Ich halte den Atem an. Immer wieder. Mein Herz rast. Meines! Dabei sitze ich nur da und schaue zu, wie mehrere bis in die Zehenspitzen durchtrainierte junge Menschen bis fast an die sieben Meter hohe Saaldecke springen. „Mama, hab keine Angst“, flüstert mir meine 14-Jährige zu, aber ich merke, wie auch sie kaum ihren Augen traut. An so einem Ort war ich schon lange nicht mehr: an einem, wo Kindern und Erwachsenen der Mund offenbleibt, wo Kinder und Erwachsene herzhaft lachen. So mitreißend wie ihre Show ist auch die Geschichte des jungen Ehepaars Seraina und Marc Dorffner. Sie eröffneten erst vor wenigen Monaten ihr Varieté-Theater, und zwar in der Ende des 18. Jahrhunderts errichteten Papierfabrik in Klein-Neusiedl, unweit von Wien.
Ehe wir die beiden zu Wort kommen lassen, noch ein paar Häppchen aus der aktuellen Produktion, die bis Ende Dezember 2023 präsentiert wird. „Alarmstufe Elf. Weihnachten am Rande des Abgrunds“ erzählt eine zauberhafte Geschichte, in der die Herzenswünsche über die materiellen Wünsche siegen („Ich wünsche mir, dass jedes Kind einen Freund hat.“). Auf der Bühne, im Publikum und über den Köpfen der Gäste stehen, springen, schweben und tanzen das Ehepaar Seraina (32) und Marc Dorffner (30) selbst – diesmal gemeinsam mit Absolvent*innen der renommierten Artistenschule Berlin. Die Künstler*innen haben spektakuläre Nummern im Gepäck, garniert werden sie mit viel Witz. Selbst die Sketches, für die Gäste auf die Bühne geholt werden, sind – und zwar offensichtlich für alle Beteiligten – köstlich komisch.
Das Vergnügen bringt am besten auf den Punkt: Vom ersten Staunen an, als ich den Parkplatz verließ und inmitten des historischen Fabriksgeländes den roten Teppich zum Varieté-Theater fand, bis hin zum letzten Staunen, als ich das Paar direkt nach der Premiere bis spät nachts interviewen durfte, habe ich kein einziges Mal auf die Uhr gesehen …
Seraina Dorffner: Seit ich etwa sechs Jahre alt war, wollte ich immer in die Höhe. Ich bin überall hinaufgeklettert. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen und habe dort eine Kunst- und Sportschule besucht, mit 14 kam ich an die Berliner Artistenschule.
Ich habe mir damals nicht so viele Gedanken gemacht, ich wusste nur: Ich will das unbedingt machen (lacht) – und sie haben mich unterstützt. Als ich das erste Mal in Berlin war, wollte ich mir die Schule eigentlich nur anschauen, aber die Direktorin meinte: „Mach doch gleich die Aufnahmeprüfung.“ – und es klappte sofort. Ich habe dort Training und Schule parallel gemacht und dann die Berufsfachschule abgeschlossen. Mittlerweile kann man sogar Abitur machen. Hier ist das kaum bekannt, aber in Deutschland gibt es viele Varietés, und dort bin ich zunächst aufgetreten. Nach einem Jahr bin ich auf die erste Zirkussaison gefahren. Das hat mich fasziniert: Jedes Jahr ein anderer Zirkus.
Das Reisen. Ich habe mir einen eigenen Wohnwagen gekauft. Darin hatte ich mein komplettes Leben – mit zwei Hunden (lacht).
Marc Dorffner: Ich bin in Wien in der Nähe von einem kleinen Zirkus aufgewachsen und irgendwann fast jeden Tag hingegangen. Bald musste ich nicht einmal mehr die Karte bezahlen (lacht). Ich habe dort das Jonglieren gelernt, wurde Jahr für Jahr besser, bis ich sogar eigene Clownnummern hatte. Meine Eltern haben irgendwann gesagt: „Entweder du machst die Matura oder eine Ausbildung zum Artisten.“ Sie wollten mich nicht einfach so mit dem Zirkus losschicken. So kam ich auch nach Berlin.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je etwas anderes wollte. Ich habe schon als Kind Zirkus-Geburtstagsfeiern mit eigenen kleinen Shows gemacht. Bis heute genieße ich es sehr auf der Bühne, wenn wir unsere eigene Show machen.
Seraina: In einem Zirkus in der Schweiz. Die Saison drauf haben wir uns schon einen großen Wohnwagen gekauft und waren nur noch gemeinsam unterwegs: in Dänemark, in der Schweiz – in Irland hatten wir unsere letzte Zirkussaison. Wir wollten sesshaft werden, auch die Familienplanung wurde ein Thema. Wir haben schon lange mit dem Gedanken gespielt, in Österreich ein Varieté zu eröffnen. Leider sind wir ausgerechnet am Anfang von Corona in Wien gestrandet, also haben wir einmal zu planen begonnen. Marcs Vater hat auf dem Gelände der Papierfabrik eine Schlosserei, so kamen wir hierher.
Marc: Das denken wir auch manchmal, wenn wir die alten Bilder sehen (lacht).
