Pflegefamilie Podcast Antonia Stabinger Ludwig Krausneker

Sie trinkt aus einem Gurkenglas, hinter ihr drängt sich charmant eine Leiter ins Rampenlicht: Die Kabarettistin Antonia Stabinger hat alle Hände voll zu tun, um ihr neues Zuhause in Wien einzurichten – mit einem extra Zimmer für ihre Tochter. Ohne Babybauch und ohne viel Trara ist sie Mama geworden und nimmt sich trotz Baustellenstress Zeit, um uns davon zu erzählen. Das ist mehrfach bemerkenswert, sonst kann sie Interviewfragen zum Privatleben gar nicht leiden.

An ihrer Seite treffen wir Ludwig Krausneker, er ist Klinischer Psychologe und Pflegefamilienberater bei affido, einer gemeinsamen Einrichtung des Pflegeelternvereins Steiermark und der Gesellschaft für steirische Kinderdörfer. Gemeinsam moderieren sie seit Kurzem den Podcast „Kreisrund mit Ecken“, der so fesselnd und bewegend ist, dass ich zuletzt mitten in der Nacht trotz Ankunft daheim nicht aus dem Auto steigen wollte, ehe die Folge zu Ende war.

funk tank: Antonia, kaum jemand wusste davon – und dann wurdest du plötzlich Mama, nämlich Pflegemama. Wie fing das an?

Antonia Stabinger: Meine Tochter ist am 25. Juni vor einem Jahr bei mir eingezogen. Dazu gibt es eine schöne Anekdote: Am Abend davor war ich beim „Zusperrfest“ im Kabarett Niedermair. Da treffen sich viele Kolleg*innen, danach ist Sommerpause. Davor habe ich sehr wenigen Leuten erzählt, dass ich eine Pflegetochter bekomme – so wie man meist nur wenigen erzählt, wenn man frisch schwanger ist. Dann stand ich dort aufgeregt mit einem weißen Spritzer in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen – ich rauche ab und zu – und habe gesagt: „Morgen bekomme ich ein Kind!“ Daraufhin gab es irritierte Blicke, abwechselnd auf mein Glas, meine Zigarette und meinen Bauch – das war sehr unterhaltsam.

Und am nächsten Tag ist dann tatsächlich meine Tochter eingezogen und ich war auf einen extrem herausfordernden Sommer eingestellt. In der Ausbildung wurde ich darauf vorbereitet, dass man meist die Wut des Kindes abbekommt, die eigentlich den bisherigen, „verschwundenen“ Bezugspersonen gilt. Der Sommer war dann aber tatsächlich halb so wild. Ich habe mich zurückgezogen, war ein paar Wochen ausschließlich für das Kind da, so wie uns das in der Ausbildung empfohlen wurde. Anfangs habe beispielsweise nur ich sie gehalten, damit sie versteht: Ich bin ihr neues Zuhause, ihr Anker. Es war ein schöner Sommer: Wir waren viel draußen, haben alle aus dem Familien- und Freundeskreis getroffen, die sie kennenlernen wollten, und ganz viel Zeit zu zweit verbracht.

Wieso dieser mutige Schritt?

Ich hatte das Bedürfnis, etwas Soziales zu machen. So, dass ich wirklich das Gefühl habe, ich verändere tatsächlich etwas. Als ich dann im Grundkurs der Wiener MA11 (Kinder- und Jugendhilfe, Referat für Adoptiv- und Pflegekinder, Anm.) gesessen bin, mit lauter netten Menschen, habe ich öfter laut sagen müssen: „Wie gut, dass es das gibt!“ – Stellen wir uns vor, das gäbe es nicht, es käme kein Jugendamt, um Kinder aus Gefahrensituationen zu holen, und sie würden keine zweite Chance bekommen.

Die Schlagzeilen werden immer verrückter, es herrschen Kriege, Menschen ertrinken im Mittelmeer – all das ist schwer auszuhalten und zu integrieren. Ich glaube, es gibt mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen: Entweder man verdrängt es, man leidet – oder tut eben etwas, bei dem man das Gefühl hat, es hilft. Egoistisch gesagt: Es funktioniert. Ich habe heute das Gefühl, dass ich zumindest das Leben einer Person signifikant besser mache.

Ich wünsche mir für mein Kind, dass ich es schaffe, dass sie alles bekommt, was sie braucht, um sich zu entfalten, um so zu werden, wie sie ist.

Ludwig, wann kommen Kinder von ihren Familien weg?

Ludwig Krausneker: Es muss wirklich „viel“ passieren, ehe Kinder aus ihrem Familiensystem herausgenommen werden. Wir wissen: Das Beste ist, wenn Kinder bei ihren Herkunftsfamilien aufwachsen. Es sind triftige Gründe, wenn das nicht mehr geht, beispielsweise wegen Gewalt oder grober Vernachlässigung.

… das hinterlässt bestimmt auch seelische Wunden und Narben bei Kindern, wie können Pflegefamilien damit umgehen?

Dieser Theorie folgend, müssten alle Kinder- und Jugendpsychiatrien nur mit Pflegekindern voll sein – und das ist nicht der Fall. Aus der Herkunftsfamilie herausgenommen werden zu müssen, ist natürlich kein idealer Start; einige Kinder stecken das gut weg, andere brauchen vielleicht etwas mehr Unterstützung. Auch deswegen gibt es Einrichtungen wie affido: Durch unsere enge Begleitung kann man sehr viel kompensieren, das gelingt ganz vielen Familien und in vielen Bereichen.

Manchmal bekommt ein Kind im Krankenhaus eine Pflegemama bzw. einen Pflegepapa, weil es schon klar ist, dass nur so ein sicheres Umfeld garantiert werden kann – und um dem Neugeborenen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Moodbild Familie
© Juliane Liebermann/Unsplash
Antonia, deine Tochter war neun Monate alt, als sie zu dir kam. Wieso keine Adoption?

Für Adoption gibt es meist lange Wartezeiten und man ist schnell zu alt dafür. Für mich macht das Pflegesystem mehr Sinn. Außerdem ist es durchaus angenehm, wenn man Unterstützung bekommt – ich habe das gerne, wenn mich mein MA11-Sozialarbeiter regelmäßig fragt: „Frau Stabinger, wie geht es Ihnen und Ihrem Kind?“ Natürlich ist er auch da, um zu kontrollieren, dass mein Kind bei mir sicher und gut aufgehoben ist.

Was waren deine größten Sorgen?

Dass meine Tochter wieder zu ihrer leiblichen Mutter zurückkommt. Ich habe erst vor Kurzem wieder über den Terminus Pflegemutter nachgedacht; er klingt nach einer temporären Betreuung, nicht nach echten Eltern. Aber das stimmt nicht. Ich bin ein vollwertiger Elternteil (auf dem Papier bis zum 18. Lebensjahr, Anm.). Ich habe im Zuge der Ausbildung erfahren, dass nur 1 bis 3 Prozent in ihre Herkunftsfamilien zurückgehen. Das war für mich ein Risiko, das ich bereit war, einzugehen. Aber wenn das Kind dann eingezogen ist, sind auch 1 bis 3 Prozent nicht ohne. Ich persönlich habe es für mich jetzt eingeordnet als etwas, das manchmal im Leben passieren kann und das man nicht kontrollieren kann – einen schlimmen Unfall zum Beispiel. Das gehört eben dazu. Es wurde uns ausdrücklich gesagt: Wenn das unvorstellbar ist, dass das Kind in die Herkunftsfamilie zurückgeht, darf man es nicht machen. Man hat uns durchaus schockierende Fallbeispiele erzählt; aber es wurde weder schwarz gemalt, noch schöngeredet.

Das Interessante nach einem Jahr ist, dass der soziale Aspekt, also meine eigentliche Motivation, komplett in den Hintergrund gerückt ist. Es ist jetzt einfach mein Kind – und sie ist ein so cooles Kind (sehr strahlend)! Es ist natürlich auch anstrengend und spannend, welche Seiten es in einem herausholt. Ich habe neue Aspekte über mich gelernt (lacht)!

Welche?

Wie wütend ich werden kann. Dass ich so gechallenged sein kann, dass ich aus dem Raum gehen muss, um kurz zu schreien (lacht)! Aber um meine Vorbereitung und die Ausbildung beneiden mich oft Eltern mit leiblichen Kindern. Ein „klassisches“ Heteropaar macht sich vorher oft nicht allzu viele Gedanken. Wer setzt sich zehn Monate in einen Kurs, um zu reflektieren: Will ich das wirklich? Geht es sich finanziell, organisatorisch und logistisch aus? Ob für gleichgeschlechtliche Paare oder Alleinerziehende, für alle, die vom Modell Vater-Mutter-Kind abweichen, ist diese Entscheidung langwierig und aufwändig. Das hat aber vielleicht auch Vorteile bei einem so großen, existenziellen Thema, bei der man ja immerhin die Verantwortung für einen Menschen übernimmt. Das ist ja keine Anschaffung von einem Gerät, einem neuen Handy. Es gibt da Unterschiede! Achtung, ein Kind kann man zum Beispiel weder muten noch abschalten!

Psychologe Ludwig Krausneker und Kabarettistin Antonia Stabinger
Psychologe Ludwig Krausneker und Kabarettistin Antonia Stabinger © affido

Wir wünschen uns, dass es mehr Bewusstsein dafür gibt und dass Pflegefamilie als normale Familienform in den Köpfen Einzug hält.

Ihr habt im Mai mit dem Podcast „Kreisrund mit Ecken“ gestartet. Mit welchen Zielen?

Ludwig: Vor allem um Werbung für dieses Modell zu machen, weil es viel zu wenig bekannt ist. Wir wollen Pflegefamilien auch eine gewisse Bühne geben, Pflegemamas und -papas erfüllen rund um die Uhr eine sehr wichtige Aufgabe. Wir können ganz klar sagen: Es gibt mehr Pflegekinder, als es Plätze gibt. Wir haben uns vorgenommen, jene Gründe zu ändern, die wir ändern können. Dazu gehört es, Ängste und Vorbehalte zu nehmen. Wir wünschen uns, dass es mehr Bewusstsein dafür gibt und dass Pflegefamilie als normale Familienform in den Köpfen Einzug hält.

Antonia, wie hat sich dein Leben verändert?

Ich habe zuvor viel gearbeitet, weil mein Beruf auch mein Hobby ist. Aber in den letzten Jahren habe ich Lust bekommen, auch eine andere Art von Arbeit zu machen – Care-Arbeit. Und mit meinem Kind Zeit zu verbringen, gefällt mir wirklich sehr gut! Was nervig ist, ist der Haushalt: Die ganze Zeit kochen, putzen, Wäsche waschen, wegräumen, … – das ist verzichtbar. Ich verstehe jetzt noch mehr, warum jahrhundertelang der Hälfte der Gesellschaft eingeredet wurde: Ihr seid dazu geboren, diese Arbeit gratis zu machen. Überhaupt nicht fair, aber ich verstehe, dass das echt praktisch war.

Wer sind eure Gesprächspartner*innen beim Podcast?

Ludwig: Uns ist eine Mischung aus Pflegemamas, -papas und -familien wichtig – und ebenso aus Professionist*innen, um möglichst viel Einblick in das Modell Pflegefamilie zu geben. Wir haben bereits sehr unterschiedliche Gäst*innen getroffen und obwohl es mein Beruf ist, berühren auch mich ihre Geschichten sehr. Jede ist individuell, so wie jedes Kind und jede Familie unterschiedlich ist; wir hören – mit all ihren Höhen und Tiefen – viele Erfolgsgeschichten voller schöner Momente. Schon unsere erste Gästin, eine Ärztin mit zwei Pflegekindern, hat eine so ansteckende Art.

Mood Podcast "Kreisrund mit Ecken"
© affido
Was brauchen Kinder?

Ludwig: Das ist ein sehr hoher Anspruch an Eltern, aber vor allem Verständnis für die Kinder – für ihr Erleben und ihre Herkunft. Sie brauchen Beziehungskonstanz, Wertschätzung und bedingungslose Liebe. Die bräuchten auch Eltern …

Antonia: Wer gibt ihnen die? Das Kind sicher nicht, das Kind stellt viele Bedingungen (lacht). Ich bin neu in dem Business, aber vom Gefühl her würde ich auch sagen: Kinder brauchen Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, etwas tun zu müssen – sie brauchen eine Begleitung beim Aufwachsen.
Ich wünsche mir für mein Kind, dass ich es schaffe, dass sie alles bekommt, was sie braucht, um sich zu entfalten, um so zu werden, wie sie ist. Ich wünsche mir höchstens, dass sie später in keinem menschenverachtenden Beruf arbeitet, aber davon abgesehen soll sie bitte werden, was sie will.

Der Podcast „Kreisrund mit Ecken“ ist ein kleines A bis Z für alle, die in die vielfältige Welt von Pflegefamilien eintauchen wollen. Die vom Verein affido initiierte Gesprächsreihe wurde im Mai 2024 gestartet, jeden Mittwoch erscheint eine neue Folge. Dabei wechseln einander kurze, informative „Nachgefragt“-Sendungen und Gespräche mit den beiden Hosts Ludwig Krausneker und Antonia Stabinger ab. Der Psychologe und die Kabarettistin und Pflegemama plaudern dabei mit Pflegefamilien, Berater*innen und Expert*innen über das Schöne und die Herausforderungen der besonderen Familienform – jeweils mit ganz viel Gänsehaut- und Lerngarantie.

Antonia Stabinger ist Kabarettistin und seit 2009 erfolgreich mit dem mehrfach ausgezeichneten Kabarett-Duo „Flüsterzweieck“ in Österreich, Deutschland und der Schweiz unterwegs. Sie gastiert regelmäßig in ORF-Shows wie „Was gibt es Neues?“ oder „Pratersterne“, für FM4 schreibt und spricht sie die Politsatire-Kolumne „Die Zudeckerin“ und produziert Hörspiele mit dem Kollektiv „Das magische Auge“. Im Herbst 2024 präsentiert sie ihr erstes Solo-Programm „Angenehm“. Seit einem Jahr ist sie Pflegemama einer heute knapp zwei Jahre alten Tochter.

Ludwig Krausneker studierte Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und absolvierte parallel das Psychotherapeutische Propädeutikum. Die klinische Ausbildung machte er an einer Kinder- und Jugend-Psychosomatik-Abteilung in Oberösterreich. Seit 2023 ist Krausneker bei affido in der Steiermark als Pflegefamilienberater und Psychologe tätig.

