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Wie weit gehst du fürs Überleben?

Das passiert sonst kaum: Nach der ersten Vorführung ging Schauspieler Jannis Niewöhner stundenlang durch München, um den Inhalt zu verarbeiten – obwohl er selbst Teil der Produktion war. Wie nah Spielfreude und Horror zu Kilian Riedhofs neuem Kinofilm „Stella. Ein Leben.“ beieinander lagen, erzählt er uns im Interview.
Schauspieler Portrait Jannis Niewöhner
© Mathias Bothor

„Ihr seid nicht verantwortlich dafür, was geschah, aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
Dieser Satz erscheint im Abspann vom neuen Kinofilm „Stella. Ein Leben.“ (Filmstart – Deutschland: 18. Jänner 2024, Österreich: 16. Februar 2024). Er stammt von einem Menschen, der das Konzentrationslager überlebte.
Einen Tag später erzählt mir meine Tochter, dass sie ein mit Bleistift gezeichnetes Hakenkreuz auf einer Schulbank in der Klasse entdeckte. Wegradieren ist zu wenig, besprechen wir, und ich denke an die Worte im Abspann – von „Stella“, den Kilian Riedhof nach Stella Goldschlags wahrer Geschichte auf die Leinwand bringt. Paula Beer verkörpert sie und bringt sie so nahe, dass man beinahe ihren Herzschlag hört.
Stella ist gerade einmal volljährig, als sie beginnt, mit ihrer Big Band aufzutreten. Sie ist schön, ihre Ausstrahlung ein Feuerwerk, sie träumt von einer Karriere in den USA. Wenige Jahre später trägt sie einen Judenstern, und der Kampf ums Überleben bringt das Dunkelste aus ihr hervor: Stella Goldschlag wird „Greiferin“, sie verrät Juden und Jüdinnen, sogar einstige Freund*innen. An ihrer Seite: Rolf Isaaksohn, ebenso schön und skrupellos in seinem Tun. „Rolf geht über Leichen, wenn es sein muss“, zitierte Der Spiegel seine eigene Mutter. Ihn spielt Jannis Niewöhner mit solch beeindruckender Leichtigkeit, dass man als Zuschauer*in ständig über die für Rolf weitgehend zu Unrecht empfundene Sympathie stolpert. Seit seiner Jugend steht Jannis Niewöhner vor der Kamera, seine Laufbahn ist ein spektakulärer Ritt durch alle Genres, eine Vielzahl an Preisen säumen seinen Weg (siehe Bio unten). Wir trafen ihn zum Kinostart von „Stella. Ein Leben.“ …

funk tank: Ich werde noch lange brauchen, um den Film zu verarbeiten. Er erschüttert sehr tief und macht filmisch sozusagen eine neue Tür auf.

Jannis Niewöhner: Ich habe ihn selbst das erste Mal bei einer Pressevorführung in München gesehen und musste danach drei Stunden durch die Stadt gehen, um ihn zu verarbeiten. Das habe ich selten bei Filmen, bei denen ich selbst dabei bin.

Hattest du Bedenken, die Rolle zu spielen – oder überhaupt: den Film?

Ich habe von Anfang an sehr darauf vertrauen können, dass die richtige Absicht da war: Nämlich zu erzählen, wohin der Antisemitismus führen kann. Das hat es mir leichter gemacht, zu entscheiden, ob ich in die Rolle von jemandem schlüpfen will, der kaum Ängste hat, Schreckliches und noch Schrecklicheres zu tun. Rolf tut wirklich alles, um sich nicht in eine Opferrolle begeben zu müssen.
Diesen Antrieb und die Spielwut, die er sich zu eigen macht, um so viel aushalten zu können, fand ich sehr spannend. Ich hatte große Lust auf diesen Charakter.

Wie fandest du in die Rolle hinein?

