommen auch Neue nach. Das schönste Feedback für mich ist, wenn Eltern ihre Kinder mitnehmen, dass es denen auch getaugt hat. Weil das bedeutet, dass ich diesen Beruf noch ein paar Jahre weitermachen darf. Aber ich bin darauf angewiesen, dass Leute ihrem Nachwuchs Tickets für meine Vorstellungen schenken.

Wir sind quasi das Salzburg des Kabaretts, wir haben die Talente schon, wenn sie ganz jung sind – und immer noch, wenn sie große Stars sind.

Würdest du zur Generation Tiktok gehören, würdest du aber genau diesen Alltag, den du schupfen musst, in Kurzvideos packen.

Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass diese Tradwifes, die das tun, in Wahrheit auch nur etwas verkaufen. Ich glaube, dass das Geschäftsfrauen sind, die damit ihre Familie ernähren, und dass da wer anderer den Haushalt macht. Dass du neben dem Aufbau einer Social-Media-Seite noch zusätzlich eine Familie ernähren kannst, halte ich für ausgeschlossen.

Wärst du zwanzig Jahre jünger, würdest du den Weg ins Kabarett noch einmal gehen? Die Selbständigkeit, die Unwägbarkeit in Hinblick auf Engagements, . . .

Es ist so, dass das dazukommt. Das ist ja nicht das Erste, was da ist, sondern dass du etwas in dir spürst, dass du gerne auf der Bühne stehst und weißt, wie man einen Witz macht, dass du dich da wohlfühlst und über den Stress hinaus, den das macht, auch andere Gefühle abzuholen sind; und dass du dich – was ich gar nicht unterschätzen würde – wohlfühlst mit anderen Leuten, die das Gleiche machen; dass du einer von ihnen sein willst. Das ist alles zuerst da. Dass das dann dein Beruf wird und der irgendwann dein Leben finanzieren muss, als jemand, der Kinder hat oder alte Leute in der Familie versorgen muss, das kommt ja dann alles erst und verdirbt dir nicht die Lust auf den Beruf. Es verdirbt dir vielleicht die Lust auf den Beruf und kostet dich die Geduld mit Leuten, die dir sagen, dass du das alles schaffen musst. Aber wenn ich herumfahre und auf Bühnen stehen darf, dann ist das die Belohnung. Der Drang auf die Bühne war bei mir so unausweichlich und schon als Kind da – ich habe echt versucht, daran vorbeizukommen, aber das war nicht drin. Meinen Eltern zuliebe, die die Ersten in der Familie mit einem Studium waren, habe ich tatsächlich versucht, einen anständigen Beruf zu lernen.

Welchen?

Ich wollte Jus studieren. Mein Vater hat mich einmal als Kind gefragt, was ich später machen will, und da habe ich geantwortet: Ich will fünfzigtausend Schilling verdienen (Anm. das entspräche heute in etwa 7.500 Euro) – womit, war mir wurscht. Ich wollte nur nicht so wenig Geld haben wie meine Eltern.

Es gibt ja das Klischee vom Kabarettisten, der privat nicht lustig ist.

Das Problem ist eher, dass ich manchmal ernst sein muss. Damit kämpfe ich. Um ein verträgliches Mitglied der Gesellschaft zu sein, muss man irgendwann zumindest ein minimales Interesse an Dingen entwickeln, die nicht auf eine Pointe hinauslaufen. Das kostet mich wesentlich mehr Kraft, als lustig zu sein. Ich glaube, das ist ein Wesenszug: Wenn Kabarettist*innen miteinander sprechen, das könnte man auf der Bühne gar nicht bringen, weil wir wirklich über alles Witze machen, und das die ganze Zeit. Political Correctness ist zwar momentan ein großes Thema, aber in der Garderobe findet die nicht statt – und zwar in keiner.

Und außerhalb der Garderobe? Darf man tatsächlich nicht mehr alles sagen?

Oja, aber es wird nicht einfacher, mit den Konsequenzen zu leben. Freilich nicht für alle, und da muss man wieder differenzieren. Aber ich halte dieses „Man darf heute nichts mehr sagen“ für völligen Stumpfsinn. Man darf heute mehr sagen als je zuvor – es sagen nur halt die anderen dann auch was.

Um ein verträgliches Mitglied der Gesellschaft zu sein, muss man irgendwann zumindest ein minimales Interesse an Dingen entwickeln, die nicht auf eine Pointe hinauslaufen. Das kostet mich wesentlich mehr Kraft, als lustig zu sein.

Sagst du auf der Bühne alles?

Nein. Aber weniger aus Sorge, dass ich irgendwelche Gefühle verletzen könnte, sondern aus einem handwerklichen Ehrgeiz heraus. Ich verwende keine Kraftausdrücke und keine Fäkalsprache auf der Bühne, weil ich mir nicht die billigen Pointen abholen will. Ich habe den seltsamen Ehrgeiz, der mir oft im Weg steht und mich bremst, es auch anders hinzukriegen.

Damit ist es dann jugendfrei.

Es ist an anderen Stellen für die Jugend dann schwieriger. Ich spreche die Dinge klar an, ich verwende nur eine cleane Sprache.

Hosea Ratschiller, Jahrgang 1981, wollte seinen Eltern zuliebe Jus studieren, hat letztlich aber ein Studium der Geschichte, Philosophie und Theaterwissenschaft abgebrochen. Nach dem Zivildienst im Sanatorium der Israelitischen Kultusgemeinde landete er im Jahr 2000 beim ORF- Jugendsender FM4 und arbeitete ab 2009 auch für Radio Ö1. Nach Tätigkeiten für „Wir sind Kaiser“ und „Dorfers Donnerstalk“ präsentiert er seit 2017 im ORF die „Pratersterne“, die seit dieser Staffel nicht mehr im Fluc am Praterstern aufgezeichnet werden, sondern in der Roten Bar im Volkstheater. Daneben tourt er mit seinem aktuellen Soloprogramm „Hosea“ durch Österreich.