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Antonia Stabinger

Infos Pflegefamilie

Toxische Pommes Maria Muhar Stadtsaal

TikTok-Star und Autorin Toxische Pommes (mit bürgerlichem Namen Irina, Nachname unbekannt) wird am 14. Juni mit ihrem Bühnenprogramm „Ketchup, Mayo und Ajvar“ die österreichische Gesellschaft und Seele demaskieren, denn als „schönes Ausländerkind“ weiß sie ganz genau, wie Rassismus, Sexismus und Klassismus den Alltag prägen können. Autorin und Kabarettistin Maria Muhar widmet sich am selben Abend in ihrem Programm „Storno“ alltäglichen und substanziellen Themen rund um ihre Freundin, deren Nachwuchs und die wenige Zeit, die bleibt zwischen Timelines, Deadlines, Tiervideos und Terminen beim AMS. Ein Gespräch mit den Künstlerinnen über Inspiration, Migration und Identität.

funk tank: Liebe Irina, liebe Maria, am 14. Juni werden Sie sich die Bühne vom Wiener Stadtsaal teilen, nicht gemeinsam, sondern nacheinander. Wie kommt es dazu, kennen Sie sich?

Maria Muhar: Ich wurde vom Stadtsaal angefragt, ob ich Lust hätte, einen Abend mit Irina zu teilen, und nachdem ich großer Fan von Toxische Pommes bin und Irina auch persönlich sehr schätze, habe ich zugesagt – und Irina scheinbar auch (lacht). Ich freue mich jedenfalls schon sehr drauf!

Irina habe ich in unterschiedlichen Kontexten kennengelernt: Einerseits natürlich über ihre super Videos auf Social Media, dann aber auch bei gemeinsamen Treffen des Netzwerks „Komische Frauen“ – ein Zusammenschluss von unterschiedlichen Künstler*innen, die alle vereint, dass ihre Arbeit von einem humoristischen Zugang geprägt ist. Im Rahmen der Kabarettreihe „Comish“, die ich 2022 für die Wiener Festwochen kuratieren durfte, hatte ich dann auch das Glück, Toxische Pommes mit einem künstlerischen Beitrag einladen zu können.

Künstlerin Maria Muhar
Künstlerin Maria Muhar © Apollonia Theresa Bitzan

Wenn es trotzdem mal ganz arg ist, stell ich mir vor, dass ja nicht ich auf die Bühne gehen muss, sondern meine Bühnenfigur, die generell ein bissl eine härtere Sau ist als ich selbst.

Frau Muhar, für Ihr Solo-Programm „Storno“ wurden Sie bereits mit dem Österreichischen Kabarettpreis ausgezeichnet. Neben Texten für die Bühne haben Sie den Roman „Lento Violento“ verfasst. Wovon und von wem lassen Sie sich für Ihre Arbeiten inspirieren?

Die Inspiration kommt von vielen Seiten – mal ist es das persönliche Umfeld, mal die Kunst- und Kulturszene oder politische und gesellschaftliche Dynamiken, die mich (zwangsläufig …) beschäftigen.

Gesellschaftspolitische Themen finden in Ihren Werken genauso Platz wie private Gedanken und Struggles. Die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Humor zu finden, stelle ich mir schwierig vor. Immerhin erwarten Besucher*innen eines Kabaretts ja auch einige Lacher. Wie gelingt Ihnen diese Balance und was tun Sie, wenn Ihnen persönlich einmal nicht mehr zum Lachen ist?

Natürlich habe ich den Anspruch, dass mein Soloprogramm auch zum Lachen ist – sonst hätte ich es nicht als Kabarett bezeichnet, sondern vielleicht eher als Theatermonolog oder Sprechperformance. Trotzdem gibt es darin auch Stellen, die eher tragisch oder vielleicht sogar traurig sind. Aber genau das macht den speziellen Reiz für mich aus: Im Kabarett kann das Profane direkt neben dem Existenziellen stehen, und das mit einer fast anarchischen Selbstverständlichkeit! Damit kann man als Künstlerin einfach steile Bühnenmomente erzeugen.

Texte zu schreiben ist das Eine, live aufzutreten und die Reaktion der Zuseher*innen mitzubekommen, das Andere. Kennen Sie Lampenfieber und wie gehen Sie damit um?

Ja, das Lampenfieber ist fix noch ein Thema bei mir, aber es wird (klopft auf Holz) immer weniger schlimm. Und wenn es trotzdem mal ganz arg ist, stell ich mir vor, dass ja nicht ich auf die Bühne gehen muss, sondern meine Bühnenfigur, die generell ein bissl eine härtere Sau ist als ich selbst. Das ist vielleicht ein Vorteil, wenn man ein Programm hat, bei dem die Bühnenfigur – zumindest was die Attitude betrifft – von der Privatperson abweicht: Man kann sich die Arbeit also, je nach persönlichen Stärken und Schwächen, manchmal aufteilen (lacht).

Ihr Satire-Stück „Wirecard: Last Exit Bad Vöslau“ im Theater am Werk im April beleuchtete den Wirecard-Skandal. Eine realistische Abrechnung mit den skrupellosen Akteuren oder eine Utopie mit Hoffnungsschimmer – was wurde es und was hat Sie an der Thematik gereizt?

Also eine Utopie mit Hoffnungsschimmer habe ich leider nicht in das Stück reingeschrieben – dafür lässt nicht nur die Realvorlage des Stoffs wenig Raum, sondern auch die gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die solche Skandale ja noch immer befeuern. Was ich aber schon versucht habe umzusetzen, ist – zumindest für einen Theater-Abend lang – gemeinsam darüber lachen zu können. Auch die Möglichkeit, diese machtgeilen Protagonisten in Situationen zu schreiben, die sie sich ausnahmsweise mal nicht ausgesucht haben, hat mir eine diebische Freude bereitet. Idealerweise ist es ein Abend, an dem man bitter-süß über toxische und phasenweise komplett traurige Männlichkeit gemeinsam lachen kann.

Künstlerin Toxische Pommes
Künstlerin Toxische Pommes © Muhassad Al Ani

Ich glaube ganz allgemein, dass wir Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten in unserer Identität viel besser aushalten, als wir denken – wir alle sind Menschen mit einzigartigen Geschichten und Schicksalen, in den seltensten Fällen lassen wir uns in vorgefertigte Stereotype und Schablonen pressen.

Liebe Irina, bekannt wurden Sie durch humoristische, gesellschaftskritische Videos auf TikTok und Instagram unter dem Pseudonym Toxische Pommes. Mittlerweile haben Sie ein Kabarett-Programm und ein Buch geschrieben. Eine geplante Karriere oder reiner Zufall?

Irina/Toxische Pommes: Anfangs ein glücklicher Zufall, mittlerweile ein zweiter Beruf.

Ihr Roman „Ein schönes Ausländerkind“ ist diesen April erschienen. Wie viel in diesem Buch ist Fiktion und wie viel erzählt von Ihrem Leben?

Die Antwort auf diese Frage überlasse ich gerne der Fantasie der Leser*innen. Ich arbeite oft ausgehend von persönlichem Material, das ich dann im Weiteren verändere und modelliere, um die Geschichte zu erzählen, die ich möchte.

Gleich zu Beginn des Buches beschreiben Sie ein „perfektes Leben“ als „perfekte Migrantin“ in Österreich – mit sicherem Job als Juristin im 1. Bezirk in Wien – das jedoch unzufrieden und unglücklich macht. Sie selbst wollten auch immer perfekt sein, Ihr Lebenslauf scheint lückenlos und vorbildlich. Woher kommt der Drang hin zur Perfektion?

In dem Buch geht es um zwei Geschichten: Eine der „perfekten Integration“ – was auch immer das heißen mag – und um eine gescheiterte Integration, auf der auch der Fokus des Romans liegt. Wie hängen die beiden Geschichten zusammen? War die „perfekte Integration“ der Tochter nur möglich, indem sie ihren Vater aufgibt, dass sich ihr Vater letztlich sogar selbst aufgibt? Was kostet es, nach Österreich einzuwandern und nicht aufgrund der Geburtslotterie hier zu landen und die Staatsbürgerschaft zur Geburt geschenkt zu bekommen? Wie geht es Menschen, die in Österreich nie ankommen (können), niemals Anschluss an die Gesellschaft finden und sozial vereinsamen?

Wie vereinbaren Sie den „strengen“ Beruf als Juristin mit Ihrem medialen Leben als Social-Media-Star, Kabarettistin und Autorin?

Ich bin mir zwar nicht sicher, was „streng“ in diesem Kontext bedeutet, aber ich finde, dass sich Künstler*innen oft viel wichtiger nehmen als Jurist*innen. Und am Ende des Tages sitze ich bei allen drei Tätigkeiten zu einem großen Teil vor einem Bildschirm und überlege, wie ich eine Geschichte erzählen und sie argumentieren kann.

Im Buch wird u. a. das Klischee der „faulen Ausländer*innen“ thematisiert. Und gleichzeitig jedes Klischee auf den Kopf gestellt. Ein Vater, der Hausmann ist, eine Mutter, die arbeitet, eine Tochter mit Bestnoten. Das klingt alles sehr positiv und modern – viele Österreicher*innen leben weitaus konservativer, gerade was die Rollenverteilung angeht. Sind Sie und Ihre Familie die „idealen Vorzeigemigrant*innen“ oder trügt der Schein?

Ich finde Klischees recht langweilig. Ich wollte in erster Linie eine Geschichte erzählen, die ich im breit-medialen Diskurs vermisse: ein ehrliches Porträt eines nicht integrierten Menschen, der genauso viel Empathie und Verständnis verdient wie jeder andere Mensch auch.

Sie sprechen von einem Leben, in dem Sie „die Ausländerin in sich wegintegriert“ haben. Wollten Sie um jeden Preis Ihre Wurzeln loswerden, um hier anerkannt zu werden? Sehen Sie sich heute mehr als Österreicherin oder Kroatin?

Diese Frage war für mich ehrlich gesagt nie relevant, bis sie mir von autochthonen Österreicher*innen gestellt wurde. Ich glaube ganz allgemein, dass wir Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten in unserer Identität viel besser aushalten, als wir denken – wir alle sind Menschen mit einzigartigen Geschichten und Schicksalen, in den seltensten Fällen lassen wir uns in vorgefertigte Stereotype und Schablonen pressen.

Die Migrationspolitik in Österreich ist teilweise fragwürdig und asozial. Was gehört Ihrer Meinung nach auf politischer Ebene verändert, um ein faires und friedliches Miteinander zu fördern? Und was wünschen Sie sich diesbezüglich von den österr. Bürger*innen?

Zu viel für diesen Rahmen. Was ich mir jedoch generell wünsche und schon lange vermisse, sind politische Parteien mit innovativen Ideen und Inhalten, die nicht nur reaktiv sind, der Machterhaltung dienen oder ausschließlich daraus bestehen, eine andere Partei in der Regierung zu verhindern.

Was erwarten Sie sich von dem Abend im Stadtsaal und mit welchem Gefühl/mit welchen Gedanken wollen Sie die Besucher*innen nach Hause verabschieden?

Irina/Toxische Pommes: Dass die Leute nicht das Gefühl haben, ihr Geld weggeschmissen zu haben.

Maria Muhar: Ich glaube, es könnte ein cooler Abend werden – vor allem für die Leute, die vielleicht schon vorhatten, sich diese zwei sehr unterschiedlichen Programme anzuschauen und das jetzt an einem Abend kombinieren können (lacht). Ich freu mich jedenfalls schon extrem drauf, zumal es ja auch meine Stadtsaal-Premiere ist!

Maria Muhar schreibt Prosa, Lyrik und Bühnentexte. 2022 erschien ihr Debütroman „Lento Violento“; im selben Jahr feierte ihr erstes Kabarettprogramm „Storno“ Premiere, das 2023 mit dem Österreichischen Kabarettpreis ausgezeichnet wurde.

Maria Muhar

Toxische Pommes heißt eigentlich Irina. Bekannt wurde die Künstlerin vor allem durch ihre Satirevideos auf TikTok und Instagram. Ihr Debütroman „Ein schönes Ausländerkind“ ist diesen April erschienen und behandelt u. a. Irinas Leben und Beobachtungen der österreichischen Gesellschaft und Seele, geprägt von Rassismus, Sexismus und Klassismus.

Toxische Pommes

Exklusiv für die funk tank Fangemeinde: Wir verlosen 2 x 2 Tickets für den Kabarett-Abend mit Toxische Pommes und Maria Muhar am 14. Juni 2024 ab 19.30 Uhr im Wiener Stadtsaal. Zum Gewinnspiel!

Kettcar Musik zum Denken und Fühlen

Mit dem sechsten Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ meldete sich Kettcar nach sieben Jahren Albumpause im April zurück. Das aktuelle Album nennt die Band selbst einen „Gemischtwarenladen“, denn hier findet sich sowohl harter Post-Punk als auch ruhige Romantik. Was nie fehlt: Texte zum Nachdenken mit viel Tiefgang …

funk tank: Wer Kettcar kennt und schätzt, liebt vor allem auch die Kombination aus Leichtigkeit und Tiefe eurer Texte und Musik – inwiefern hat sich euer Zugang zum Musikmachen und Texten im Laufe der Jahre verändert? Auch hinsichtlich Gesellschaftskritik und Politik?

Reimer Bustorff: Das hängt einfach mit der jeweiligen Lebenssituation zusammen. Wir haben mit der Band angefangen, als wir Anfang der 30er waren. Marcus war mit seinem Studium fertig, ich habe mein Studium abgebrochen, weil wir dann das Label gegründet haben (Anm. d. Red.: Grand Hotel van Cleef). Beziehungen gingen auseinander. Da war ganz viel privat im Umbruch und es hat sich viel um einen selbst gekreist und das spiegelte sich dann auch in den Texten wider. Jetzt befinden wir uns in einer anderen Lebenssituation, jetzt hat man irgendwie seinen Weg gefunden.

Das aktuelle Album ist ja sehr politisch und gesellschaftskritisch. Ist es euch wichtig geworden, auch Aufklärungsarbeit zu betreiben?