Wir hatten vorab ein bisschen Zeit zusammen zu proben und konnten so auch etwas über die Dynamik zwischen Stella und Rolf herausfinden. Viele Dinge haben dabei eine Rolle gespielt: die Hektik, in der alles stattfand, der Schlafmangel, und sie haben auch wahnsinnig viele Drogen genommen … Ich habe alles getan, was möglich war, um ein Gefühl für diese Zeit zu bekommen. Die größte Hilfe war Peter Wydens Buch über Stella (Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte, Verlag Steidl, Anm.). Er hat ganz detailliert ihren und auch den Weg vieler ihrer Kameradinnen recherchiert. Über Rolf gibt es wenige Informationen, aber einige sehr prägnante. Das Buch gibt sehr gut jenes Lebensgefühl wieder, in dem das alles stattfand.

Wie hast du die Dreharbeiten erlebt?

Es war eine Mischung aus totaler Spielfreude und absolutem Horror. Die Figuren sind sehr lebendig, weil sie so um das Leben ringen. Die Lebendigkeit darzustellen hat Freude gemacht, das war eine Energie, die ich mochte. Aber die ganze Zeit mit dem Grauen konfrontiert zu sein, hat angestrengt und auch etwas mit einem gemacht.

Das Schreckliche im Film erträgt man normalerweise leichter, wenn man sich vor Augen führt, dass es fiktiv ist. Bei „Stella“ weiß man: Das ist real und fast dokumentarisch. Und im allerschlimmsten Fall etwas, das sich wiederholen könnte. Wie ging es dir damit?

Bei jedem neuen Set, zu das wir kamen, bei jedem neuen Motiv und jeder Szenerie tauchte ständig der Gedanke auf, dass das wirklich passiert ist. Das bringt auch ein besonderes Verantwortungsgefühl mit sich: Dieser Film ist auch dazu da, einen Teil beizutragen, und über diese Zeit aufzuklären, damit das nicht wieder passiert.
Obwohl man den Eindruck hat, dass viel Bemühung da ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, vergessen und leugnen viele den Holocaust. Erst im Vorjahr gab es beispielsweise in Holland eine Studie, die aufzeigte, dass rund ein Viertel der Jungen nicht an den Holocaust glaubt oder nicht an seine extreme Form (Studie der Claims Conference, Anm.). Das ist sehr alarmierend.

Was können und müssen wir tun?

Wir alle müssen uns überlegen, welche Art von Aktivismus wir mit voller Kraft jeweils gegen den Antisemitismus ausüben können. Jeder Mensch hat unterschiedliche Stärken. Für mich ist es mit Menschen, an deren Talente und Verantwortungsbewusstsein ich glaube, Filme zu machen. Ich könnte mich wahrscheinlich nicht auf die Bühne stellen und zwei Stunden gegen den Antisemitismus reden, aber ich kann mit dem, was ich gelernt habe, mit dem Schauspielen, meinen Teil beitragen. Aktivismus hat viele Formen, jeder kann für sich das finden, was am besten funktioniert.

Filmstill Stella. Ein Film.
Film Still "Stella. Ein Film." © Majestic, Jürgen Olczyk
Du bist in einer künstlerischen Familie aufgewachsen und schon jung vor der Kamera gestanden. Was hält dich dabei?

Die Kraft des Films. Ich liebe es, dass ich immer wieder im Kino oder vor dem Fernseher sitze und etwas sehe, das mich mal Tage, mal wochenlang beschäftigt und manchmal mein Leben verändert. Ich liebe den Perspektivenwechsel, der mit Filmen gelingt – als Zuschauer und als Schauspieler. Indem man sich in Figuren hineinversetzt, schafft man eine Nachvollziehbarkeit, warum Dinge passieren. Das ist bei „Stella“ ganz extrem. Ihre Taten werden nicht verharmlost oder kleiner gemacht, der Film bietet die Möglichkeit zu verstehen, wie Menschen sind. Das ist wichtig für die Empathie und auch für den Umgang mit bösen Kräften im Leben. Eine Figur zu spielen, ist eine intensive Erfahrung. Ich darf sie nicht bewerten, aber ich muss versuchen, sie zu verstehen.

Fallen dir spontan Filme ein, die dich nachhaltig geprägt haben?