Hosea Ratschiller

Katharina Stengl und Homajon Sefat: Podcast „Café Depresso“

Depressionen werden zwar heutzutage mehr thematisiert als früher, immerhin sind allein in Österreich rund 730.000 Menschen davon betroffen (mit hoher Dunkelziffer), aber dennoch werden die Erkrankten oft nicht richtig gehört, behandelt und respektiert. Im Podcast „Café Depresso“ widmen sich Dr. Katharina Stengl und Homajon Sefat der mentalen Gesundheit auf kurzweilige und niederschwellige Art, um „Tabus zu brechen und dafür zu kämpfen, dass Menschen endlich offen über ihre Ängste und Sorgen sprechen können.“

funk tank: Liebe Frau Dr. Stengl, lieber Herr Sefat, seit vergangenem Jahr gibt es Ihren Podcast „Café Depresso“. Wie haben Sie zueinander gefunden?

Katharina Stengl: Homajon war in der Klinik, in der ich tätig war, Patient in der Tagesklinik. Nach seiner Entlassung hatte er mich angeschrieben, ob ich mir einen Podcast vorstellen könnte, mit ihm gemeinsam zur Aufklärung über psychische Erkrankungen. Ich fand die Idee sehr toll und bin echt sehr froh, dass er den Mut hatte, seine Idee zu realisieren.

Homajon Sefat: Mir hat Katharinas leicht zugängliche Art, Wissen zum Thema mentale Gesundheit zu vermitteln, sehr imponiert. Und ich hatte die Podcast-Idee schon länger im Hinterkopf und fand diese Kombination aus Expertin und Kabarettist spannend.

Warum fällt es sowohl Betroffenen als auch der Gesellschaft so schwer, Depressionen genug Raum zu geben? Die einen schämen sich, die anderen verurteilen …

Katharina Stengl: Wir werden noch oft angesprochen, dass es so toll ist, dass wir im Café Depresso offen über psychische Erkrankungen sprechen. Ich finde es nach wie vor sehr schockierend, dass dafür noch immer so wenig Raum ist in unserer Gesellschaft. Dennoch ist der Trend immer mehr, sich selbst zu perfektionieren, und unangenehme Gefühle wie Trauer, Eifersucht, Scham, Schuld dürfen nicht da sein. Leider wird das auch von der Politik nicht richtig gesehen, da es noch immer zu wenig Hilfsangebote für psychisch Erkrankte gibt, sei es, dass Psychotherapie noch immer nicht komplett bezahlt wird, oder wir zu wenige Therapieeinrichtungen haben.

Es dürfte sich um einen kollektiven Neglect in der Gesellschaft handeln: Wenn wir es nicht sehen, gibt es das nicht. Ich denke, viele haben auch große Angst, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Wobei gerade Hinschauen und sich gemeinsam Austauschen die Gesellschaft auch viel stärker machen würde. Ich finde, es ist ein erstrebenswertes Ziel, für mehr Offenheit und auch Gleichstellung für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen.

Herr Sefat, Sie sind Kabarettist, gute Laune ist also Ihr Programm, privat sind Sie jedoch 2023 in eine tiefe Depression geschlittert. Wie kam es dazu und wie sind Sie wieder aus diesem Loch ausgestiegen? Ist Ihr Mental-Health-Podcast Teil der Therapie?

Die Depression war schon länger präsent und hat wahrscheinlich schon 10–15 Jahre davor ihren Anfang gefunden. Nur konnte ich diese davor nicht benennen. Ich dachte, ich wäre einfach ein melancholischer Mensch, der ständig müde und traurig ist. Aber vor allem durch die Corona-Krise hat sich die Krankheit verschlimmert, und ich hab mir 2022 Hilfe gesucht und hatte Glück mit meiner Therapeutin.

Die Diagnose war mittelgradige bis schwere rezidivierende Depression. Zu Beginn war es schwer für mich, die Diagnose anzunehmen. Gleichzeitig war ich erleichtert, endlich zu wissen, was mit mir los ist. Geholfen hat mir die regelmäßige Gesprächstherapie und ein achtwöchiger Aufenthalt in einer Tagesklinik.

Der Podcast ist sicherlich zu einem Teil Therapie. Aber ich wollte in erster Linie eine Anlaufstelle schaffen für Betroffene und deren Umfeld. Weil ich leider miterleben musste, dass einige Menschen aus meinem Leben mit meiner Diagnose nicht umgehen konnten oder diese nicht ernst genommen haben. Weil sie keine Berührungspunkte oder Verständnis für mentale Gesundheit haben oder hatten. Und vielleicht hilft der Podcast, diese Erfahrung anderen zu ersparen.

Was mir geholfen hat, ist, sich Freund*innen anzuvertrauen. Das ist zu Beginn schwierig, weil es vielleicht mit Scham behaftet oder ungewöhnlich ist, sich so verletzlich zu zeigen, aber es ist schon eine große Hilfe, gehört zu werden.

Sie arbeiten auch als Autor und Musiker, eine schnelllebige Branche mit viel Druck. Gab es Momente, wo Sie sich von der Kunst entfernen wollten, um wieder auf die Beine zu kommen, oder hat die Kunst Sie gerettet?

In der Hochphase der Depression wollte ich nichts mehr mit Schreiben, in welcher Form auch immer, zu tun haben. Auch mein Bandprojekt habe ich aus einem Impuls der Überforderung heraus abrupt beendet und pausiert. Ich bin 18 Monate nicht auf einer Bühne gestanden. Es war mir alles zu viel. Ich musste mich einfach neu sortieren, lernen, auf meine Bedürfnisse zu hören und gesund werden.

In der Zeit haben mir Musik und Filme sehr geholfen. Es klingt zwar klischeehaft, aber: Kunst kann Leben retten. Genauso wie der Humor.
Mittlerweile spiele ich auch selbst wieder vereinzelt und arbeite an einem neuen Programm.

Was raten Sie Betroffenen, die sich in einer mentalen Krise befinden?

