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„Gerade weil so viele Menschen an mir gezweifelt haben, wollte ich es umso mehr schaffen“

Mireille Ngosso über medizinische Gerechtigkeit, strukturellen Rassismus und den Mut, laut zu sein – auch wenn es unbequem ist.
Mireille Ngosso über medizinische Gerechtigkeit, strukturellen Rassismus und den Mut, laut zu sein – auch wenn es unbequem ist.
© Suna Films

Sie ist Ärztin, Aktivistin, Autorin – und die erste afro-österreichische Frau im Wiener Landtag gewesen. Mireille Ngosso kennt die Systeme von innen und weiß, wo sie Menschen ausschließen: in der Politik, in der Medizin, im Alltag. Ihr neuestes Projekt: Mit dem Verein MedInUnity setzt sie sich für eine Medizin ein, die gerechter, vielfältiger und sensibler ist. Im Gespräch mit funk tank spricht die 45-Jährige über das Aufwachsen als junges Schwarzes Mädchen in Wien, über die koloniale Geschichte der Medizin und darüber, warum sie sich heute für eine diversitätssensible Gesundheitsversorgung starkmacht, die alle mitdenkt.

funk tank: Du bist mit vier Jahren aus dem Kongo nach Wien gekommen – erinnerst du dich an deine ersten Gefühle und Erlebnisse, die du mit Wien verbindest?

Mireille Ngosso: Meine ersten Erinnerungen an Wien sind stark von Staunen und Fremdheit geprägt. Ich war sehr klein, deshalb erinnere ich mich nur an wenige Szenen. Eine davon ist mir bis heute ganz präsent: wie meine Mutter mich voller Angst vom Schnee weggezogen hat, weil sie nicht wusste, was das ist und ob es gefährlich sein könnte. Meine Eltern waren in dieser Zeit generell sehr gestresst, neu in Wien anzukommen, nachdem wir zuvor im Flüchtlingslager Traiskirchen waren. Gleichzeitig spürte ich schon früh, dass ich „anders“ war – mit meiner Hautfarbe, meiner Sprache, meiner Geschichte. Und doch war da auch viel Neugierde und der Wunsch, schnell zu verstehen, wie dieses neue Leben funktioniert.

Was war als junges Schwarzes Mädchen in Wien das Schwerste – und was hat dir Kraft gegeben?

Das Schwerste war, dazuzugehören. Ich war immer „die Andere“ – wegen meiner Hautfarbe, die man sofort gesehen hat, und, wie ich heute weiß, auch weil ich neurodivergent bin. In der Schule wollte ich einfach untertauchen, so sein wie die anderen Kinder, nicht auffallen. Aber das war unmöglich, egal wie sehr ich mich angestrengt habe. Dieses Gefühl, ständig beobachtet und hinterfragt zu werden, war sehr belastend. Kraft gegeben hat mir vor allem die Musik: Ich habe gesungen, Klavier gespielt und mich generell künstlerisch ausgedrückt. Das war mein Rückzugsort, meine Stärkequelle.

Deine Eltern waren politisch aktiv. Wie war das als Kind für dich? Inwiefern hat das deinen Weg geprägt?

Ich habe sehr früh mitbekommen, dass Politik in unserem Leben immer präsent war – schon allein, weil meine Eltern aus der Demokratischen Republik Kongo fliehen mussten. Wir haben zuhause viel darüber gesprochen. Gleichzeitig wurde mir aber eingeimpft, mich hier zu ducken und bloß nicht aufzufallen. Dieses Spannungsfeld hat mich sehr geprägt: Einerseits zu verstehen, dass Ungerechtigkeit existiert, andererseits das Gefühl zu haben, dass ich sie nicht benennen darf. Dass ich heute genau das tue – meine Stimme erheben – ist auch eine bewusste Gegenbewegung zu dieser frühen Erfahrung

Du hast das Abendgymnasium gemacht, dann Medizin studiert. Du bist eine Kämpferin. Gab es Momente des Zweifels?