Wir waren schon immer politisch denkende Menschen, wir haben uns mit Kettcar von Anfang an positioniert und das war uns seit jeher wichtig, aber der Blick auf die Gesellschaft hat sich verändert und erweitert und daher ist das jetzt auch Thema in unseren Texten. Die Aufklärungsarbeit passiert, niemand von uns ist missionarisch unterwegs, die Dinge kommen aus uns raus und wir schreiben nieder, was wir fühlen. Das ist ja diese ewige Diskussion, was und ob man was mit der Musik erreichen möchte. Uns ist schon klar, dass wir die Welt nicht verändern oder Frieden stiften können. Durch meine Sozialisation kann ich aber sagen: Hätte es Bands wie Fugazi oder Bad Religion nicht gegeben, wäre ich jetzt nicht hier. Insofern kann Musik schon Denkanstöße geben und so manch verlorene Seele retten bzw. ranholen.

Euer neues Album ist seit 5. April draußen! Gratulation dazu! Nach sieben Jahren Pause haut ihr so ein großartiges Ding raus. Mit Lyrics, aus denen man ein Buch machen könnte. Da tun die Texte manchmal weh, weil sie so treffend sind und man spürt so viel Emotion. Wie lange habt ihr am Album gearbeitet und wie leicht ist es euch gefallen?

Vielen Dank! Sieben Jahre Pause ist immer so ein großes Wort, stimmt natürlich nicht ganz, denn wir waren auch umtriebig nach dem letzten Album. Wir waren dann noch auf Tour, haben eine EP rausgebracht, haben Musik fürs Theater gemacht – „Kabale und Liebe“ von Schiller in Kiel. Dann kam die Pandemie und wir waren ein bisschen bequem. Natürlich hatten wir auch Druck, denn je länger du wartest mit dem neuen Album, umso größer wird die Erwartungshaltung von allen. Das Schöne ist, dass wir den Druck auf fünf Schultern verteilen können als Band. Wir haben vor ca. vier Jahren mit dem Album begonnen und dann gemeinsam daran gearbeitet.

Die Hamburger Band Kettcar
Kettcar sind: Christian Hake, Erik Langer, Marcus Wiebusch, Reimer Bustorff und Lars Wiebusch © Andreas Hornoff
Die Texte stammen von dir und Marcus?

Marcus ist eigentlich federführend und wir beide stecken dann die Köpfe zusammen. Wir machen viel zusammen, wir gehen zum Fußball, auf Konzerte, reden viel und versuchen dann, Themen zu finden, um uns einzunorden, wo die Reise hingehen soll. Jetzt ist es thematisch ein ganz schöner Gemischtwarenladen geworden (lacht).

Gibt es auch Streit und Unstimmigkeiten in so einem Prozess?

Streit will ich das nicht nennen, aber es gibt schon immer wieder Reibungspunkte, wo wir nicht klar beieinander sind. Es kann über Diskussionen hinausgehen, aber wir besprechen das dann in der ganzen Band. Ich schmeiße z. B. einen Text in die Runde und die anderen geben Feedback und so entsteht das Ganze dann, Stück für Stück. Und befruchtet sich. Man muss da natürlich manchmal Eitelkeiten über Bord werfen und das Ego zurückschrauben. Das ist nicht immer einfach, aber dessen sind wir uns bewusst.

Ihr seid einfach schon erfahren und lange zusammen.

Genau. Und erwachsen und vernunftbegabt. Es ist Wahnsinn (lacht).

Wie nehmt ihr die ersten Reaktionen aufs Album und die Tour wahr, seitens Publikum und Presse?

Eigentlich gibt es nur positives Feedback bisher. Das ist sehr schön.

Viele Musiker*innen in Deutschland haben gedacht, sie müssen nach Berlin gehen, um erfolgreich zu werden, da gab es ja einen Hype um die Stadt eine Zeit lang. Ihr seid in Hamburg geblieben. Was kann Hamburg, was Berlin nicht kann und umgekehrt? Welches Umfeld braucht es, um kreativ sein zu können?

Das ist eine schwierige Frage. Es braucht definitiv Raum und diesen Ort muss man suchen und finden. Diesen Raum gab es Anfang der 00er-Jahre in Berlin viel mehr, weil da viel Leerstand war, wo dann viele Partys und auch Musik gemacht wurden. Aber das ändert sich gerade, weil Berlin so wahnsinnig gentrifiziert wird. Das haben wir in Hamburg schon hinter uns. Ich fühle mich in Hamburg immer noch wohl, das ist immer noch unsere Stadt. Da haben wir die Plattenfirma, da haben wir unseren Proberaum, wir haben da eine perfekte Infrastruktur.

Reimer Bustorff im Interview in der Arena Wien
Reimer Bustorff im (unbewohnten) Schlafsaal der Wiener Arena im Interview mit funk tank © Alicia Weyrich

Hätte es Bands wie Fugazi oder Bad Religion nicht gegeben, wäre ich jetzt nicht hier. Insofern kann Musik schon Denkanstöße geben und so manch verlorene Seele retten bzw. ranholen.

Euer heutiges Konzert in Wien war sofort ausverkauft, daher gibt es am 25. Juli ein Zusatzkonzert in der Arena. Ich bin ja der größte Hamburgfan ever und finde, dass gerade, was den morbiden Humor und die Herzlichkeit betrifft, die ja da ist, aber die man sich ein bisschen erarbeiten muss, Wien und Hamburg verbindet. Welchen Bezug habt ihr zu Wien und den Wiener*innen?

Also für uns als deutschsprachige Band, die wenig rumkommt, ist es immer was Besonderes ins Ausland zu kommen. Wir spielen ja quasi immer in denselben Städten. Österreich und Schweiz sind da die Exoten für uns. Bei Wien lieben wir dieses Flair, es ist alles so gelassen und eine andere Lebensart. Wir waren vorher Fußball gucken im Lokal Jetzt und der Wirt war so herzlich, das ist schon sehr schön.

Zusammen mit Thees (Anm. d. Red.: Sänger und Autor Thees Uhlmann) und Marcus betreibst du das Hamburger Indie-Label Grand Hotel van Cleef. Was muss ein Künstler/eine Künstlerin haben, damit er/sie bei euch gesigned wird?

Wir entscheiden das meistens vom Herzen aus und gemeinsam, wir sind ja neben Thees und Marcus und mir noch ein größeres Team. Wir haben schon unterschiedliche Geschmäcker und Ansichten, wie was funktionieren kann. Es muss vor allem auch menschlich stimmen und wir gut miteinander klarkommen. Und ganz wichtig ist, dass die Idee, wohin man will, im Einklang ist. Als Künstler*in will man sofort mal eine Platte rausbringen. Und dann müssen wir vom Gas runter und sagen: Vielleicht zuerst mal auf Tour gehen und Konzerte spielen. Und überlegen: Wie finanzieren wir das? Rechnet sich das? Fast jede/r will ja davon leben können, das ist ein weiter Weg. Da gehört auch viel Glück dazu, nicht nur Talent. Wir haben das selber mit Kettcar auch erfahren, wir hatten auch Glück, dass wir zur richtigen Zeit den richtigen Sound gefunden haben und dann passte das auch fürs Gefühl für viele Leute. Das passiert halt nicht immer. Ich habe im Laufe der Label-Arbeit schon tolle Künstler*innen gesehen, wo dann nach dem 2. Album nichts mehr gelaufen ist und zu wenige Leute zu den Konzerten gekommen sind.

Welche Musiker*innen hörst du gerade am liebsten? In welche Platte müssen wir unbedingt hineinhören?

Shitney Beers, die hatten wir jetzt mit auf Tour. Die ist umwerfend, wahnsinnig charmant und charismatisch, die liegt mir sehr am Herzen. Und Christin Nichols ist bei uns auch mit auf Tour, wirklich toll, ein bisschen poppiger als Shitney, die mehr in die Indie-Richtung geht.

Endlich mehr Frauen auf Bühnen! Und überhaupt: Mehr Frauen im Musik-Biz!

Ja unbedingt, auch bei der Label-Arbeit haben wir früher immer nur mit Typen zu tun gehabt. Wir schauen jetzt im Büro, dass wir auch Frauen im Team haben, wir bilden ja auch aus als Veranstaltungskauffrau/Veranstaltungskaufmann. Wir teilen uns das Büro auch mit zwei Grafikerinnen, das ist wichtig für die Balance und Diversität.

Kettcar ist eine Indie-Rock-Band aus Hamburg. Ihr sechstes Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist im April erschienen. 12 Songs, die unter anderem Geschichten von, auf und über Bayreuth, Krankenhauszimmern, Rügen, dem Supermarkt, der Enterprise und der Blauen Lagune erzählen. Mal die Faust in der Tasche, mal das Herz im Hals – schroffe Post-Punk-Gewitter, Akustisches und Sprechgesang. Mit dem sechsten Studioalbum gastiert die Band diesen Sommer in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Am 25.7. spielen Kettcar in der Wiener Arena (Open Air), am 29.7. in Graz (Kasematten) und am 31.8. in Linz (Posthof) zusammen mit Thees Uhlmann.

Kettcar

Emilia Roig – Das Ende des Kapitalismus

Mehr Liebe – das wünscht sich Emilia Roig für unsere Welt. Die französische Politologin und Aktivistin gründete 2017 in Berlin das Center for Intersectional Justice, einen gemeinnützigen Verein mit dem Ziel, Diskriminierung zu bekämpfen. Sie hat außerdem bereits mehrere Bücher geschrieben und initiiert, wie etwa Unlearn Patriarchy 2. Den feministischen Sammelband hat sie zusammen mit Silvie Horch und Alexandra Zykunov herausgegeben. Die Autorinnen der Essays blicken hinter männliche Machtstrukturen, entlarven patriarchale Prägungen und zeigen Möglichkeiten auf, wie wir aus dem kapitalistischen System endlich ausbrechen können. Und genau darum ging’s auch in unserem Interview. Ein Gespräch, das Mut macht.

funk tank: Wie definieren Sie Feminismus für sich, angesichts der unterschiedlichen Interpretationen?

Emilia Roig: Es ist für mich eine Befreiungsbewegung, ein kollektives, aber auch individuelles Projekt mit dem Ziel, uns vom bedrückenden Patriarchat zu befreien.

Wann denken Sie, werden wir das geschafft haben?

Unser kapitalistisches System beruht auf Ungleichheit. Viele betrachten das als Fehler des Systems. Doch die Wahrheit ist, dass es genauso entworfen wurde und einwandfrei funktioniert. Die Beseitigung von Diskriminierung gestaltet sich schwierig, da sie für das Überleben des Systems essenziell ist. Ein tiefgreifender Paradigmenwechsel, der nicht auf Trennung, Kontrolle und Herrschaft basiert, ist daher dringend erforderlich. Der erste Schritt besteht darin, diese toxischen Dynamiken zu entlarven, um daraufhin eine neue Welt aufbauen und etablieren zu können. Dies ist das Ziel unserer Bücher – Menschen dazu zu bewegen, die Realität anzuerkennen. Wir müssen den Mut haben, Institutionen grundlegend und immer wieder in Frage zu stellen.

Sie sprechen von einer neuen Welt. Ist das eine Utopie oder kann sie tatsächlich Realität werden?

Jedes Leben, Ihres, meines, war einmal Utopie, bevor es Wirklichkeit wurde. Wir sollten nicht zu schnell etwas als unrealistisch abtun, nur weil es utopisch erscheint. Wir brauchen dieses revolutionäre Denken.

Zwei Jahre nach Ihrem ersten erfolgreichen Sammelband erscheint nun eine Fortsetzung. Was hat sich seither getan?

Nichts Positives. Die Bedrohung der Frauenrechte nimmt durch den wachsenden Einfluss populistischer und rechtsradikaler Kräfte in ganz Europa stetig zu. Das ist besorgniserregend, da alle Fortschritte der letzten Jahrzehnte in Gefahr sind.

Welche Passage im Buch hat Sie am meisten berührt?

Es wäre vermessen zu sagen, es sei nur eine. Alle Texte sind gleichermaßen wichtig und stark, allen voran der von Rebecca Maskos über Ableismus. Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen wird in unserer Gesellschaft oft ausgeblendet und ignoriert.

Buchcover "Unlearn Patriarchy 2" von Emilia Roig
© Ullstein

Wir sollten nicht zu schnell etwas als unrealistisch abtun, nur weil es utopisch erscheint. Wir brauchen dieses revolutionäre Denken.

Cover "Das Ende einer Ehe" von Emilia Roig
© Ullstein
Im Buch steht der Satz: „Patriarchat bedeutet auch, dass nicht nur Frauen diskriminiert werden.“ Welche Diskriminierungsformen sind noch Teil des Patriarchats, die uns im Alltag oft gar nicht bewusst sind?

Körpernormen, Erziehung, der Gender Pay Gap, aber auch Architektur, Mental Health und Medizin – überall wirkt das Patriarchat. Kein Bereich bleibt von der Macht der Männer unberührt. In der Medizin beispielsweise wird der männliche Körper als Standard betrachtet. Es ist erwiesen, dass die Schmerzen von Frauen und schwarzen Menschen weniger ernst genommen werden als die von Männern und weißen Menschen. Auch bei der Gestaltung von Städten überwiegt die männliche Perspektive.

Im Vorwort schreiben Sie: „Vielleicht sind wir endlich mal an einem Punkt in der Geschichte, an dem Frauen einfach gar nichts mehr müssen. Stattdessen sind jetzt endlich mal die Institutionen dran, und die Männer, in deren Hand die meiste Macht heute immer noch liegt.“ Denken Sie, dass diese Männer tatsächlich aktiv werden und sich freiwillig aus ihrer Machtposition herausbewegen?

Natürlich haben sie kein Interesse daran, etwas zu verändern. Dieser Satz ist vielmehr als ein Appell an Frauen zu verstehen, dass wir nicht dauernd uns selbst in Frage stellen und glauben, wir setzen uns noch nicht genug für den Feminismus ein.

Welche gesellschaftliche Zukunft wünschen Sie sich?

Ich hoffe auf eine Gesellschaft der Fürsorge und Liebe. Gegenwärtig hat Macht durch Kapital den höchsten Wert. Aber wir sehen auch, dass diese Welt so nicht mehr funktioniert. Wir sind am Ende der kapitalistischen Ordnung angekommen.