So früh wie möglich Hilfe suchen. Weil es dauert oft Wochen bis Monate, einen Therapieplatz zu finden. Was mir geholfen hat, ist, sich Freund*innen anzuvertrauen. Das ist zu Beginn schwierig, weil es vielleicht mit Scham behaftet oder ungewöhnlich ist, sich so verletzlich zu zeigen, aber es ist schon eine große Hilfe, gehört zu werden.

Bei akuten Notfällen empfehle ich den sozialpsychiatrischen Notdienst, der ist in Wien z.B. rund um die Uhr telefonisch unter 01/31330 erreichbar.

Frau Dr. Stengl, Sie haben eine neurologische Ausbildung an der Berliner Charité absolviert und sind dann in die Psychiatrie gewechselt. Mit welchen Methoden und Techniken helfen Sie depressiven und traumatisierten Menschen? Wie können Betroffene wieder ihren Alltag bewältigen und bewusst leben und fühlen?

Zuerst geht es darum, eine gute Befunderhebung und Diagnostik zu machen, welche Erkrankung für die Symptome verantwortlich ist. Zum Beispiel werden viele komplex traumatisierte Menschen oder Menschen mit ADHS jahrelang wegen einer Depression behandelt, und die eigentliche Ursache wird nicht behoben.

Es geht vor allem auch um eine gute Aufklärung, gerade gegen Psychopharmaka herrschen viele Vorurteile, die sich auch negativ auf eine regelmäßige Einnahme auswirken können. Bei einigen psychischen Erkrankungen können aber gerade Psychopharmaka auch wirklich helfen.

Generell ist das psychiatrische Konzept, immer den Menschen zu betrachten, auch mit seinen Lebensgewohnheiten (Job, Familie, Partner, Wohnform).

Zusätzlich biete ich auch Psychotherapie an, diese ist besonders wichtig, um sich selbst besser zu verstehen und ggf. schädliche Verhaltensmuster zu verändern.
Hier lernen Betroffene zunächst, sich selber besser wahrzunehmen und ihre Gefühle zu verstehen und sie als hilfreiche Informationen zu nutzen. Es wäre schön, ein Fach wie Emotionsregulation bereits in der Schule zu lehren.

Wie entsteht eine Depression? Kann Mensch das verhindern?

Es gibt sehr viele verschiedene Arten – ich nutze gerne das bio-psycho-soziale Modell. Manche Menschen haben biologisch schon ungünstige Voraussetzungen (zum Beispiel Veränderungen im zentralen Serotonin-Stoffwechsel), das sieht man, wenn ganze Familien an Depressionen leiden.

Psycho- und Sozial zielt darauf ab, welche Erfahrungen wir machen, in der Herkunftsfamilie und in unserem Umfeld. Wenn es früh zu traumatisierenden Ereignissen kommt im Leben, kann das den Grundstock für eine Unsicherheit mit sich selbst und schädigenden Verhaltensweisen sein. Häufig zeigen depressive Menschen sehr hohe Selbstansprüche, gehen sehr hart mit sich ins Gericht (innerer Kritiker/innere Kritikerin) und kennen ihre Grenzen nicht bzw. opfern sich für andere auf.

Ja, Mensch könnte das verhindern, indem bereits in den Schulen weniger der Wert auf Leistung gelegt wird, sondern mehr auf Achtsamkeit, Selbstwert, Selbstrespekt, Grenzen setzen und Emotionsregulation. Das wären wichtige Grundbausteine für eine gesündere Gesellschaft. Zusätzlich könnten Kommunikationstrainings mit gewaltfreier Kommunikation nach Rosenberg schon bei Kindern einen wertschätzenden, liebevollen Umgang miteinander unterstützen.

Katharina Stengl und Homajon Sefat mit ihrem Podcast „Café Depresso“
© Christopher Glanzl

Insbesondere die Zuwendung und Auseinandersetzung mit unangenehmen Gefühlen kann tatsächlich Gesundheit fördern.

Leider werden psychische Erkrankungen sowohl im Gesundheitssystem als auch gesellschaftlich nicht als „vollwertige Krankheiten“ wahrgenommen, oft werden diese bagatellisiert. Woran könnte das liegen und was muss geändert werden?

Ich denke, es ist Angst und Verdrängung, wir wenden uns immer gerne von unangenehmen Sachen ab. Viele Menschen haben große Angst vor psychischen Krankheiten – ich glaube, der Verlust von Kontrolle spielt dabei eine zentrale Rolle. Ein gebrochener Knochen wird mit Gips wieder verbunden, ein gebrochenes Herz dauert möglicherweise länger und benötigt mehr Zuwendung. Ich denke, viele wenden sich ab, weil sie tief in sich aber diese Gefühle kennen und Angst haben, diese in sich auch anzuerkennen.

Geändert werden sollte eine bessere Fehlerkultur, mehr Mitgefühl und Verständnis und der Mut, sich unangenehmen Gefühlen zu stellen. Ich meine, jeder hatte schon einmal oder öfter Angst oder hat sich geschämt. Damit sollten wir uns mehr konfrontieren und den Mut haben, das zu spüren. Insbesondere die Zuwendung und Auseinandersetzung mit unangenehmen Gefühlen kann tatsächlich Gesundheit fördern.

Die Themen Ihres Podcasts sind zwar ernste, dennoch wird man beim Hören gut unterhalten und auch Lachen ist erlaubt. Rettet Lachen Leben? Gibt es aus neurologischer Sicht Techniken, wie jede/jeder von uns positiv gestärkt in den Tag starten kann?

Humor ist auf jeden Fall eine gute Strategie, um mit den Herausforderungen und Prüfungen des Lebens umzugehen. Gerade im Resilienztraining wird das auch angewendet und es gibt einige Achtsamkeitsübungen, die sich genau damit beschäftigen. Es ist auch vor allem wichtig, einen liebevollen Umgang mit sich selber zu finden, das kann man auch zu jeder Lebenszeit noch lernen. Ich habe auch eine Zeit Impro-Theater als Therapie mit Patient*innen gespielt, es war so schön zu beobachten, wie viel Stärke und Vertrauen Menschen wieder entwickeln, wenn sie lachen können und ihre Kreativität entdecken. Da hatten wir das Motto: Scheiter heiter!