Seraina: Man brauchte wirklich seeehr viel Fantasie, als wir uns das das erste Mal angeschaut haben.
Seraina: Ja! Malu war erst ein halbes Jahr alt, als wir mit unserem großen Experiment begonnen haben, Nelio kam mitten im Umbau. Das war schon viel auf einmal (lacht).
Marc: Wir haben alles selber geplant und zwar sehr detailversessen. Mein Onkel hat ein Auge dafür, er hat noch seinen Senf dazugegeben, das meiste habe ich tatsächlich mit meinem Vater gebaut. Da sind wir einige Male aneinander geeckt, weil wir eben so perfektionistisch sind, aber das hat uns auch ordentlich zusammengeschweißt.
Wir wollen das machen, was uns Spaß macht und unser Varieté-Theater so gut etablieren, dass wir okay davon leben und vielleicht ab und an auf Urlaub fahren können.
Marc: Mit Eva Polsterer, der Eigentümervertreterin der Papierfabrik an unserer Seite, die an uns geglaubt hat. Als uns jede Bank abgelehnt hat, weil wir unser Varieté noch dazu während der Pandemie verwirklichen wollten, hat sie uns einen Privatkredit gegeben und uns sehr unterstützt. Ihr hat gefallen, dass wir in einem Gebäude, das fast dem Verfall preisgegeben war, ein Programm mit Qualität machen wollen – und sie hat uns vertraut.
Seraina: Das gibt es in Österreich sonst kaum woanders – Wir bieten ein komplettes Jahresprogramm mit Varietéshows von uns oder Gästen.
Marc: Seit März, als wir eröffnet haben, sind bei uns zum Beispiel die Artistin und Akrobatin Shosha Lilienthal aufgetreten und Lars Hölscher aus der namhaften Zirkusfamilie. Er hat Magie gemacht und seine Frau Luftakrobatik. Neu für uns ist, dass wir auch Kabaretts und Konzerte präsentieren. Wir haben viel gelesen, uns viel informiert und Christoph Hauke vom Wiener Orpheum hat uns gute Tipps gegeben. Besonders schön war es, dass ich auch richtig bekannte Künstler, wie Maddin Schneider, der seit acht Jahren nicht mehr in Österreich war, oder Gernot Kulis angefragt habe – und sie sind nicht nur aufgetreten, sie wollen wiederkommen. Wir möchten aber genauso eine Bühne für Newcomer sein, im Januar haben wir einige im Programm (unbedingt durchklicken, man findet viel Erstaunliches, wie etwa die Comedy des nicht hörenden, homosexuellen Komikers Okan Seese: „Lieber taub als gar kein Vogel“, Anm.).
Marc: Ich habe die Schule angerufen und gefragt, ob jemand Lust hätte, bei uns mitzumachen. Daraufhin hat sich fast die ganze Klasse gemeldet, und wir haben sie alle genommen. Die Absolvent*innen kamen mit ihren Nummern, die wir teilweise genauso gelassen oder ein bisschen verändert haben, es war wie eine Wundertüte (lacht).
Seraina: Natürlich braucht es Konzentration und Kraft, die immer wieder aufgebaut werden muss, aber nach so vielen Jahren Training hat der Körper das quasi abgespeichert. Meine Nummer im Vertikaltuch ist für mich fast wie Fahrradfahren (lacht).
Zu 100 Prozent! (lacht). Als ich nach der ersten Geburt wieder anfangen wollte, hat es sich angefühlt, als hätte ich nie zuvor Sport gemacht. Nach der Geburt von Nelio ging es aber erstaunlich gut. Ich habe sieben Monate später schon bei der Eröffnungsshow mitgemacht.
Wir wohnen gegenüber, Malu geht vormittags in den Kindergarten, davon abgesehen sind die Kinder immer dabei. Ich habe Nelio manchmal in der Trage, wenn ich den Flammkuchen für den Abend mache, sonst ist das hier alles für sie Spielplatz. Natürlich ist es schon auch schwierig, alles unter einen Hut zu bringen, die Zeit rennt, die Tage sind zu kurz. Aber unser Team wächst, das hilft sehr.
Marc: Es war uns von Anfang an klar, dass wir nicht reich werden. Wir wollen das machen, was uns Spaß macht und unser Varieté-Theater so gut etablieren, dass wir okay davon leben und vielleicht ab und an auf Urlaub fahren können. Im Januar haben wir das erste Wochenende ohne Show, damit wir einmal durchschnaufen können, weil wir wirklich jeden Tag arbeiten. Wir freuen uns, dass wir bereits jetzt Stammkund*innen haben, dass Menschen kommen, bei denen wir schon wissen, wo sie gerne sitzen. Die Leute schätzen dieses familiäre Umfeld. Das handhaben wir mit unseren Gästen, aber auch mit unseren Angestellten so. Wir sind eine große Familie und hoffen, dass die Familie größer wird.
„Alarmstufe Elf. Weihnachten am Rande des Abgrunds“: Eine Eigenproduktion des Varieté-Theaters Papierfabrik. Bis 31. Dezember 2023,
immer am Freitag und Samstag, 20 Uhr / Sonntag 18 Uhr sowie am 24. Dezember um 14 Uhr.
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