Portraitfoto Aktivistin, Politologin und Autorin Emilia Roig
© Mohamed Badarne

Emilia Roig, 40, wuchs in der Nähe von Paris auf und lebt in Berlin. Sie ist eine deutsch-französische Politikwissenschaftlerin, Aktivistin und Autorin. Europaweit setzt sie sich für Vielfalt, Feminismus, soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus ein. 2017 gründete sie das „Center for Intersectional Justice“. Sie veröffentlichte u.a. die Bücher „Why we matter – Das Ende der Unterdrückung“ und „Das Ende der Ehe – Für Eine Revolution der Liebe“.

Emilia Roig

Gewalt und Grenzen – Migrationsforscherin Judith Kohlenberger

Am weitläufigen Grenzareal von Nickelsdorf stehen vorwiegend flache Gebäude und Containerbüros. Der Sturm hat an diesem sonnigen Februartag quasi freie Fahrt, um Bäuche in die Wände der offenen, scheinbar gerade leeren Versorgungszelte zu blasen. Während ich im Auto auf Judith Kohlenberger, mehrfach preisgekrönte Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien warte, tauchen vor dem geistigen Auge Bilder aus den vergangenen Jahren auf. 2015 wurden hier täglich Tausende von Menschen versorgt, die vorwiegend vor dem Krieg in Syrien flüchteten. Ab dem Februar 2022 waren es zum Großteil Flüchtende vor dem Krieg in der Ukraine.
Mit Büchern wie Das Fluchtparadox (Kremayr & Scheriau) oder So schaffen wir das (mit Othmar Karas, edition a) entfacht Judith Kohlenberger Diskussionen, ebenso wie mit ihrem Podcast Aufnahmebereit. Ihre Analysen und Fragen stoßen laufend viele neue Türen auf. Aktuell steckt sie erneut knietief in der Forschung einer Perspektive, die uns alle betrifft. Im Sommer erscheinen zwei neue Bücher darüber.

„Entschuldigung, es hat doch etwas länger gedauert“, sagt sie, als sie die Autotür öffnet. Mich stört es nicht, ich hatte genügend Lesestoff mitgenommen, und der Grund für den Hauch einer Verspätung ist ein gutes Zeichen dafür, dass es zuvor gute Gespräche waren. Um mich in Judith Kohlenbergers üppig bestückten Kalender zu quetschen, führen wir das Interview während einer Autofahrt zum nächsten Termin. Zudem erschien es uns passend, das Gespräch an der Grenze von Nickelsdorf zu starten. Die Eindrücke von den vorangehenden Unterhaltungen sind noch frisch.
Wir verlassen sozusagen das Grenzareal. Um erneut nach Österreich zu gelangen, muss ich mich von einer Seitenstraße in die wartende Autoschlange einreihen. Wer nicht genau schaut, hält mich für eine ungeduldige Dränglerin. Ich winke entschuldigend und lächle beschwichtigend dem nächsten Autofahrer zu, werde prompt mit einem wütenden Blick bestraft, und er drückt aufs Gas. Wie passend zu den Themen, die wir danach besprechen werden.

funk tank: Worum geht es in dem Forschungsprojekt, an dem du gerade arbeitest?

Judith Kohlenberger: Der Arbeitstitel lautet „Gewalt und Grenzen“. Es geht darum, wie das, was an unseren Grenzen passiert, die Gesellschaft nicht unberührt lässt. Auf vielfache Art.

Worauf basieren deine Recherchen?

Ich führe Interviews mit unterschiedlichen Ebenen der Aufnahmegesellschaft, inwiefern die Grenze oder die indirekte Erfahrung von Gewalt, die an der Grenze passiert, also die Zeugenschaft davon, sie verändert. Ich habe mit Flüchtlingshelfer*innen in Österreich, Deutschland, auf Lesbos und entlang der Balkanroute geredet und mit Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Supervisor*innen, die vor allem Flüchtlingshelfer*innen betreuen. Ich habe auch Grundwehrdiener, die in Kittsee oder Andau im Einsatz waren, getroffen – viele junge Burschen, die von ihrem Einsatz eine ganz andere Vorstellung hatten. Die nehmen auch etwas mit davon.

Wie mit Geflüchteten verfahren wird, hat eine Signalwirkung.

Mit wem hast du jetzt gerade gesprochen?

Mit den Grenzpolizist*innen in Nickelsdorf. Eine gute Basis für meine Arbeit hier ist, dass ich aus dieser Region komme. Ich bin in Wallern aufgewachsen, in der Nähe der Brücke von Andau, ein historisch wichtiger Ort. Ich wurde 1986, zur Zeit des Kalten Krieges, geboren, kannte noch den Eisernen Vorhang und kann mich an stundenlange Wartezeiten und Grenzstaus erinnern. Mit dem Beitritt Ungarns zum Schengener Abkommen und später zur EU war die Grenze nicht mehr spürbar. 2015 hat sie sich wieder stärker bemerkbar gemacht. Ich wollte schauen: Was bedeutet das hier für die tägliche Arbeit der Polizei?
Was ich aus allen Gesprächen mitgenommen habe: Die Sinnhaftigkeit der Aufgaben, dass beispielsweise gewissenhaft kontrolliert wird, ist für alle klar. Kommt es zu vielen Aufgriffen, wird die Arbeit dennoch als sehr belastend, als ein nie versiegender Strom erlebt. Hat man – zu Spitzenzeiten – etwa 100 Asylwerber*innen abgearbeitet, kommt der 101.
Den Grenzpolizist*innen ist sehr bewusst: Solange die Ursachen nicht angegangen werden, kann man noch so viele Zäune bauen, die Leute werden trotzdem kommen. Das hat mich beeindruckt, denn das belegt auch die Migrationsforschung. Ob das nun Trump ist mit build the wall oder ob es sich um Pläne in Europa handelt – nur die Politik tut so, als könnten Zäune Probleme lösen, die Menschen kämen dann über andere Wege.

Wie erleben die Grenzpolizist*innen die Migrant*innen?

Sehr differenziert. „Es gibt solche und solche“, sagen sie. Es kommen verarmte Menschen mit den letzten Mitteln, die sie haben, und Menschen, die vermögend sind. Manche seien kooperativ, manche präpotent. Sie begegnen – wenig überraschend – der gesamten Bandbreite der Menschheit. Betont wurde stets die Wichtigkeit der Kontrolle. Das ist auch ein großes Bedürfnis der Bevölkerung: Wenn Zuwanderung, dann in geordneter Form. Aber: Wir haben zu viele irreguläre und kaum reguläre Wege für Zuwanderung. Meine Interviews zeigten klar: Die Erkenntnisse aus der Migrationsforschung decken sich mit jenen aus der Praxis.

Was willst du konkret herausfinden?

Es geht darum zu schauen, wie Gewalt an der Grenze – physische oder bürokratische –, die den Schutz suchenden Migrant*innen angetan wird, peu à peu auch eine Gesellschaft im Inneren verändert. Wir verstehen Fluchtforschung als Demokratieforschung, weil Flucht nach Europa die Grundfesten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie betrifft. Meine These ist, dass die Bevölkerung in Ländern wie Ungarn oder Griechenland sukzessive daran gewöhnt wird, dass Rechtsbrüche nicht geahndet werden und dass Asylrecht laufend gebrochen wird – ohne juristische Folgen. Es gibt Videobeweise für Pushbacks der griechischen Küstenwache – ohne Konsequenzen. Das untergräbt die Grundfesten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wie mit Geflüchteten verfahren wird, hat eine Signalwirkung. Sie haben die Funktion eines Brandmelders: Obacht, da passiert etwas, das sich weiter fortsetzt, das weiter in die Gesellschaft hineinwirkt. Geflüchtete sind sozusagen der „weakest link“, das schwächste Glied, woran sich negative Entwicklungen als erstes zeigen.

Portraitfoto Judith Kohlenberger
© Christian Lendl

Wir beobachten eine immer stärker werdende Unverzeihlichkeit und Unversöhnlichkeit in der politischen Debatte. Man unterstellt dem Gegenüber zuerst einmal das Schlechtestmögliche anstatt des Bestmöglichen.

Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft „im Inneren“ aus?

Einerseits geht das Vertrauen in den Rechtsstaat Stück für Stück verloren, andererseits passiert eine Verrohung der Gesellschaft. Ein Gerichtsmediziner in Griechenland hat mir berichtet, dass es beim Grenzfluss Evros nahezu normal ist, dass dort menschliche Überreste ans Flussufer gespült werden, wo auch Kinder spielen. Oder: Man sitzt in einer lauen Sommernacht auf Lesbos auf der Terrasse und hört die Schreie von zurückgepushten Migrant*innen. Das macht natürlich etwas mit einer Grenzregion – die Bewohner*innen werden damit weitgehend alleine gelassen. Lesbos hat vorwiegend von Tourismus gelebt, das wird zunehmend schwieriger.
Das Problem ist: Es wird eine Seite gegen die andere ausgespielt. Der Frust der griechischen Bevölkerung wird auf die Flüchtlinge gelenkt. Das ist am einfachsten, darauf ist das System ausgelegt. Aber natürlich hätten die Flüchtlinge lieber andere Wege, als mit dem Schlauchboot zu kommen.

Buchcover "So schaffen wir das" von Judith Kohlenberger und Othmar Karas
© edition a
Wir hören von Remigrationsplänen, und ich erschrecke auch darüber, wie der Alltagsrassismus bei jungen Leuten zunimmt. Was ist los gerade?

Es brechen die Dämme, da ist eine neue gesellschaftliche Härte. Schon in den letzten Jahren, vor allem seit 2015, hat sich innerhalb der europäischen Gesellschaft etwas verhärtet, und dann kam auch noch die Pandemie. Wir beobachten eine immer stärker werdende Unverzeihlichkeit und Unversöhnlichkeit in der politischen Debatte. Man unterstellt dem Gegenüber zuerst einmal das Schlechtestmögliche anstatt des Bestmöglichen.

… wie der Autofahrer zuvor an der Grenze, dem ich freundlich zu verstehen geben wollte, dass ich nicht anders kann, als mich seitlich in die Autoschlange einzureihen.

Das Schwierigste ist, wenn man miteinander nicht mehr in irgendeine Form des Austauschs tritt. Da verhärtet sich etwas, absurderweise sogar innerhalb von linken Bewegungen. Die Verrohung passiert auch in Institutionen. AMS-Berater*innen und Mitarbeiter*innen von Behörden müssen immer mehr Deeskalationstrainings machen, weil das Aggressionspotenzial der Bevölkerung steigt. Es gibt Angriffe auf Rettungskräfte – nämlich von Patient*innen, die ein solch hohes Anspruchsdenken haben, dass sie „zuerst“ gerettet werden wollen. Selbst auf Obdachlose wird eingestochen … Das sind alles Symptome, und ich glaube, dass es einen Konnex dazu gibt, was an der Grenze passiert. Die Journalistin Franziska Grillmeier spricht von einem „Gürtel der Gewalt“. Es gibt seit 2015 zigtausende Grenztote, die den Kontinent säumen, natürlich hat das Auswirkungen auf das Innere der Gesellschaft.
Es macht auch einen Unterschied, wie man über diese Menschen redet. Vielfach wird eine dämonisierende Sprache verwendet, was nicht folgenlos bleibt. Wann übersetzt sich die gewaltvolle Sprache in eine gewaltvolle Tat? Das ist ein Einfallstor.

Was können, was müssen wir tun?

Die Zugewandtheit der Abhärtung und der Abschottung vorziehen. Es geht darum, sich immer die Menschlichkeit des Anderen zu vergegenwärtigen. Das ist das Problem an den sozialen Medien: Wenn du den anderen nicht mehr siehst, eskalieren die Dinge schneller.
Ich fand es sehr schön, was die Grenzpolizist*innen gesagt haben, nämlich: „Was uns alle trägt, ist, dass wir zusammen gehören. Wir sind eine Gemeinschaft.“
Was wir jedenfalls positiv sehen können: Die österreichischen Grenzpolizist*innen kennen das Fremdenrecht, und ich würde behaupten, außer in Ausnahmefällen passieren hierzulande keine Pushbacks. Nach der langen Reise, die oft Flüchtlinge hinter sich haben, ist Österreich das erste Land, in dem der Rechtsstaat zur Durchsetzung gebracht wird. In puncto Rechtsstaatlichkeit, auch und gerade im Asylbereich, könnten wir selbstbewusst als Vorbild auftreten.

Judith Kohlenberger und Viktoria Kery-Erdelyi
Judith Kohlenberger beim Auto-Interview mit Redakteurin Viktória Kery-Erdélyi © Viktória Kery-Erdélyi

Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin mit den Forschungsschwerpunkten Fluchtmigration und Humankapital (vor allem Bildung und Gesundheit), Integration und Zugehörigkeit, Frauen und Flucht sowie kulturelle Krisennarrative. Die mehrfach preisgekrönte Forscherin hat zahlreiche Sachbücher veröffentlicht und hostet den Podcast „Aufnahmebereit“, ein Wissenschaftsvermittlungsprojekt, das sich Ankommenden und Aufnehmenden in der modernen Migrationsgesellschaft widmet.

Judith Kohlenberger

Eigensinnig Wien Toni Woldrich Interview

Eigentlich wollte ich Toni Woldrich von „eigensinnig“ noch kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr treffen, um mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Per Mail kam dann eine sehr sympathische Antwort von ihm, an die ich mich sicher noch im kommenden Jahreswechsel-Stress gerne zurückerinnern werde und die mich ungemein entschleunigt hat. „Vor Weihnachten muss nicht alles fertig sein, daher schlage ich ein Treffen im Jänner vor.“ Eine Lebensweisheit, die man sich tätowieren lassen könnte, damit man sie nie vergisst.

Angekommen am Ulrichsplatz im 7. Bezirk führt mich Toni Woldrich durch seine Räume. Hier befinden sich sowohl Showroom und Store, als auch Atelier, Fotostudio, Büro und die hauseigene Schneiderei. Für andere ist der Jänner ja noch ein ruhiges Monat, wo langsam alle wieder ins Office zurückkehren. In der Modebranche jedoch ist der Jahresanfang schon mitten im Geschehen. Denn obwohl erst die Frühjahrskollektion vor der Türe steht, wird im Jänner schon längst an weiteren Kollektionen gearbeitet und der Verkauf nach Weihnachten boomt sowieso. Während Woldrich mir eine Kaffeetasse abwäscht, erzählt er mir, dass es bei „eigensinnig“ etwas anders abläuft als bei den meisten Marken, denn es gibt keine klassischen, saisonalen Kollektionen. Je nach Jahreszeit unterscheiden sich vor allem die Stoffe, manche Kreationen sind immer erhältlich. Die unkonventionelle Art wird uns im Laufe des Interviews noch oft begleiten …

funk tank: Ihr Label „eigensinnig wien“ existiert seit 2012 und steht – wie der Name schon andeutet – für außergewöhnliche Designermode. Was macht die Marke so speziell? Und wer ist die Zielgruppe?