Dr. Katharina Stengl ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und lebt in Wien. Ihr Credo: „Happiness is your birthright – don’t let your mind interfere with it!“.

Homajon Sefat ist Kabarettist, Autor und Musiker aus Wien.

Im Mai 2024 veröffentlichten die beiden die erste Folge des Podcasts „Café Depresso“.

Dr. Katharina Stengl – Website

Homajon Sefat – Website

„Café Depresso“/Spotify

Martin Gruber und aktionstheater ensemble mit „Wir haben versagt“

Ab 12. Jänner gastiert das aktionstheater ensemble unter der Leitung von Martin Gruber wieder im Wiener Theater am Werk. Das neue Stück „Wir haben versagt“ von der freien Theatergruppe ist eine „performative Selbstanklage. Mit guter Musik, um die Tragödie zu ertragen“ …

funk tank: Verehrter Herr Gruber, spätestens wenn man in Ihren Stücken sitzt, muss es „Klick“ im Gehirn machen und ein Umdenken in Richtung Gemeinschaft stattfinden. Ihr aktuelles Stück hat aber eine ganz andere Message, denn Sie sind der Meinung, versagt zu haben. Wie und warum haben Sie versagt?

Martin Gruber: Wie in jedem Stück beginnen wir bei uns selbst. Sagen wir als Vertreter*innen der nicht explizit rechten Seite, nehmen wir die Schuld des aktuellen politischen Desasters auf uns und gestehen: „Wir haben versagt.“ Jetzt liegt hinter dieser selbstmitleidigen, performativen Bußübung natürlich nicht etwa Bescheidenheit, sondern im Gegenteil eine ziemliche Hybris. Will heißen: Jetzt haben wir uns so lange mit unserer Kunst abgerackert, und dann wird die extreme Rechte stärkste Kraft. 


Fremdenhass und Rechtsruck sind Themen, die politisches Theater nahezu behandeln muss. Sie tun das sehr treffend, auch wenn es oft wehtut. Wie erklären Sie sich den Erfolg rechter Parteien? Sind wir noch zu retten?

Es ist wahrscheinlich die Sehnsucht nach einer vergangenen Welt, jene nach einer autochthonen und friktionsfreien Gesellschaft, die freilich so nie existiert hat. Von der rechten Seite werden simple Lösungen angeboten, die einen Beruhigungseffekt auslösen. Nach dem Motto: Lehnt euch zurück, wir werden das alles für euch lösen. Schuld sind die Anderen – die Migrant*innen, die Woken, die Schwulen, die Feministinnen etc. Das ist natürlich Blödsinn, aber es gibt auch auf der, sagen wir, progressiven Seite keine wirklichen großen Entwürfe. Keine gesellschaftsvereinende politische Erzählung, welche zuerst komplexe Zusammenhänge verständlich herunterreißt, um dann etwaige Lösungsansätze zu kreieren, bei welchen sich die oder der Einzelne erkennen kann.

Es könnte beispielsweise formuliert werden, warum es uns allen etwas bringt, wenn wir den Kuchen etwas aufteilen oder was der wirkliche Benefit einer diversen Gesellschaft wäre. Ohne freilich auch nur einen Jota von einer liberalen demokratischen Ordnung abzugehen. Ich vernehme auch auf der linken oder progressiven Seite ein popeliges Verharren im Klein-Klein.

Der Spin-Doctor hat gesagt: Sag zehnmal Umwelt und fünfzehnmal Solidarität, und dann werden sie uns schon wählen. Die Floskel alleine wird den Turnaround nicht bringen. Wir haben es anscheinend mit einer Entpolitisierung des Politischen zu tun. Es mag vielleicht etwas kitschig klingen, aber ich glaube, dass sich der eine oder andere Ansatz nur übers Zuhören finden lässt. Ob uns das passt oder nicht, die meisten Menschen, die Rechts gewählt haben, fühlen sich nicht gehört. Ich habe gerade vorher einen Song von den Tiger Lillys gehört, die erste Zeile geht so: „I´m calling but no one will be hearing.“

Besonders bemerkenswert finde ich die Verbindung von privaten Schicksalen und großen gesellschaftlichen Themen in Ihren Stücken. Ihre Schauspieler*innen sind weitaus mehr als Darsteller*innen, oft tragen sie ja auch reale Geschichten vor. Wie entstehen die Texte?

Die Themen gibt die Gesellschaft vor. Da jede*r Einzelne ein Teil dieser Gesellschaft ist, finden sich dann die Zusammenhänge zum größeren Ganzen. Wir versuchen, die sogenannte Alltagssprache auf ihre mehr oder weniger versteckten Machismen oder Rassismen zu untersuchen. Im täglich Dahingestammelten outen wir aber auch unsere Sehnsüchte. Ich versuche, den entstandenen dramatischen Text, die Dialoge, auch die manischen Monologe, dann so zu montieren oder rhythmisieren, dass transparent wird, was „hinter“ dem Gesagten liegen mag. Einige Texte schreibe ich auch selbst. Der Stücktext wird so verdichtet, dass klar wird, dass auch manipuliert und gelogen wird. Und wenn die Sprache versagt, kommt Musik und Choreografie ins Spiel.

"Wir haben versagt" von Martin Gruber und dem aktionstheater ensemble
© Stefan Hauer
Mit den meisten Künstler*innen arbeiten Sie seit vielen Jahren zusammen. Gibt es auch Momente, wo die „Familie“ untereinander einmal Abstand braucht, weil Sie so eng zusammenarbeiten? Wie schalten Sie ab?


Am schönsten lässt sich Einsamkeit bekanntlich erleben, wenn man weiß, dass man nicht alleine ist. Eine Zeit mit mir, bei der ich weiß, dass ich die Länge des Alleinseins bestimmen kann. Und dann Zeit mit Freund*innen.

Ich gestehe: Es gab noch kein Stück von Ihnen, bei dem ich nicht geweint habe. Das meine ich als Kompliment, für mich gehört das Körperliche und das Fühlen zu einer guten Inszenierung. Wie definieren Sie ein gelungenes Theaterstück? Was muss es haben/aussagen/auslösen, muss es überhaupt irgendwas?