Da gibt es viele … „Der Junge muss an die frische Luft“ hat mir stark die Bedeutung von Vergangenheit, Herkunft und Heimat, von Familie und gemeinsamer Zeit, die begrenzt ist, vor Augen geführt. Ein anderes Beispiel ist „Anatomie eines Falls“, der die Unausweichlichkeit der Probleme, die es immer in Beziehungen zwischen zwei Menschen gibt, und die Unausweichlichkeit dessen, dass die Liebe auch mal schwindet, zeigt. Es sind Themen, die man aus dem eigenen Leben kennt, aber man lässt sich mit einem Film anders auf sie ein.

„Stella“ zeigt sehr gut, wie komplex die Dinge sind, und wie wenig man als Außenstehende/r überhaupt urteilen kann …

… und dass wir zwei völlig unterschiedliche Gefühle derselben Person gegenüber haben können. Eine der stärksten Szenen im Film ist die am Schluss im Gerichtssaal: Stella wird schuldig gesprochen und weint. Sie tut mir leid. Ich sehe das kleine Mädchen vor mir und möchte sie in den Arm nehmen. Dann wird sie freigesprochen, lacht und freut sich. Und ich sehe nur noch eine Fratze, nämlich diesen Menschen, der sie geworden ist, und ich will nur weg von ihr. Der Film zeigt besonders gut die Widersprüchlichkeit von Gefühlen einem Menschen gegenüber.

Wir alle müssen uns überlegen, welche Art von Aktivismus wir mit voller Kraft jeweils gegen den Antisemitismus ausüben können. [...] Aktivismus hat viele Formen, jeder kann für sich das finden, was am besten funktioniert.

Filmstill Stella. Ein Leben.
© Majestic, Jürgen Olczyk
Zum Abschluss wieder zu dir: Wie definierst du Erfolg?

Etwas gefunden zu haben, das einen glücklich macht.

Was macht dich traurig?

All die schlimmen Dinge, die man nicht verhindern kann.

Worüber freust du dich?

Ich freue mich … (überlegt lange) … über Sandra Hüller, die kürzlich bei ihrer Rede, als sie den Europäischen Filmpreis gewonnen hat, gesagt hat, dass sich jetzt bitte alle Frieden vorstellen mögen. Und dann hat sie kurz gewartet und gesagt: „Macht weiter damit, wenn ihr wollt.“ Das finde ich sehr schön: Aus der Vorstellung heraus entstehen Dinge, die verändern.

Jannis Niewöhner wurde 1992 in Krefeld, Deutschland, geboren. Mit 10 Jahren stand er das erste Mal vor der Kamera. Seinen Durchbruch hatte er 2015 mit „Vier Könige“ (Regie: Therese von Eltz), im selben Jahr wurde er bei der Berlinale als „European Shooting Star“ gefeiert. Für seine darstellerische Arbeit in „Jugend ohne Gott“ (Alain Gsponer, 2018) und „Jonathan“ (Piotr Lewandowski) erhält er 2017 den Bayrischen Filmpreis als bester Nachwuchsschauspieler. Mehrere Nominierungen und Preise folgen. Weitere Hauptrollen spielte er in „Narziss & Goldmund“ (Stefan Ruzowitzky) und in „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ (Detlev Buck, 2020). Außerdem aktuell: Netflix-Serie „Munich – the Edge of War“ und der RTL+-Sechsteiler „Hagen“. 

Jannis Niewöhner – Instagram

„Stella. Ein Leben.“ – mit Paula Beer, Jannis Niewöhner, Katja Riemann, Lukas Miko, Joel Basman, Damian Hardung, Bekim Latifi, Gerdy Zint u.v.m.
Regie: Kilian Riedhof
Drehbuch: Marc Blöbaum, Jan Braren & Kilian Riedhof
Filmstart – Deutschland: 18. Jänner 2024, Österreich: 16. Februar 2024.

Stella. Ein Leben. – Filmverleih

Portrait Viktória Kery-Erdélyi
Viktória Kery-Erdélyi
studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und ist freiberufliche Journalistin in der Magazinbranche.

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