Toni Woldrich: Wir stehen gerne zwischen den Stühlen und lieben die Paradoxie. Eigensinn kann man positiv und negativ werten, genauso wie die Farbe Schwarz, die bei uns dominiert. Schwarz kann Melancholie oder Poesie bedeuten, Arroganz oder Eleganz, Understatement sein, aber auch bedrohlich wirken. Wir lassen uns nicht so sehr in Schubladen einordnen. In diesem „Zwischen“ fühle ich mich sehr wohl. Es ist etwas total Produktives und gibt uns unheimlich viel Freiheit. Ohne Schublade müssen wir uns nicht rechtfertigen und können tun, was wir wollen. Wenn jemand kommt und sagt: „Das passt ja überhaupt nicht, weil es asymmetrisch oder komisch ist“, dann sage ich: „Ja, weil es eben auch nicht passen muss.“

Unsere Mode wird von Künstler*innen bis zu Bautechniker*innen getragen – geht man nur von den Berufen aus. Alle haben einen Eigensinn gemeinsam, nämlich den Anspruch auf Einzigartigkeit und Qualität. Es sind Personen, die eine gemeinsame Sicht auf eine spezielle Lebensweise haben. Wir haben Kund*innen aus der ganzen Welt.

Ist Mode Kunst?

Wir haben schon einen künstlerischen Anspruch an unsere Mode, aber trotzdem sind die Stücke keine freien Kunstwerke, denn schlussendlich machen wir produktbezogenes Design für Menschen, die das am Ende des Tages tragen. Schneiderhandwerk bedeutet auch, dass die Teile gut sitzen müssen und eine Passform haben. Wir bewegen uns also schon zwischen dem freien Kunstwerk und dem produktbezogenen Design. Manchmal schlägt das Pendel in die eine Richtung, manchmal in die andere. Genau genommen ist es aber Design, nicht Kunst.

Wer's gern noch individueller hat, für den bieten Sie neben dem Label auch Mode nach Maß an. Gibt es modetechnische Trends, die Sie nicht erfüllen wollen?

Was wir auf gar keinen Fall machen, ist kopieren. Wir haben immer wieder solche Anfragen, aber die lehnen wir ab. Vor allem, wenn es von anderen Designer*innen ist, speziell aus Österreich. Schwarz ist zeitlos und entgegen dem Trend. Insofern passen Hypes nicht wirklich zu uns.

Wir lieben es, etwas Spezielles zu kreieren. Es kam beispielsweise 2021 eine Anfrage einer Schweizer Freelance-Nonne, die einen eigensinnigen Habit wollte. Schwester Veronika ist dann nach Wien geflogen, und wir haben für sie einen dreiteiligen Habit entworfen – mit einer Haremshose, einer asymmetrischen Bluse und einem dekonstruierten Schleier aus schwerem belgischen Leinen. Der ist jetzt ihre Uniform. Oder unsere Arbeit für den Direktor vom Bruckner Orchester Linz, Norbert Trawöger. Für ihn haben wir zum heurigen Brucknerjahr einen Anzug mit dem Profil von Anton Bruckner entworfen, das sich vom Kragen über die Rückseite bis vorne über die Hose zieht. Wenn wir solche Sachen machen können, ist das natürlich eine schöne Herausforderung.

Wir stehen gerne zwischen den Stühlen und lieben die Paradoxie.

Wie entsteht dann eine solche Kreation konkret? Und wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

Das ist individuell, aber ich nehme mir immer Zeit, eine Person kennenzulernen, bevor ich mit dem Design beginne. Manchmal kommen mir schon die ersten Ideen während des Gesprächs, danach ist mein ganzes Team involviert, also die Schnitttechnikerin, die Schneiderin etc. Wichtig ist, sich in die Personen hineinversetzen zu können. Manche Kund*innen haben schon konkrete Vorstellungen, andere lassen mich tun. Am schönsten ist es natürlich, wenn man eine Carte Blanche hat, die Kund*innen einem vertrauen und ich uneingeschränkt entwerfen kann.

Das stellt man sich vielleicht anders vor, aber der Arbeitsalltag ist wie in anderen Kreativ-Bereichen auch: 70 Prozent bestehen aus organisatorischer und verwaltungstechnischer Arbeit, und nur ein kleiner Bereich ist der kreative Part.

Noch einmal kurz zurück zur Maßschneiderei. Wie kann man sich das preislich vorstellen? Kommen die Leute und haben ein Budgetlimit, oder wie gehen Sie da vor?

Natürlich sind die Kosten auch bei uns Thema, und wir haben nicht nur Kund*innen, wo Geld keine Rolle spielt (lacht). Zuerst sprechen wir einfach miteinander, und dann taste ich mich voran. Es kommt immer darauf an, was das Gegenüber möchte. Es macht einen Unterschied, ob es ein „klassischer“ Anzug oder ein sehr extravagantes Modell mit vielen Stunden Kreation vorab wird.

Stichwort Nachhaltigkeit. Mit welchen Materialien arbeiten Sie, wo und wie produzieren Sie?

Wir arbeiten mit natürlichen Materialien wie Leinen, Baumwolle, Seide, Wolle und Kaschmir. Das Leinen beziehe ich aus Belgien, und ich habe Lieferant*innen aus Italien und Frankreich, eigentlich kommt fast alles aus der EU, bis auf die japanische Baumwolle. Natürlich sind mir Qualität und Nachhaltigkeit wichtig. Auch das Design vom Stoff und Material spielt eine wichtige Rolle, um danach eigensinnige Mode machen zu können.   

Designer Toni Woldrich und Schneidermeisterin Tatiana von eigensinnig Wien
© Vinh-Phuoc Nguyen
Wie kamen Sie zum Modedesign und was hat dazu geführt, ein eigenes Label samt Store zu gründen und eröffnen?

Genauso wie die Farbe Schwarz wandelbar ist, so sehe ich mich eigentlich auch. Nach der Matura wollte ich unbedingt Steuerberater werden, dann habe ich ein Studium an der WU angefangen, ein Praktikum gemacht, und es war schnell klar, dass ich sicher kein Steuerberater werden will. Danach bin ich auf die TU gewechselt, weil mich Architektur interessiert hat – genau genommen Raumplanung, auch wegen der Soziologie. Zu der Zeit habe ich bei einer damals kleinen Baufirma begonnen – im Office-Management – und bin dort rasch aufgestiegen. Das Kreative hat mir aber gefehlt, und daher habe ich begonnen zu fotografieren. Ich habe mir einfach in der Westbahnstraße eine Leica gekauft und mit Street Photography begonnen. Als ich meine Fotos dann ausstellen wollte, wollte mich keine Wiener Galerie – logischerweise. Zufälligerweise stand damals in der Westbahnstraße ein Gebäude vor dem Abriss für ein Jahr lang leer, und ich habe es einfach angemietet und hatte plötzlich die Schlüssel zu 1000 Quadratmeter Nutzfläche. Dort haben sich andere Kreative eingemietet, und so bin ich in diese Welt eingetaucht. Den Job in der Baufirma habe ich gekündigt.

Kasimir Malewitsch hat einmal gesagt: „Anfang gut, alles gut.“ Das beschreibt das alles perfekt. Die Themen Leidenschaft und Mut spielten da einfach mit. Damals war ich jünger und mutiger. Heute muss ich mich manchmal wieder daran erinnern, dass es sich auszahlt, sich nicht immer zu viel Gedanken zu machen und einfach zu tun ...

Wie, wovon und von wem lassen Sie sich inspirieren?

Es gibt nichts, was mich nicht inspiriert, wenn ich offen dafür bin. Ein Gespräch mit einer Person, der ich auf der Straße begegne, eine Musik, die ich höre, ein Buch, das ich lese, Kleinigkeiten, die ich irgendwo auffange. Im Kopf bin ich eigentlich ständig am Kreieren. Und irgendwann kommt es dann aufs Papier. Zum Beispiel bin ich unlängst am Rücken am Teppich gelegen und habe Heavy Metal gehört. Das tue ich selten, aber es hat grad „Unsainted“ von Slipknot gespielt. Ich hatte schon den ganzen Tag irgendwas mit einem Herrenmantel im Kopf. Während des Songs sind mir die Ideen zum Mantel gekommen, und ich habe das Lied in Dauerschleife gehört und eine Skizze gezeichnet. Vielleicht werde ich den Mantel dann auch wirklich „Unsainted“ nennen, wenn ich ihn zur Herbst-Winter-Kollektion herausbringe.

Was kann, darf und muss Mode?

Alles, außer Farbe (lacht).

In der High Fashion sind große Größen leider immer noch nicht selbstverständlich, am Catwalk namhafter Designer*innen zwar präsenter als noch vor ein paar Jahren, aber dennoch seltener als gedacht. Und das, obwohl Frauen im deutschsprachigen Raum durchschnittlich Größe 42/44 tragen. Da wird oft von „Plus-Size“ geredet, was eigentlich als „normal“ gelten sollte. Wie sehen Sie diese Entwicklung und Einordnung bzw. Beurteilung?

Den allgemeinen Trend kenne ich nicht, aber wir haben Mode von Größe XXS bis Größe XXXL/ XXXXL und Maßanfertigungen. Unabhängig von Figur und Alter sollte jede Person eigensinnig sein können. Wir sind ja neben der Maßschneiderei auch Änderungsschneiderei, und was nicht passt, wird passend gemacht.

Mode von Toni Woldrich und eigensinnig Wien
© Toni Woldrich
Model-Shows wie „Germany's Next Topmodel“ und diverse Blogger*innen-Accounts schüren diesen Schönheitswahn ja auch. Schauen Sie solche Shows und tangiert Sie Social Media?

Ich glaube, ich habe Germany's Next Topmodel am Anfang einmal angeschaut und dann nie wieder. Es geht da ja nicht um Echtheit, und das alles ist reine Inszenierung – eine Person wird also zu einem Menschen gemacht, wie er oder sie sein soll. Das passt gar nicht zum Eigensinn und zu meiner Ideologie. Auch Social Media tangiert mich nicht wirklich.

Was raten Sie einer jungen Designerin/einem jungen Designer, um erfolgreich in der Modebranche bestehen zu können?

Ich glaube, man sollte einfach dem folgen, wer man ist und was man machen möchte und damit nicht aufhören, nicht zurückstecken, nicht beim geringsten Widerstand gleich Nein sagen und immer den Sinn im Tun sehen. Manchmal tut man eben Sinnloses, das gehört dazu. Mut bedeutet auch, abgetretene Pfade zu verlassen und dazu zu stehen. „Wege entstehen beim Gehen“, da halte ich mich an Franz Kafka

Toni Woldrich ist Eigentümer und Designer vom Wiener Modelabel „eigensinnig“. Der Sitz im 7. Bezirk vereint Designerlabel und Modegeschäft, Maßschneiderei und Änderungsschneiderei sowie Kreativstudio und Experimentier-Werkstatt. Die Avantgarde Mode in Schwarz ist für Individualist*innen, die sich ausdrücken wollen und Wert auf Qualität legen.

eigensinnig Wien

Jannis Niewöhner Stella Ein Leben

„Ihr seid nicht verantwortlich dafür, was geschah, aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
Dieser Satz erscheint im Abspann vom neuen Kinofilm „Stella. Ein Leben.“ (Filmstart – Deutschland: 18. Jänner 2024, Österreich: 16. Februar 2024). Er stammt von einem Menschen, der das Konzentrationslager überlebte.
Einen Tag später erzählt mir meine Tochter, dass sie ein mit Bleistift gezeichnetes Hakenkreuz auf einer Schulbank in der Klasse entdeckte. Wegradieren ist zu wenig, besprechen wir, und ich denke an die Worte im Abspann – von „Stella“, den Kilian Riedhof nach Stella Goldschlags wahrer Geschichte auf die Leinwand bringt. Paula Beer verkörpert sie und bringt sie so nahe, dass man beinahe ihren Herzschlag hört.
Stella ist gerade einmal volljährig, als sie beginnt, mit ihrer Big Band aufzutreten. Sie ist schön, ihre Ausstrahlung ein Feuerwerk, sie träumt von einer Karriere in den USA. Wenige Jahre später trägt sie einen Judenstern, und der Kampf ums Überleben bringt das Dunkelste aus ihr hervor: Stella Goldschlag wird „Greiferin“, sie verrät Juden und Jüdinnen, sogar einstige Freund*innen. An ihrer Seite: Rolf Isaaksohn, ebenso schön und skrupellos in seinem Tun. „Rolf geht über Leichen, wenn es sein muss“, zitierte Der Spiegel seine eigene Mutter. Ihn spielt Jannis Niewöhner mit solch beeindruckender Leichtigkeit, dass man als Zuschauer*in ständig über die für Rolf weitgehend zu Unrecht empfundene Sympathie stolpert. Seit seiner Jugend steht Jannis Niewöhner vor der Kamera, seine Laufbahn ist ein spektakulärer Ritt durch alle Genres, eine Vielzahl an Preisen säumen seinen Weg (siehe Bio unten). Wir trafen ihn zum Kinostart von „Stella. Ein Leben.“ …

funk tank: Ich werde noch lange brauchen, um den Film zu verarbeiten. Er erschüttert sehr tief und macht filmisch sozusagen eine neue Tür auf.

Jannis Niewöhner: Ich habe ihn selbst das erste Mal bei einer Pressevorführung in München gesehen und musste danach drei Stunden durch die Stadt gehen, um ihn zu verarbeiten. Das habe ich selten bei Filmen, bei denen ich selbst dabei bin.

Hattest du Bedenken, die Rolle zu spielen – oder überhaupt: den Film?

Ich habe von Anfang an sehr darauf vertrauen können, dass die richtige Absicht da war: Nämlich zu erzählen, wohin der Antisemitismus führen kann. Das hat es mir leichter gemacht, zu entscheiden, ob ich in die Rolle von jemandem schlüpfen will, der kaum Ängste hat, Schreckliches und noch Schrecklicheres zu tun. Rolf tut wirklich alles, um sich nicht in eine Opferrolle begeben zu müssen.
Diesen Antrieb und die Spielwut, die er sich zu eigen macht, um so viel aushalten zu können, fand ich sehr spannend. Ich hatte große Lust auf diesen Charakter.