Kunst ist die Möglichkeit, mittels eines Abzielens auf sämtliche Sinne, Zusammenhänge zuerst lustvoll zu zerlegen, um sie dann, je nach Gusto, in ein neues Licht zu setzen. Das Erleben, um ja nicht zu sagen Konsumieren, von Kunst ist, da jede*r eine andere Geschichte hat, eine höchst persönliche, intime Angelegenheit. Insofern „muss“ sie natürlich gar nichts. Wenn Sie unsere Stücke zum Weinen bringen, dann freut mich das sehr, weil das Stück etwas auslöst, sich also etwas gelöst hat. Ich persönlich weine oft und oft auch gerne. Im gelöst entspannten Zustand weiß ich dann auch mitunter warum. Wenn nicht, ist es auch gut.

Wir haben es anscheinend mit einer Entpolitisierung des Politischen zu tun. Es mag vielleicht etwas kitschig klingen, aber ich glaube, dass sich der eine oder andere Ansatz nur übers Zuhören finden lässt. Ob uns das passt oder nicht, die meisten Menschen, die Rechts gewählt haben, fühlen sich nicht gehört.

Wenn Sie sich nicht mit dem eigenen Theater befassen – mit welcher Form der Kunst beschäftigen Sie sich in Ihrer Freizeit? Was sollten unsere Leser*innen unbedingt lesen/hören/anschauen?

Zuallererst freue ich mich auf den neuen Film von Pedro Almodóvar. Ich hatte noch keine Gelegenheit, „The Room Next Door“ zu sehen. Aber nicht zuletzt seine Auseinandersetzungen mit dem Tod bringen mich immer voll ins Leben. In Sachen bildender Kunst würde ich empfehlen, einfach draufloszugehen: Albertina Modern, MuseumsQuartier, Ausstellungen junger Künstler*innen. Seit der Ausstellung von Amoako Boafo im Belvedere kann man auch wieder mal einen Schiele sehen – ohne gleich an Wiener Souvenirkitsch-Kaffeedosen zu denken.

Das aktionstheater hat den Nestroypreis bekommen, Sie wurden ebenfalls schon mehrfach ausgezeichnet. Wie wichtig sind (Ihnen) Auszeichnungen in der Kunst? Sind Sie eitel?

Ja, natürlich bin ich eitel. Gleichzeitig bemühe ich mich, mich dabei nicht allzu ernst zu nehmen. Unsere Stücke sind nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit dieser Eitelkeit. Auch sämtliche Ensemblemitglieder sind angehalten, ihre Eitelkeit schamlos auszuschlachten. Das ist die einzige Möglichkeit, aus dem eigenen Narzissmus einen Mehrwert zu ziehen. Die diversen Preise füttern die Eitelkeit natürlich auch. Ich muss aber gestehen, dass im institutionenverliebten Österreich die Anerkennung einer freien Compagnie schon sehr wohl tut.

"Wir haben versagt" von Martin Gruber und dem aktionstheater ensemble
© Stefan Hauer

Kunst ist die Möglichkeit, mittels eines Abzielens auf sämtliche Sinne, Zusammenhänge zuerst lustvoll zu zerlegen, um sie dann, je nach Gusto, in ein neues Licht zu setzen.

Ihr Ensemble ist seit 1989 eine freie Theatergruppe, die regelmäßig in Bregenz, Dornbirn und Wien gastiert. Gibt es kulturelle Unterschiede hinsichtlich Verortung? Wo spielen Sie am liebsten?

Nach der einen Spielserie hier freue ich mich auf die nächste dort, dann auf Gastspiele im Ausland. Ich konnte mich noch nie entscheiden, was ich am liebsten mag. Der Unterschied der einzelnen Zuschauer*innen ist größer als der zwischen den Bundesländern. Auch was den Humor betrifft. Es gibt kein homogenes Publikum.

Stichwort freie Theatergruppe – sehr viele gibt es nicht, die lange durchhalten, immerhin müssen freie Gruppen mit weitaus weniger Budget und Förderungen auskommen und in der Kultur fehlt leider sowieso oft das Geld. Wie und wo sollte aus politischer Sicht was getan werden und: Is the struggle real?

The struggle has been real for the last 36 years. Österreich hat durchaus eine lobenswerte Subventionskultur, früher haben das Mäzene übernommen, man war jedoch von deren Geschmack und Goodwill abhängig. Es liegt aber an der Verhältnismäßigkeit.

Das Gros der österreichischen Bevölkerung assoziiert Kunst und Kultur immer noch mit Sängerknaben, Staatsoper und Burgtheater. Als Folge davon wird ein ziemlich überzogener Teil der freigemachten Gelder für das Erwartbare und in erster Linie für restaurative Kunst eingesetzt. Auch von linken Parteien. Die Relevanz der zeitgenössischen Kunst wird zwar in diversen Sonntagsreden immer wieder betont, findet aber nicht wirklich seinen Niederschlag in der Realität. Das Zeitgemäße bekommt sein eigenes Plätzchen zugewiesen, da steht dann am Eingang des jeweiligen Kunsttempels: „Achtung Avantgarde“.

Im besten Fall liefert zeitgenössische Kunst Denk- und Fühl-Material für die ganze Zivilgesellschaft. Sollte die extreme Rechte dereinst die Agenden der Kunst übernehmen, werden wir wissen, was wir versäumt haben.

Ihre Stücke sind immer sehr schnell ausverkauft. Was kommt nach „Wir haben versagt“? Das ist hoffentlich kein Abschied, denn es klingt nicht so hoffnungsvoll …

Die Tatsache, dass wir als Zivilgesellschaft versagt haben, heißt ja nicht, dass wir nicht immer wieder von vorne anfangen dürfen. Ich habe mir für das nächste Stück den etwas kitschigen Titel „Ragazzi del Mondo. Nur eine Welt“ ausgesucht. Wir spielen also mit der banalen Erkenntnis, dass wir nur eine Welt haben. Dass wir uns aber blöderweise immer wieder in unsere eigenen kleinen Bubbles zurückziehen. Wie hoffnungsvoll dieses Unterfangen wird, wage ich jetzt noch nicht vorauszusagen. Was ich aber annehme, ist, dass zwischen den Worten die eine oder andere Hoffnung durchsickern wird.

Martin Gruber gründete 1989 das aktionstheater ensemble, das regelmäßig in Wien und Vorarlberg gastiert. Die Stücke der freien Theatergruppe verbinden Sprache, Körper und Musik, Choreografien, Erfahrungen, persönliche Recherchen und historische Ereignisse.

Das aktuelle Stück „Wir haben versagt“ von Theater-Regisseur Martin Gruber ist am 12. Jänner und vom 14. Jänner bis 19. Jänner im Wiener Theater am Werk zu sehen.

Aufgrund hoher Nachfrage besteht die Möglichkeit, an der Generalprobe am 11. Jänner um 19.30 Uhr teilzunehmen. Ab sofort können ermäßigte Karten um 15 Euro unter karten@aktionstheater.at bestellt werden.

Wir verlosen 2 x 2 Karten für das bereits ausverkaufte Stück „Wir haben versagt“ am 19. Jänner 2025 ab 19.30 Uhr im Wiener Theater am Werk – hier mitmachen!

aktionstheater ensemble 

Schlageranfall mit Michael Niavarani, Viktor Gernot, Jenny Frankl

Wenn man ein Pressegespräch besucht, bei dem Michael Niavarani mit dabei ist, dann ist eines gewiss: Spätestens nach ein paar Minuten wird schallend gelacht. So auch bei der Präsentation von „Schlageranfall“, einem Liederabend, bei dem der Name Programm ist: Der „Nia“ macht wieder einmal gemeinsame Sache mit seinem alten Spezl Viktor Gernot und hat auch die drei Damen aus dem Simpl-Ensemble, Katharina Dorian, Jenny Frankl und Ariana Schirasi-Fard, ins Boot geholt. Gemeinsam mit einer fünfköpfigen Band präsentieren sie ihre Lieblingsschlager von Peter Alexander bis Caterina Valente. Zu sehen ist das Ganze am 30. Dezember im ORF. Wir haben die Gelegenheit genutzt, um mit den drei jüngeren Damen und den beiden älteren Herren nicht nur über Schlager zu sprechen, sondern auch über die Gründe für den Mangel an erfolgreichen Frauen auf der Kabarettbühne. Zwischen schallendem Gelächter und Ulkereien kamen dabei auch recht ernsthafte Argumente zutage.

funk tank: Ich frage für eine Freundin: Wie ordinär wird es, wenn Michael Niavarani mit dabei ist? Schlager ist ja doch eher eine saubere Angelegenheit.

(Allgemeines Gelächter in der Runde.)

Viktor Gernot: Die Lieder sind keimfrei. Dazwischen ist es leicht angepatzt, sagen wir es mal so.
Michael Niavarani: Ja, wobei es sich tatsächlich in Grenzen hält.
Jenny Frankl: Für deine Verhältnisse auf jeden Fall! Obwohl . . .
Niavarani: Was?
Frankl: Na, in der letzten Nummer sind wir ja alle fast nackt. Wo ihr nur das Handtuch anhabt.
Niavarani: Ja, es ist eigentlich fast pornografisch.
Gernot: Ich hab die Szene verdrängt, da haben wir ja wirklich fast nix an.
Niavarani: Da sind wir oben ohne – die Herren.
Frankl: Aber die haben größere Brüste als wir.

(Niavarani brüllt vor Lachen.)

Niavarani: Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie neidisch die drei Damen auf meine Brüste sind! Weil sie ja auch so behaart sind.

Zurück zum Schlager, bitte. Wenn man Schlager sagt, denken die einen an Peter Alexander und Caterina Valente und die anderen an Vanessa May. Liegen da Welten dazwischen oder doch nicht?

Gernot: Ich behaupte, dass früher die Leute, die Schlager produziert haben, von besonderer Güte waren. Da haben die besten Autor*innen halt drei alberne Verse gedichtet, aber das waren Leute, die sonst Theaterstücke oder Filmskripts geschrieben haben. Und die Leute, die das arrangiert haben, haben sonst Filmmusik gemacht. Und die Orchestermusiker*innen waren die besten, die man damals für Geld haben konnte. Und auch bei den Interpretinnen und Interpreten hast du kein Autotuning gebraucht oder irgendwelche Verschönerungsgeschichten im Tonstudio – das waren Profis, die jederzeit bei einer Theaterproduktion mitmachen hätten können. Hinter den kleinen, albernen Geschichten stand also großes Können, großes Kino. Das Ganze immer mit einem Augenzwinkern. Und wenn es um Liebesdinge oder Erotik gegangen ist, dann war das immer nur Andeutung, das Maximum war, dass ein Kuss als Kuss ausgesprochen wurde, sonst waren es Metaphern. Es gab viele, viele Rhythmen, es war ja auch ein Spiegel der Tanzmusik dieser Zeit, von Walzer über Latin bis hin zu allen Vier-Viertel-Takten, die es gibt. Und jetzt geht alles mit demselben nz-nz-nz-Beat durch, damit der Diskjockey nicht überlegen muss, wenn er die nächste Nummer auflegt. Also damals ein viel größerer Reichtum.

Und waren die Texte wirklich so seicht, wie es sich anhört, oder habt ihr dann doch auch Tiefen gehört? Wird der Schlager inhaltlich unterschätzt?

Niavarani: Es geht oft um nix. Was man dem Schlager vorwirft, ist, dass er sich nicht kritisch mit den Themen der Zeit auseinandersetzt. Aber was ist so schlecht daran? Vielleicht möchte man manchmal einfach nicht von aktuellen Problemen belästigt werden.
Gernot: Es gibt schon auch kritische Nummern: „Die süßesten Früchte“ erzählt von der Kluft zwischen Arm und Reich, „Zwei kleine Italiener“ von der Sehnsucht des Gastarbeiters nach der Heimat im unfreundlichen Deutschland.