Wie fandest du in die Rolle hinein?

Wir hatten vorab ein bisschen Zeit zusammen zu proben und konnten so auch etwas über die Dynamik zwischen Stella und Rolf herausfinden. Viele Dinge haben dabei eine Rolle gespielt: die Hektik, in der alles stattfand, der Schlafmangel, und sie haben auch wahnsinnig viele Drogen genommen … Ich habe alles getan, was möglich war, um ein Gefühl für diese Zeit zu bekommen. Die größte Hilfe war Peter Wydens Buch über Stella (Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte, Verlag Steidl, Anm.). Er hat ganz detailliert ihren und auch den Weg vieler ihrer Kameradinnen recherchiert. Über Rolf gibt es wenige Informationen, aber einige sehr prägnante. Das Buch gibt sehr gut jenes Lebensgefühl wieder, in dem das alles stattfand.

Wie hast du die Dreharbeiten erlebt?

Es war eine Mischung aus totaler Spielfreude und absolutem Horror. Die Figuren sind sehr lebendig, weil sie so um das Leben ringen. Die Lebendigkeit darzustellen hat Freude gemacht, das war eine Energie, die ich mochte. Aber die ganze Zeit mit dem Grauen konfrontiert zu sein, hat angestrengt und auch etwas mit einem gemacht.

Das Schreckliche im Film erträgt man normalerweise leichter, wenn man sich vor Augen führt, dass es fiktiv ist. Bei „Stella“ weiß man: Das ist real und fast dokumentarisch. Und im allerschlimmsten Fall etwas, das sich wiederholen könnte. Wie ging es dir damit?

Bei jedem neuen Set, zu das wir kamen, bei jedem neuen Motiv und jeder Szenerie tauchte ständig der Gedanke auf, dass das wirklich passiert ist. Das bringt auch ein besonderes Verantwortungsgefühl mit sich: Dieser Film ist auch dazu da, einen Teil beizutragen, und über diese Zeit aufzuklären, damit das nicht wieder passiert.
Obwohl man den Eindruck hat, dass viel Bemühung da ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, vergessen und leugnen viele den Holocaust. Erst im Vorjahr gab es beispielsweise in Holland eine Studie, die aufzeigte, dass rund ein Viertel der Jungen nicht an den Holocaust glaubt oder nicht an seine extreme Form (Studie der Claims Conference, Anm.). Das ist sehr alarmierend.

Was können und müssen wir tun?

Wir alle müssen uns überlegen, welche Art von Aktivismus wir mit voller Kraft jeweils gegen den Antisemitismus ausüben können. Jeder Mensch hat unterschiedliche Stärken. Für mich ist es mit Menschen, an deren Talente und Verantwortungsbewusstsein ich glaube, Filme zu machen. Ich könnte mich wahrscheinlich nicht auf die Bühne stellen und zwei Stunden gegen den Antisemitismus reden, aber ich kann mit dem, was ich gelernt habe, mit dem Schauspielen, meinen Teil beitragen. Aktivismus hat viele Formen, jeder kann für sich das finden, was am besten funktioniert.

Filmstill Stella. Ein Film.
Film Still "Stella. Ein Film." © Majestic, Jürgen Olczyk
Du bist in einer künstlerischen Familie aufgewachsen und schon jung vor der Kamera gestanden. Was hält dich dabei?

Die Kraft des Films. Ich liebe es, dass ich immer wieder im Kino oder vor dem Fernseher sitze und etwas sehe, das mich mal Tage, mal wochenlang beschäftigt und manchmal mein Leben verändert. Ich liebe den Perspektivenwechsel, der mit Filmen gelingt – als Zuschauer und als Schauspieler. Indem man sich in Figuren hineinversetzt, schafft man eine Nachvollziehbarkeit, warum Dinge passieren. Das ist bei „Stella“ ganz extrem. Ihre Taten werden nicht verharmlost oder kleiner gemacht, der Film bietet die Möglichkeit zu verstehen, wie Menschen sind. Das ist wichtig für die Empathie und auch für den Umgang mit bösen Kräften im Leben. Eine Figur zu spielen, ist eine intensive Erfahrung. Ich darf sie nicht bewerten, aber ich muss versuchen, sie zu verstehen.

Fallen dir spontan Filme ein, die dich nachhaltig geprägt haben?

Da gibt es viele … „Der Junge muss an die frische Luft“ hat mir stark die Bedeutung von Vergangenheit, Herkunft und Heimat, von Familie und gemeinsamer Zeit, die begrenzt ist, vor Augen geführt. Ein anderes Beispiel ist „Anatomie eines Falls“, der die Unausweichlichkeit der Probleme, die es immer in Beziehungen zwischen zwei Menschen gibt, und die Unausweichlichkeit dessen, dass die Liebe auch mal schwindet, zeigt. Es sind Themen, die man aus dem eigenen Leben kennt, aber man lässt sich mit einem Film anders auf sie ein.

„Stella“ zeigt sehr gut, wie komplex die Dinge sind, und wie wenig man als Außenstehende/r überhaupt urteilen kann …

… und dass wir zwei völlig unterschiedliche Gefühle derselben Person gegenüber haben können. Eine der stärksten Szenen im Film ist die am Schluss im Gerichtssaal: Stella wird schuldig gesprochen und weint. Sie tut mir leid. Ich sehe das kleine Mädchen vor mir und möchte sie in den Arm nehmen. Dann wird sie freigesprochen, lacht und freut sich. Und ich sehe nur noch eine Fratze, nämlich diesen Menschen, der sie geworden ist, und ich will nur weg von ihr. Der Film zeigt besonders gut die Widersprüchlichkeit von Gefühlen einem Menschen gegenüber.

Wir alle müssen uns überlegen, welche Art von Aktivismus wir mit voller Kraft jeweils gegen den Antisemitismus ausüben können. [...] Aktivismus hat viele Formen, jeder kann für sich das finden, was am besten funktioniert.

Filmstill Stella. Ein Leben.
© Majestic, Jürgen Olczyk
Zum Abschluss wieder zu dir: Wie definierst du Erfolg?

Etwas gefunden zu haben, das einen glücklich macht.

Was macht dich traurig?

All die schlimmen Dinge, die man nicht verhindern kann.

Worüber freust du dich?

Ich freue mich … (überlegt lange) … über Sandra Hüller, die kürzlich bei ihrer Rede, als sie den Europäischen Filmpreis gewonnen hat, gesagt hat, dass sich jetzt bitte alle Frieden vorstellen mögen. Und dann hat sie kurz gewartet und gesagt: „Macht weiter damit, wenn ihr wollt.“ Das finde ich sehr schön: Aus der Vorstellung heraus entstehen Dinge, die verändern.

Jannis Niewöhner wurde 1992 in Krefeld, Deutschland, geboren. Mit 10 Jahren stand er das erste Mal vor der Kamera. Seinen Durchbruch hatte er 2015 mit „Vier Könige“ (Regie: Therese von Eltz), im selben Jahr wurde er bei der Berlinale als „European Shooting Star“ gefeiert. Für seine darstellerische Arbeit in „Jugend ohne Gott“ (Alain Gsponer, 2018) und „Jonathan“ (Piotr Lewandowski) erhält er 2017 den Bayrischen Filmpreis als bester Nachwuchsschauspieler. Mehrere Nominierungen und Preise folgen. Weitere Hauptrollen spielte er in „Narziss & Goldmund“ (Stefan Ruzowitzky) und in „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ (Detlev Buck, 2020). Außerdem aktuell: Netflix-Serie „Munich – the Edge of War“ und der RTL+-Sechsteiler „Hagen“. 

Jannis Niewöhner – Instagram

„Stella. Ein Leben.“ – mit Paula Beer, Jannis Niewöhner, Katja Riemann, Lukas Miko, Joel Basman, Damian Hardung, Bekim Latifi, Gerdy Zint u.v.m.
Regie: Kilian Riedhof
Drehbuch: Marc Blöbaum, Jan Braren & Kilian Riedhof
Filmstart – Deutschland: 18. Jänner 2024, Österreich: 16. Februar 2024.

Stella. Ein Leben. – Filmverleih

Christof Spörk Eiertanz

Spaß und Ernst liegen ja bekanntlich nahe beieinander. Kabarettist Christof Spörk beherrscht beide Disziplinen: Er ist Profi-Humorist mit Tiefgang. Sein Programm „Eiertanz“ führt ihn ab Jänner durch Österreich, Italien, Deutschland und die Schweiz. Inhaltlich geht’s dieses Mal um uns, unser kompliziertes Wesen sowie das allgemeine „Herumeiern“, privat, beruflich, in der Gesellschaft und Politik. Im Interview mit funk tank erzählt der 51-Jährige von seiner Karriere und seinen Auszeiten, seinem Zugang zu Humor und Musik und verrät, warum es uns allen gut täte, nicht jeder Horrornachricht nachzujagen …

funk tank: Verehrter Herr Spörk, in Ihrem neuen Programm „Eiertanz“ geht es unter anderem um das menschliche Zweifeln, Zögern und „Herumeiern“. Woran könnte das liegen? Und wie schafft man es, einfach mal lässig und locker zu sein? Gibt es da schon eine Lösung und somit vielleicht die Rettung unser aller Leben?

Christof Spörk: Mein Programm gibt keine Antwort. Dafür bin ich zu lange auf der Welt, als dass ich mir so etwas zutrauen würde. In einem bin ich mir aber ziemlich sicher: Wir lassen uns zu sehr ablenken und laufen zunehmend den falschen Göttern nach. Und das, obwohl wir ja angeblich keine mehr haben.

Worauf darf sich das Publikum sonst noch freuen, wenn Sie Ihr aktuelles Programm präsentieren – zum Beispiel am 30. Jänner und 22. März im Wiener Stadtsaal?

Auf einen hoffentlich unerwartet neuen Spörk, der einen kurz in eine andere Welt entführt.

Der Begriff „Multitalent“ wird ja oft inflationär verwendet. Bei Ihnen ist er aber wirklich passend. Sie sind Politikwissenschaftler, Kuba-Experte, Journalist, Musiker, Kabarettist ... und 4-facher Vater. Habe ich etwas vergessen? Beschreiben Sie sich bitte kurz selbst ...

Also das mit der vierfachen Vaterschaft hat relativ wenig mit Talent zu tun. Eher mit Glück. Ansonsten endet vermutlich als „Multitalent“, wer sich nie ganz entscheiden konnte. Mich interessiert einfach vieles und ich liebe die Abwechslung. Weniger freundliche Menschen haben mich auch schon als „unstet“ beschrieben. Dann nehme ich lieber das „Multitalent“.

Humor hat viel mit Überraschung und ungewöhnlichen Kombinationen zu tun. Und noch mehr mit gemeinsamer Kultur.

Sie wurden u.a. mit dem „Österreichischen Kabarettpreis“ und dem „Salzburger Stier“ ausgezeichnet. Wie wichtig sind Ihnen Preise? Sind Sie eitel? Und wird man mit den Jahren und der Erfahrung bescheidener oder trifft das Gegenteil zu?

Es wäre schon gelogen, würde ich behaupten, diese Preise nicht gerne bekommen zu haben. Auf jeden Fall waren es Bestätigungen, die mir als spätberufenen Solokabarettisten einen guten Start ermöglicht haben.

Und ja, ich glaube, ich war schon einmal eitler. Wenn ich heute in der Wiener Innenstadt in eine Auslage schaue, dann wirklich fast nur mehr, um die ausgestellte Ware zu betrachten. Ehrenwort. Das war früher sicher anders.

Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Stücke? Wer oder was beeinflusst Sie?

Ich beobachte. Ich lese. Und es gibt für alle Sketches oder Lieder immer sowas wie einen für mich wichtigen Anlass. Zumeist etwas, was mich stört. Oder auch etwas, was mir besonders wichtig ist. Pointen dienen da eher als Appetizer für ansonsten schwer Verdauliches.

Betrachtet man das Weltgeschehen, so schaut es gesellschaftlich, politisch und auch umwelttechnisch nicht gerade rosig aus. Als Kabarettist haben Sie sich dem Humor verschrieben, das Publikum erwartet Ihre lustige Seite. Wie gelingt Ihnen der Spagat zwischen Tiefe und Witz, und was machen Sie, wenn Ihnen eigentlich nicht nach Lachen zu Mute ist?

„Wenn du zu lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, hat Nietzsche gesagt. Deswegen sollte man vielleicht einfach einmal woanders hinschauen. In die Luft zum Beispiel. In den Wald. Auf den Berg. Oder ins Kabarett.

Mir persönlich hilft frische Luft, Bewegung und Natur. Kostet nicht nur fast nix. Sondern gar nix. Vielleicht manchmal ein wenig Überwindung.

Ich denke, es hilft nichts, wenn wir uns den Weltuntergang sorgenvoll herbei tweeten. Wir sollten natürlich politisch wach sein. Aber permanent Breaking News updaten macht zweifellos krank. Irgendetwas ist immer. Sensationsgier hat noch nie etwas verbessert. Ich halte es auch nicht aus, wenn sich Menschen online für alles Mögliche engagieren, aber den Nachbarn nicht mehr grüßen.

Ist Humor eigentlich lernbar? Wen oder was finden Sie persönlich besonders lustig?

Humor kann man so wie alles analysieren, und somit wohl auch erlernen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das irgendwer braucht. Ich habe vor Jahren ein Buch über Witze gelesen. Sagen wir so, es lesen wollen. Es war das fadeste Buch ever … Humor hat viel mit Überraschung und ungewöhnlichen Kombinationen zu tun. Und noch mehr mit gemeinsamer Kultur. Deswegen ist die Schnittmenge zwischen österreichischem Humor und – sagen wir – norddeutschem Humor trotz gemeinsamer Sprache ziemlich klein. Wahrscheinlich könnten wir etwa mit den Slowenen und Tschechen mehr lachen, nur gibt es da leider ein kleines Verständnisproblem …

Finden Ihre Kinder Sie witzig?

Meine Kinder? Die lachen viel und gerne, aber selten wegen mir. Für die bin ich vermutlich ein Norddeutscher ... Nein, da hab ich wohl eine andere Funktion.