Umgekehrt gibt es ja auch den Metoo-Schlager schlechthin: „Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da“ – wer heute ein Lied veröffentlichen würde, in dem er eine Frau einfach küsst, weil sie ihm gefällt, würde wohl medial gesteinigt werden.

Niavarani: Er singt ja nicht, dass sie sich gewehrt hat – im Gegensatz zu „Delilah“, einem Lied über einen Femizid, in dem er auch noch sagt, dass sie schuld ist: „My, my my Delilah, why, why, why Delilah?“ Warum hast du mich so weit gebracht, dass ich dich abstechen musste? Das kann man wirklich nimmer singen.
Gernot: Und in der zweiten Strophe von „Rote Lippen“ sind sie verheiratet, es gibt also ein Happy End. Und was hätte die Geschichte erzählt, bei dieser unglaublichen Empörungsbereitschaft heute? Wenn sie ihn küsst, dann wäre das okay, dann würden viele sagen: Die starke junge Frau ergreift die Initiative, das ist cool. Beim Mann ist es ein Übergriff. Aber du kannst davon ausgehen: Wir Männer wollen immer.
Frankl: (Lacht laut.) Ja, das ist ja das Problem! Aber wir haben dahingehend schon die Lieder untersucht, wir stellen uns nicht unreflektiert auf die Bühne und thematisieren auch Worte, die man heute nicht mehr benutzt. Da gibt es zum Beispiel das Lied, dessen Titel wir nie ausgesprochen haben: „Da sprach der alte Häuptling der . . .“
Katharina Dorian: Außerdem muss man auch ganz ehrlich sagen: Es ist ja nicht so, als ob jeder heutige Popsong oder jedes andere Genre sich ausschließlich um tiefgründige, hochpolitische Themen drehen würde. Da geht es genauso um Liebesgeschichten, und das mit teilweise vier Worten.
Gernot: Und der Liedtext ist immer nur ein Teil des Ganzen, ein Lied ist ein Arrangement, eine Orchestrierung, eine Interpretation, und dann ist da noch die Erzählweise mit der Melodie. Ein Lebensgefühl oder die Qualität einer Nummer überträgt sich oft einfach nur über den geilen Song.
Niavarani: Wir finden es total in Ordnung, wenn die Menschen einfach zwei Stunden lang einfach Spaß haben und sich freuen, dass wir diese Lieder singen. Das ist schon sehr viel und sehr schwer zu schaffen.

Schlageranfall im ORF mit u. a. Niavarani, Gernot und Frankl
© ORF/Hoanzl/Nadine Studeny
Wer ist euer Zielpublikum?

Niavarani: Alle, die Karten kaufen.
Frankl: Bei unseren beiden Herren hier sind es die Damen 60 plus.
Gernot: (In Richtung Katharina Dorian, Jenny Frankl und Ariana Schirasi-Fard.) Und für alle anderen haben wir euch eingeladen.
Ariana Schirasi-Fard: Wobei wir zu meiner Überraschung bisher doch auch ein relativ junges Publikum dabei hatten.
Gernot: Auf jeden Fall sind viele mit uns mitgealtert, wir sind ja jetzt auch schon drei Jahrzehnte auf der Bühne.
Niavarani: Es gibt Menschen, die mich schon im Graumann-Theater gesehen haben. Und ich glaube, die sind so treu geblieben, weil sie sich denken: „Jetzt geh ich noch einmal hin, weil irgendwann müssen die doch was machen, was wirklich gut ist.“
Gernot: Inzwischen ist es wie bei den Rolling Stones: Es könnte das letzte Medley sein.

(Schallendes Lachen am Tisch.)

Auf der Bühne seid ihr drei Frauen und zwei Männer . . .

Schirasi-Fard: . . . und die ausschließlich männliche Band.
Niavarani: Und wir haben auch nicht nach Talent gesucht, sondern nach Geschlechtsteil.

Aber zumindest am Mikrofon gibt es keinen Männerüberhang. Und auch die Simpl-Revue ist weiblich gut besetzt. Aber generell fällt mir in der Szene nicht mehr als eine Handvoll Kabarettistinnen ein, die ein ähnliches Standing haben wie Michael Niavarani, Viktor Gernot und doch gut zwei Dutzend andere Männer. Woran liegt das?