Kabarettist Christof Spörk mit neuem Programm "Eiertanz"
© Jeff Mangione
Mit den Global Kryner sind Sie 2005 beim Eurovision Song Contest angetreten. Wie war es, in diese spezielle Welt einzutauchen, und was wurde aus der Band?

Das war schon sehr geil. Ich bin heute froh, diese Erfahrung gemacht zu haben. Wir waren zehn Tage in Kiew. Es war ein europäisches Fest. Vor Ort war es großartig. Der Eurovision Song Contest ist bei aller möglichen Kritik in erster Linie leichtfüßige Lebensfreude. Also genau das Gegenteil jenes Abgrunds, den uns die Putins, Trumps und all die anderen bösen Männer unserer Zeit gerade als den letzten Schrei verkaufen wollen.

Global Kryner ist 2013, also acht Jahre nach dem Song Contest, in Pension gegangen. Wir haben ein Jahrzehnt lange halb Mitteleuropa bereist und viele großartige Erfahrungen gemacht. Man kann sagen, meine Rock’n’Roll-Zeit war diese Band.

Sie haben u.a. Jazzgesang, Klavier, Ziehharmonika und Klarinette gelernt. Auch Ihre Kabarett-Programme bestehen großteils aus Musik. Was wäre ein Leben ohne Musik? Und welchen Stellenwert hat Musik für Sie?

Leben ohne Musik ist ein Widerspruch in sich. Musik ohne Leben, das gibt es hingegen. Künstliche Intelligenz kann das zum Beispiel recht gut. Im Ernst: Es gibt für mich kein Leben ohne Musik. Obwohl ich wahrscheinlich zu den Wenighörern gehöre. Ich halte es nicht aus, bedudelt zu werden. Entweder ich höre zu oder nicht. Vielleicht ist da einfach ein Hebel falsch gestellt in meinem Gehirn.

Da Sie auch „der Philosoph unter den Kabarettist*innen“ genannt werden, eine philosophische Frage zum Schluss. Was wünschen Sie sich persönlich für das heurige Jahr und was für die gesamte Menschheit? Wie können wir bewusst, glücklich und zufrieden unseren Alltag meistern – trotz aller Umstände des Lebens?

Schön wäre es, wenn wir erkennen, dass wir selbst es sind, die über den Lauf der Weltgeschichte entscheiden. Über das Schlechte in der Welt sudern und gleichzeitig jede schwachsinnige Horrornachricht und jedes Schnäppchen am Smartphone anzuklicken, bedeutet nur, dass wir die Mechanismen unserer schönen, neuen Welt noch nicht durchschaut hat.

Ich singe in meinem Programm „Eiertanz“ einen Kanon mit dem Publikum. Und der Text ist: „Macht euch die Technik untertan!“ Das wäre doch ein guter Anfang.

Christof Spörk ist Politikwissenschaftler, Kuba-Experte, Journalist, Musiker, Kabarettist. Sein neues Kabarettprogramm führt ihn heuer durch viele Städte in Österreich, Italien, Deutschland und in der Schweiz. Er gastiert u.a. am 30. Jänner und 22. März 2024 im Wiener Stadtsaal.

Christof Spörk

Stadtsaal Wien

Papierfabrik Varieté Alarmstufe Elf

Ich halte den Atem an. Immer wieder. Mein Herz rast. Meines! Dabei sitze ich nur da und schaue zu, wie mehrere bis in die Zehenspitzen durchtrainierte junge Menschen bis fast an die sieben Meter hohe Saaldecke springen. „Mama, hab keine Angst“, flüstert mir meine 14-Jährige zu, aber ich merke, wie auch sie kaum ihren Augen traut. An so einem Ort war ich schon lange nicht mehr: an einem, wo Kindern und Erwachsenen der Mund offenbleibt, wo Kinder und Erwachsene herzhaft lachen. So mitreißend wie ihre Show ist auch die Geschichte des jungen Ehepaars Seraina und Marc Dorffner. Sie eröffneten erst vor wenigen Monaten ihr Varieté-Theater, und zwar in der Ende des 18. Jahrhunderts errichteten Papierfabrik in Klein-Neusiedl, unweit von Wien.

Ehe wir die beiden zu Wort kommen lassen, noch ein paar Häppchen aus der aktuellen Produktion, die bis Ende Dezember 2023 präsentiert wird. „Alarmstufe Elf. Weihnachten am Rande des Abgrunds“ erzählt eine zauberhafte Geschichte, in der die Herzenswünsche über die materiellen Wünsche siegen („Ich wünsche mir, dass jedes Kind einen Freund hat.“). Auf der Bühne, im Publikum und über den Köpfen der Gäste stehen, springen, schweben und tanzen das Ehepaar Seraina (32) und Marc Dorffner (30) selbst – diesmal gemeinsam mit Absolvent*innen der renommierten Artistenschule Berlin. Die Künstler*innen haben spektakuläre Nummern im Gepäck, garniert werden sie mit viel Witz. Selbst die Sketches, für die Gäste auf die Bühne geholt werden, sind – und zwar offensichtlich für alle Beteiligten – köstlich komisch.

Das Vergnügen bringt am besten auf den Punkt: Vom ersten Staunen an, als ich den Parkplatz verließ und inmitten des historischen Fabriksgeländes den roten Teppich zum Varieté-Theater fand, bis hin zum letzten Staunen, als ich das Paar direkt nach der Premiere bis spät nachts interviewen durfte, habe ich kein einziges Mal auf die Uhr gesehen …

Artist*innenpaar Dorffner vom Papierfabrik Varieté in Klein-Neusiedl
Seraina und Marc Dorffner © Papierfabrik Varieté
funk tank: Wie finden zwei weitgereiste Artist*innen nach Klein-Neusiedl – und wie habt ihr überhaupt zur Artistik gefunden?

Seraina Dorffner: Seit ich etwa sechs Jahre alt war, wollte ich immer in die Höhe. Ich bin überall hinaufgeklettert. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen und habe dort eine Kunst- und Sportschule besucht, mit 14 kam ich an die Berliner Artistenschule.

Wow, und für deine Eltern war das okay, dass du mit 14 quasi ausziehst?

Ich habe mir damals nicht so viele Gedanken gemacht, ich wusste nur: Ich will das unbedingt machen (lacht) – und sie haben mich unterstützt. Als ich das erste Mal in Berlin war, wollte ich mir die Schule eigentlich nur anschauen, aber die Direktorin meinte: „Mach doch gleich die Aufnahmeprüfung.“ – und es klappte sofort. Ich habe dort Training und Schule parallel gemacht und dann die Berufsfachschule abgeschlossen. Mittlerweile kann man sogar Abitur machen. Hier ist das kaum bekannt, aber in Deutschland gibt es viele Varietés, und dort bin ich zunächst aufgetreten. Nach einem Jahr bin ich auf die erste Zirkussaison gefahren. Das hat mich fasziniert: Jedes Jahr ein anderer Zirkus.

Was mochtest du daran?

Das Reisen. Ich habe mir einen eigenen Wohnwagen gekauft. Darin hatte ich mein komplettes Leben – mit zwei Hunden (lacht).

Marc, du warst ebenso auf der Artistenschule. Wie kamst du dorthin?

Marc Dorffner: Ich bin in Wien in der Nähe von einem kleinen Zirkus aufgewachsen und irgendwann fast jeden Tag hingegangen. Bald musste ich nicht einmal mehr die Karte bezahlen (lacht). Ich habe dort das Jonglieren gelernt, wurde Jahr für Jahr besser, bis ich sogar eigene Clownnummern hatte. Meine Eltern haben irgendwann gesagt: „Entweder du machst die Matura oder eine Ausbildung zum Artisten.“ Sie wollten mich nicht einfach so mit dem Zirkus losschicken. So kam ich auch nach Berlin.

War auch dein Berufswunsch so früh klar?

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je etwas anderes wollte. Ich habe schon als Kind Zirkus-Geburtstagsfeiern mit eigenen kleinen Shows gemacht. Bis heute genieße ich es sehr auf der Bühne, wenn wir unsere eigene Show machen.

Wie habt ihr zueinander gefunden?

Seraina: In einem Zirkus in der Schweiz. Die Saison drauf haben wir uns schon einen großen Wohnwagen gekauft und waren nur noch gemeinsam unterwegs: in Dänemark, in der Schweiz – in Irland hatten wir unsere letzte Zirkussaison. Wir wollten sesshaft werden, auch die Familienplanung wurde ein Thema. Wir haben schon lange mit dem Gedanken gespielt, in Österreich ein Varieté zu eröffnen. Leider sind wir ausgerechnet am Anfang von Corona in Wien gestrandet, also haben wir einmal zu planen begonnen. Marcs Vater hat auf dem Gelände der Papierfabrik eine Schlosserei, so kamen wir hierher.

Das Gebäude ist mehr als 200 Jahre alt, es war ziemlich verfallen, und jetzt sitzen wir in diesem schönen Saal mit Samtstühlen und großer Bühne. Das wirkt fast surreal …

Marc: Das denken wir auch manchmal, wenn wir die alten Bilder sehen (lacht).

Seraina: Man brauchte wirklich seeehr viel Fantasie, als wir uns das das erste Mal angeschaut haben.

Artist*innenpaar Dorffner vom Papierfabrik Varieté in Klein-Neusiedl
Seraina und Marc Dorffner © Papierfabrik Varieté
Noch dazu sind eure Kinder ja erst drei und ein Jahr alt …

Seraina: Ja! Malu war erst ein halbes Jahr alt, als wir mit unserem großen Experiment begonnen haben, Nelio kam mitten im Umbau. Das war schon viel auf einmal (lacht).

Marc: Wir haben alles selber geplant und zwar sehr detailversessen. Mein Onkel hat ein Auge dafür, er hat noch seinen Senf dazugegeben, das meiste habe ich tatsächlich mit meinem Vater gebaut. Da sind wir einige Male aneinander geeckt, weil wir eben so perfektionistisch sind, aber das hat uns auch ordentlich zusammengeschweißt.

Wir wollen das machen, was uns Spaß macht und unser Varieté-Theater so gut etablieren, dass wir okay davon leben und vielleicht ab und an auf Urlaub fahren können.

Wie habt ihr das alles finanziell gestemmt?

Marc: Mit Eva Polsterer, der Eigentümervertreterin der Papierfabrik an unserer Seite, die an uns geglaubt hat. Als uns jede Bank abgelehnt hat, weil wir unser Varieté noch dazu während der Pandemie verwirklichen wollten, hat sie uns einen Privatkredit gegeben und uns sehr unterstützt. Ihr hat gefallen, dass wir in einem Gebäude, das fast dem Verfall preisgegeben war, ein Programm mit Qualität machen wollen – und sie hat uns vertraut.

Was ist das Besondere am Programm eures Varietés?

Seraina: Das gibt es in Österreich sonst kaum woanders – Wir bieten ein komplettes Jahresprogramm mit Varietéshows von uns oder Gästen.

Marc: Seit März, als wir eröffnet haben, sind bei uns zum Beispiel die Artistin und Akrobatin Shosha Lilienthal aufgetreten und Lars Hölscher aus der namhaften Zirkusfamilie. Er hat Magie gemacht und seine Frau Luftakrobatik. Neu für uns ist, dass wir auch Kabaretts und Konzerte präsentieren. Wir haben viel gelesen, uns viel informiert und Christoph Hauke vom Wiener Orpheum hat uns gute Tipps gegeben. Besonders schön war es, dass ich auch richtig bekannte Künstler, wie Maddin Schneider, der seit acht Jahren nicht mehr in Österreich war, oder Gernot Kulis angefragt habe – und sie sind nicht nur aufgetreten, sie wollen wiederkommen. Wir möchten aber genauso eine Bühne für Newcomer sein, im Januar haben wir einige im Programm (unbedingt durchklicken, man findet viel Erstaunliches, wie etwa die Comedy des nicht hörenden, homosexuellen Komikers Okan Seese: „Lieber taub als gar kein Vogel“, Anm.).

Artist*innen Papierfabrik
© Manfred Sebek
„Alarmstufe Elf“ ist eure dritte eigene Show – diesmal mit Absolvent*innen der Berliner Artistenschule. Wie kam es zu dieser Kooperation?

Marc: Ich habe die Schule angerufen und gefragt, ob jemand Lust hätte, bei uns mitzumachen. Daraufhin hat sich fast die ganze Klasse gemeldet, und wir haben sie alle genommen. Die Absolvent*innen kamen mit ihren Nummern, die wir teilweise genauso gelassen oder ein bisschen verändert haben, es war wie eine Wundertüte (lacht).

Es ist atemberaubend! Aber auch ihr seid dabei. Seraina, du schwebst quasi in sieben Metern Höhe inmitten vom Publikum. Was geht da in dir vor?

Seraina: Natürlich braucht es Konzentration und Kraft, die immer wieder aufgebaut werden muss, aber nach so vielen Jahren Training hat der Körper das quasi abgespeichert. Meine Nummer im Vertikaltuch ist für mich fast wie Fahrradfahren (lacht).

Haben dich die Schwangerschaften verändert?

Zu 100 Prozent! (lacht). Als ich nach der ersten Geburt wieder anfangen wollte, hat es sich angefühlt, als hätte ich nie zuvor Sport gemacht. Nach der Geburt von Nelio ging es aber erstaunlich gut. Ich habe sieben Monate später schon bei der Eröffnungsshow mitgemacht.

Wie managt ihr das alles als Familie?

Wir wohnen gegenüber, Malu geht vormittags in den Kindergarten, davon abgesehen sind die Kinder immer dabei. Ich habe Nelio manchmal in der Trage, wenn ich den Flammkuchen für den Abend mache, sonst ist das hier alles für sie Spielplatz. Natürlich ist es schon auch schwierig, alles unter einen Hut zu bringen, die Zeit rennt, die Tage sind zu kurz. Aber unser Team wächst, das hilft sehr.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Marc: Es war uns von Anfang an klar, dass wir nicht reich werden. Wir wollen das machen, was uns Spaß macht und unser Varieté-Theater so gut etablieren, dass wir okay davon leben und vielleicht ab und an auf Urlaub fahren können. Im Januar haben wir das erste Wochenende ohne Show, damit wir einmal durchschnaufen können, weil wir wirklich jeden Tag arbeiten. Wir freuen uns, dass wir bereits jetzt Stammkund*innen haben, dass Menschen kommen, bei denen wir schon wissen, wo sie gerne sitzen. Die Leute schätzen dieses familiäre Umfeld. Das handhaben wir mit unseren Gästen, aber auch mit unseren Angestellten so. Wir sind eine große Familie und hoffen, dass die Familie größer wird.