Niavarani: Dass es weniger Frauen gibt, die so berühmt sind und Kabarett machen.
Frankl: Aber woran liegt das, das ist die Frage?
Gernot: Ich behaupte, dass Humor etwas ist, was Buben sehr früh als machtvolles Mittel erkennen, das viele ganz früh, schon im Kindergarten, bewusst einsetzen. Weil sie draufkommen, sich über sich selbst und andere lustig zu machen, die anderen zum Kudern zu bringen, ist die einzige Chance, wahrgenommen zu werden.
Frankl: Und den Frauen wird immer schon erklärt, wie sie zu sein haben: sehr brav, nicht zu laut lachen und schön sein. Und ich glaube, wir schleppen das bis heute mit, sodass eben Frauen nicht auf die Bühne gehen und ihre Wampe herzeigen (Seitenblick auf Niavarani.), weil sie von der Gesellschaft sehr lange gehört haben, dass das nicht gut ist. Wenn das ein Mann macht, ist das aber cool und lustig. Würden die Frauen genauso selbstbewusst hervortreten – aber dazu gehört eben dieses ganze Body-Mind-Set, das eben so lange mitgeschleppt wurde und vielleicht jetzt endlich aufgebrochen wird –, dann wäre das genauso lustig. Vielleicht liegt es auch daran, dass man sich als Frau nicht so vorzupreschen traut, wie die Männer das ja schon lange mitbekommen haben, dass sie das dürfen. Und man hat ja auch das Gegenüber: Das Publikum ist bei einem Mann ganz angetan, wenn er das macht, bei einer Frau hingegen vielleicht ein bissl irritiert: Warum versteckt sie sich nicht, wenn sie zu viele Kilos hat?
Schirasi-Fard: Überleg einmal, wenn wir uns irgendwelche Reels schicken: Unser Humor ist ein anderer, wir lachen über andere Dinge. Und ich glaube, dass die breite Masse gewohnt ist, über Männerthemen zu lachen und nicht über Frauenthemen. Weil sie oft gar nicht wissen, warum wir etwas lustig finden.
Dorian: Es war ja auch lange Etikette, dass Frauen bei Tisch über Witze von Männern lachen sollen, aber bitte bloß nicht versuchen sollen, selber welche zu machen.
Niavarani: Das war eine herrliche Zeit! (Allgemeines Gelächter, weil die Damen genau wissen, dass er es nicht so meint – oder?)
Dorian: Und wenn einem das so eingetrichtert wird . . . Das sind alles so Zahnrädchen, die ineinandergreifen.
Niavarani: (Jetzt wieder ernst.) Wenn man sich die großen Komikerinnen anschaut, dann erkennt man eindeutig, dass es zwischen einem männlichen und einem weiblichen Humor null Unterschied gibt. Es ist tatsächlich so: Entweder ist etwas lustig oder es ist nicht lustig. Das ist ein mathematisches Gesetz, und es ist scheißegal, ob das ein Mann oder eine Frau macht. So. Jetzt aber kommt es, wie Jenny sagt, auf die Rezeption durch das Publikum an. Und ich habe mir diese Frage immer schon gestellt, wenn ich am Broadway eine Carol Burnett oder eine Tina Fey gesehen habe, die unfassbar lustig sind . . .
Gernot: Aber die sind alle dünn.
Niavarani: Naja, eine Frau kann ihre Wampe nicht herzeigen, wenn sie keine hat. Jedenfalls hab ich mich immer gefragt: Warum ist das bei uns so schwierig? Warum gibt es bei uns so wenige erfolgreiche Komikerinnen? Und es liegt tatsächlich an der Rezeption. Die Komödie ist ja immer etwas Zerstörerisches, es ist immer lustig, wenn was schiefgeht, wenn was kaputtgeht, das ist eigentlich extrem negativ, wenn was passiert. Und es ist schon richtig, von den Frauen wurde immer verlangt, sie sollen die Familie zusammenhalten, was Gutes kochen, schön sein, dem Mann den Rücken freihalten und so weiter – diese ganze patriarchalische Struktur ist der Grund, weshalb es so wenige erfolgreiche Komikerinnen gibt. Nicht, weil Frauen nicht lustig wären. Es ist vollkommen egal, welches Geschlechtsteil man zwischen den Beinen hat, wenn man auf der Bühne lustig ist. Es muss auch oft nicht das eigene sein.

(Jenny Frankl zerkugelt sich vor Lachen.)

Schirasi-Fard: Aber wenn du dir die ganzen Rom-Coms anschaust, dann sollen Frauen in erster Linie die Schöne sein, die angebetet wird. Oder aber ein lustiger Sidekick, und das sind dann nicht die Schönen. Weil die sollen ja bitte nicht ablenken von der Schönen.

Und lustig auf eigene Kosten. Gerne auch als Blondinen-Witz.

Frankl: (Schaut kurz irritiert.)
Niavarani: Die Jenny versteht’s net, die is blond.

(Allgemeines Gelächter.)

Schlageranfall im ORF mit u. a. Niavarani, Gernot und Frankl
© ORF/Hoanzl/Nadine Studeny

Diese ganze patriarchalische Struktur ist der Grund, weshalb es so wenige erfolgreiche Komikerinnen gibt. Nicht, weil Frauen nicht lustig wären. Es ist vollkommen egal, welches Geschlechtsteil man zwischen den Beinen hat, wenn man auf der Bühne lustig ist. Es muss auch oft nicht das eigene sein.

Aber im Ernst, wie stehst du als blonde Frau zu Blondinen-Witzen?

Frankl: Finde ich super. Man darf einfach niemanden ausschließen. Wenn man Witze macht, gehören alle inkludiert. Man darf über alle Witze machen, man muss es einfach charmant und gut verpacken. Und der klassische Blondinen-Witz, nun ja . . .

. . . unterscheidet sich im Grunde nicht vom Burgenländer-Witz, Ostfriesen-Witz, . . .

Frankl: Ja, scheißegal. Ich lach meistens über Blondinen-Witze, weil sie als Witze an sich lustig sind. Da kannst du ja einfügen, was du willst.

Das hat Otto Waalkes in „7 Zwerge“ mit den Schwarzhaarigen-Witzen vorgemacht.

Frankl: Genau. Hauptsache, der Witz selbst ist gut.

TV-Tipp: Am Montag, 30. Dezember 2024, werden zur Primetime um 20:15 Uhr in ORF 1 zahlreiche Schlager aus den Fünfzigern und Sechzigern gesungen – und kommentiert. Die Kabarett-Urgesteine Michael Niavarani und Viktor Gernot gestalten den 90-minütigen Abend gemeinsam mit Katharina Dorian, Jenny Frankl und Ariana Schirasi-Fard sowie der Band „Best Friends“.

Aufgezeichnet wurde der „Schlageranfall“ in Niavaranis Globe Wien, mit dem er heuer ein rundes Jubiläum gefeiert hat: Michael Niavarani ist seit zehn Jahren Hausherr in seinem Theater in St. Marx – zusätzlich zum ebenfalls von ihm gegründeten Theater im Park, das heuer seine bereits fünfte Saison hatte, und zum Kabarett Simpl, das er seit 2019 besitzt. Im Simpl ist er groß geworden, seinen ersten Auftritt dort hatte der 1968 geborene Schauspieler im Jahr 1989. Bereits 1993 wurde er zum ersten Mal künstlerischer Leiter, damals noch unter Hausherr Albert Schmidleitner. Die aktuelle Simpl-Revue „Paradies dringend gesucht“ hat er gemeinsam mit Jenny Frankl geschrieben, die ebenso wie Katharina Dorian und Ariana Schirasi-Fard zum aktuellen Simpl-Ensemble gehört.

Michael Niavarani / Viktor Gernot / Jennifer Frankl / Katharina Dorian / Ariana Schirasi-Fard