„Alarmstufe Elf. Weihnachten am Rande des Abgrunds“: Eine Eigenproduktion des Varieté-Theaters Papierfabrik. Bis 31. Dezember 2023,
immer am Freitag und Samstag, 20 Uhr / Sonntag 18 Uhr sowie am 24. Dezember um 14 Uhr.

Papierfabrik Varieté

Sigrid Horn Paradies Zwentendorf

Der kalte Wind pfeift um die Ohren, er peitscht die Regentropfen ins Gesicht, so muss sich ein Nadelkissen fühlen. Es geht vorbei an mächtigen Betonbauten, hinein durch eine orange Tür, kühl ist es noch immer, aber zumindest das Wetter bleibt draußen. Eine schwarze Katze beobachtet beim Kellerabgang geradezu gelassen die Ankommenden, als wüsste sie, dass die auf einer Kette baumelnde Tafel „Kein Zugang für Besucher“ sie schützt.

45 Jahre ist es her, dass der Knopf nicht gedrückt wurde, dass das Volk die Inbetriebnahme eines Werkes, das als zukunftsweisend galt und fix fertig war, verhinderte. Keine Atomenergie in Österreich. Dieses Dornröschen wurde nie geweckt.

Nach einer sehr langen Zeit des Stillstands kaufte die EVN 2005 das AKW Zwentendorf (siehe Info unten). Seither wird dort Sonnenenergie produziert, ein Trainingszentrum für AKW-Rückbauarbeiten ist entstanden und Führungen werden angeboten. Und – wer hätte das vor einem halben Jahrhundert zu vermuten gewagt? – das AKW wurde zu einer beliebten Location für Musikvideos, Werbedrehs und Filmprojekte.

Das AKW ist außerdem ein Symbol dafür, welches Gewicht die Stimme des Volkes haben kann und dafür, wie essenziell die ständige Reflexion unserer Handlungen ist, denn „wos heit sauwa ausschaut, is morgen scho dreckig“, singt Sigrid Horn.

Als das AKW Zwentendorf nicht in Betrieb genommen wurde, wurde das Kohlekraftwerk Dürnrohr errichtet und war bis 2019 in Betrieb. „Das AKW Zwentendorf hat zwar nie Atome gespalten, dafür aber von Anfang an Menschen und Meinungen“, beschreibt EVN Sprecher Stefan Zach. „Wir sehen es als schöne Aufgabe, einen Ort, der das Land gespalten hat, zu einem Ort der Begegnung zu machen.“ Diese Idee dachte er weiter und klopfte bei Bader Molden Recordings an, mit der Vision von einem Konzeptalbum.

Nun ist es da, das „Paradies“. Nomen est omen. Ich habe mich in diesem Album verloren, wie in einem Roman, der einen tief berührt, mal zum Lachen, mal zum Weinen bewegt. Manchmal höre ich es drei Mal hintereinander.

Den roten Faden trägt die herausragende Singer-Songwriterin Sigrid Horn durch das ”Paradies”. Sie machte sich viele Gedanken um den Inhalt, lud Künstlerkolleg*innen zum Zusammenarbeiten ein und setzte das Album mit Lebenspartner Felipe Scolfaro Crema um, der sich unter anderem für Sound, Aufnahmen und Klavier verantwortlich zeichnete.

Ein schönes Gespräch am Ort des Geschehens.

Sigrid Horn und Felipe Scolfaro Crema vor dem AKW Zwentendorf
Sigrid Horn und Felipe Scolfaro Crema © Daniela Matejschek
funk tank: War es für dich gruselig, als du das erste Mal hierher gekommen bist?
Sigrid Horn: Das Wort „entrisch“ trifft es für mich besser. Man wird irgendwie von einem Geist, der da Jahrzehnte schläft, überrollt. Aber es gibt wirklich auch sehr gruselige Orte hier. Gleichzeitig ist es sehr spannend, durch die Räume gehen zu können, in denen nie ein Mensch hätte stehen dürfen, wenn das AKW eingeschalten worden wäre.
Du veröffentlichst die Alben „Nest“ und „Paradies“ nahezu gleichzeitig. Also zwei Babys auf einmal, dabei ist dein menschliches erst zwei Jahre alt. Ich schicke voraus, ich würde dir die Frage auch stellen, wenn du ein Mann wärst: Wie habt ihr das geschafft?
Dass die Alben fast zeitgleich rauskommen, war ein bisserl ein Zufall, aber wir hatten einen guten Zeitplan. Nicht einberechnet haben wir, dass ein Kleinkind, das frisch im Kindergarten angefangen hat, ständig krank ist. Trotzdem ist sich alles ausgegangen, dank der Großeltern und der wahnsinnig rücksichtsvollen Mitmusiker*innen, die sich – gefühlt – immer nach uns gerichtet haben.
Ehe wir ins „Paradies“ abtauchen: Was steckt hinter dem Album „Nest“?
Corona war eine Zeit des Rückzugs. Ich war dann schwanger und habe ein Kind gekriegt, das war ein zusätzlicher Rückzug. Das kann sehr schön, aber auch einsam sein, und damit haben viele junge Eltern, vor allem Mütter zu kämpfen. In dieser Zeit habe ich die Lieder geschrieben. „Nest“ steht für mich für beides: für die Isolation und für die Geborgenheit. Erst kürzlich wurde mir bewusst, dass ich in diesem Album sehr oft über das Fliegen singe (lacht).
„Paradies“ hast du mit Felipe Scolfaro Crema umgesetzt. Wie ging es euch mit der engen Zusammenarbeit?
Extrem gut. Ich glaube, jedes Paar hat ein gemeinsames Hobby. Andere gehen Tennis spielen, wir nehmen ein Album auf (lacht). Das erfüllt uns und macht uns Spaß. Die Arbeit an „Paradies“ hat außerdem besonders viel Freude gemacht, weil auch wieder Harfenistin Sarah Metzler und Bernhard Scheiblauer mit Concertina und Ukulele und mit viel Herz dabei waren. Die beiden singen ja auch und spielten schon bei meinen ersten beiden Alben eine sehr wichtige Rolle.
Wie hast du auf die Anfrage für das Konzeptalbum reagiert?
Ich habe lang überlegt. Ist mir das nicht zu groß? Dann wurde mir klar, dass ich ein A-Team dafür brauche. Ich habe mir möglichst viele Blickwinkel auf dieses Haus, seine Geschichte, auf die Themen, die dadurch angestoßen werden, gewünscht. Es gibt viele Umweltlieder auf der Platte, es ist auch eine Reflexion: Was haben wir die letzten 45 Jahre gemacht, wie werden wir die nächsten 45 Jahre weitermachen?
Welchen Blick hattest du davor auf das AKW, wie hat sich dieser möglicherweise verändert?
Österreicher*innen meiner Generation sind mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, dass wir gegen Atomenergie sind. Ich hatte sogar als Kind Angst, über die Grenze zu fahren, weil es „woanders“ Atomenergie gab. Richtig bewusst war mir aber nicht, dass das AKW fix fertig war und nur aufs Einschalten gewartet hatte. Aus Singer-Songwriter-Perspektive finde ich das grandios, weil es so viele Geschichten aufmacht. All die Einzelschicksale, die dahinterstecken, faszinieren mich. Das ist ein riesengroßer Schaukasten und diesen zu vertonen, hat sehr viel Spaß gemacht.

Für den gemeinsamen Diskurs ist es so wichtig, sich in andere hineinzuversetzen.

Wie hast du das zusammengesetzt? Drei großartige Lieder kommen von dir, sieben weitere Songs sind Kollaborationen. Magst du über diese ein bisschen was verraten?

(Für die angenehmere Lesbarkeit listen wir hier auf)

Wossa – Ich wusste: Ich brauche ein Lied über die Donau. Sofort hatte ich einen Refrain und die Stimme von Ina Regen im Kopf. Genauso habe ich sie angeschrieben. „Hey, ich mache ein Album über Zwentendorf und schreibe ein Lied über die Donau. Magst du die Donau sein?“ (lacht) „Wossa“ ist fantastisch geworden, eine Hymne für das Wasser, ein moderner Donauwalzer quasi.

Hausmasda – Stefan (Zach, EVN-Pressesprecher, Anm.) hat uns einige Geschichten erzählt, auch die vom Hausmeister, der hier bis zum Schluss seine Runden gedreht hat. Als ich das gehört habe, war für mich klar: Das Lied muss Ernst (Molden, Anm.) schreiben.

Luft – Ein Song von Sarah Bernhardt. Ich habe mir Bernhards (Scheiblauer, Anm.) Songwritingperspektive auf das Ganze gewünscht, weil er immer hinter jede Ecke schaut. Genauso ein Lied hat er geschrieben – mit sehr vielen Fragen, wo aber auch der Charme des Ortes – oder wie er singt: „Zwentenhausen“ – sehr gut herauskommt.

Ohne mi – Dahinter steckt eine spannende Geschichte, die ich mit Yasmo umgesetzt habe. Wir haben die Fleischhauerin aus dem Ort, die beim AKW-Bau täglich 2.000 Wurstsemmeln gemacht hat, mit den Vorarlberger Müttern verknüpft, die gegen das Kraftwerk in Hungerstreik gegangen sind. Sie alle stehen stellvertretend für sehr viele Frauen, die sehr wichtig waren, aber letztendlich aus der Geschichte ausgeklammert wurden und werden.

Instandshaltung – Anna Mabo ließ sich von der „Konservierungsphase“ inspirieren, in der im AKW praktisch nichts passiert ist und die Menschen, die hier gearbeitet haben, sich sieben Jahre fadisiert haben.

Das ist übrigens einer meiner Lieblingssongs, weil Anna Mabo wieder mal ein Ohrwurm gelingt, den ich gleichzeitig melancholisch, aber auch herrlich komisch finde ... Es gibt ja noch zwei Songs ...

In deine Augen – Mwita Mataros Song handelt von der Spaltung der Gesellschaft. Zeitzeugen erzählen, dass man über das AKW nicht mehr mit dem Cousin am Tisch reden konnte. Die Situation damals hat uns sehr an die Corona-Zeit erinnert.

Morgen – Julia Lacherstorfer hat eine an Björk erinnernde, sphärische Ballade geschrieben, in der sie sich die Frage stellt: Ist es vielleicht schon zu spät, oder können wir noch was machen?

Ist es schon zu spät?

Für viele Sachen ist es zu spät, aber fürs Aufgeben ist es immer zu früh. Wir müssen weiterhin Menschen aufrütteln, aber: Das Tun auf individueller Ebene allein ist zu wenig. Es sind große politische Entscheidungen notwendig, um das Ruder herumzureißen. Gefragt ist auch das Engagement der Unternehmen. Gerade deswegen finde ich es super, dass die EVN uns gebeten hat: Macht dieses Konzeptalbum zu 45 Jahre Volksabstimmung AKW.
Ich befürchte, die nächste Generation wird den ärgsten Umschwung erleben. Meine Tochter wird wahrscheinlich in Österreich keinen Gletscher mehr sehen, und vieles, das ich erleben durfte, nicht mehr erleben. Wir möchten ihr möglichst viel zeigen, vor allem die Wertigkeit und Wichtigkeit der Natur und Umwelt.

Woher weiß man, was das Richtige ist?

Das ist die große philosophische Frage, jede*r versucht sich einen Kompass zurechtzulegen. Auch in Zwentendorf gibt es keine einfachen Antworten. Immerhin wurde als Ersatz für das AKW ein Kohlekraftwerk gebaut (nicht mehr aktiv, Anm.).
Wir müssen jeden Tag mutig sein und die eigenen Überzeugungen hinterfragen. Die Menschen hören dann auf, miteinander zu reden, wenn sie das nicht mehr tun. Dann werden Mauern hochgezogen und es gibt keine Empathie mehr.
Für den gemeinsamen Diskurs ist es so wichtig, sich in andere hineinzuversetzen. Ich glaube, es liegt auch am Mangel an Empathie, warum viele noch immer die Klimakatastrophe nicht ernst nehmen. Wir sind nicht die ersten, die darunter leiden, aber man kann schon auch dafür Empathie empfinden, dass die Natur leidet.

Furchterregend. Und trotzdem möchte ich das Gespräch ungern so traurig beenden …

Darum heißt es auch „Paradies“! Es geht darum, es zu erhalten. Aber der Titel ist vielschichtig. Der Begriff „Paradies“ geht immer mit Versprechungen einher. Sowohl die Gegner*innen des AKW als auch die Befürworter*innen haben als Ergebnis der Volksabstimmung das Paradies versprochen. Egal, wie es ausgegangen wäre, das Paradies wäre nicht gekommen.
Es gibt keine einfachen Antworten, denn die gibt es nie, und es gibt immer viele Aspekte zu bedenken. Genau das müssen wir auch an unsere Kinder weitergeben und selbst nie müde werden, uns auch selbst zu hinterfragen.

Sigrid Horn

  • 1990 Sigrid Horn kommt auf die Welt, wächst im Mostviertel auf
  • 2018 Debütalbum „Sog i bin weg“
  • 2019 Sieg FM4-Protestsongcontest mit „Baun“ gegen die Verbauung des ländlichen Raums
  • 2020 Album „I bleib do“
  • 2021 Geburt der gemeinsamen Tochter mit Felipe Scolfaro Crema &
    Hubert von Goisern Kulturpreis
  • 2023 Album „Nest“ & „Paradies“ (Kollaboration mit vielen Künstlerkolleg*innen)

AKW Zwentendorf 

  • 1972–1976 Bauphase AKW Zwentendorf
  • 1975–1978 Protestbewegung
  • 5. November 1978 Volksabstimmung über Inbetriebnahme
  • 1979 Vinyl „Künstler gegen Zwentendorf“ mit Georg Danzer, Erika Pluhar u.v.m.
  • 1978–1985 Konservierungsbetrieb
  • 1999 Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich
  • 2005 EVN kauft das AKW Zwentendorf
  • Seit 2010 Besichtigung nach Voranmeldung möglich

Event-Tipp: „Paradies – ein Jubiläumsalbum“ – Die große Präsentation im Wiener Konzerthaus am 22. April 2024 um 19.30 Uhr mit Sigrid Horn, Ernst Molden, Ina Regen, Anna Mabo, Yasmo u. a. 

Website Sigrid Horn