Ja, es gab viele Momente des Zweifels. Am Abendgymnasium habe ich oft nach der Arbeit im Klassenzimmer gesessen und war völlig erschöpft, aber wusste, dass ich durchhalten muss. Im Medizinstudium habe ich mich oft allein gefühlt – ich war eine der wenigen Schwarzen Frauen dort und hatte das Gefühl, mich ständig doppelt beweisen zu müssen, um ernst genommen zu werden. Diese Momente haben an mir gezehrt. Aber gleichzeitig haben sie meinen Willen gestärkt: Gerade weil so viele Menschen an mir gezweifelt haben, wollte ich es umso mehr schaffen. Musik und mein künstlerisches Schaffen haben mir in dieser Zeit sehr geholfen, einen inneren Anker zu haben.

Was hat dir in deiner Ausbildung gefehlt – speziell in Hinblick auf Diversität und interkulturelles Verständnis in der Medizin?

In meiner Ausbildung hat mir unglaublich viel gefehlt. Die Medizin, wie ich sie gelernt habe, war fast ausschließlich auf den weißen, männlichen Körper zugeschnitten. Frauen, People of Color oder unterschiedliche kulturelle Hintergründe kamen kaum vor. Und wenn People of Color erwähnt wurden, dann fast immer aus einer eurozentrischen Perspektive – oft exotisierend, selten realitätsnah.

Dahinter steckt auch die koloniale Geschichte der Medizin: Forschung, Lehre und Krankheitsbilder wurden über Jahrhunderte von Europa aus gedacht und geordnet – mit allen rassistischen Verzerrungen, die das mit sich bringt. Und vieles davon wirkt bis heute fort, in den Lehrbüchern, in der Praxis, in der Art, wie wir Patientinnen und Patienten wahrnehmen. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass in der Lehre fast alle Krankheitsbilder nur auf weißer Haut gezeigt wurden – obwohl Krankheiten auf schwarzer Haut oft völlig anders aussehen. Dieses fehlende Wissen kann in der Praxis lebensgefährlich sein.

Für mich wurde damals sehr klar: Wir brauchen dringend eine Medizin, die diese koloniale Geschichte aufarbeitet und Vielfalt endlich ernst nimmt.

Als Ärztin siehst du, wo Systeme Menschen vergessen. Wo spürst du besonders, dass Schwarze Frauen oder migrantische Frauen anders behandelt werden?

Sehr stark sehe ich das in der Gynäkologie. Schwarze Frauen haben zum Beispiel ein deutlich höheres Risiko, Myome zu entwickeln – und trotzdem wird das in Europa kaum thematisiert oder bagatellisiert. Viele Patientinnen leben jahrelang mit Schmerzen, ohne dass sie ernst genommen werden. Auch bei Schmerzen generell sehe ich Unterschiede: Beschwerden von Frauen, vor allem von Frauen of Color, werden oft heruntergespielt oder als „psychisch“ abgetan.

Das hat viel mit dem zu tun, was ich schon im Studium erlebt habe: ein eurozentrischer Bias. Die „Norm“ ist weiß, männlich, europäisch – alles, was davon abweicht, wird kaum beachtet oder falsch eingeordnet. Genau deshalb ist diversitätssensible Medizin für mich so zentral: Sie rettet Leben, weil sie endlich alle Perspektiven ernst nimmt.

Das Team von MedInUnity: Mireille Ngosso, Danielle Diarra, Karin Kapatais, Sibel Ada, Claudia Espinoza.
Das Team von MedInUnity: Mireille Ngosso, Danielle Diarra, Karin Kapatais, Sibel Ada, Claudia Espinoza © Pixelcoma
Du hast dich als Ärztin auf Frauenmedizin und Gendermedizin spezialisiert. Was macht diesen Bereich so spannend und wo gibt es noch Nachholbedarf?

Mich fasziniert an der Frauen- und Gendermedizin, dass sie sichtbar macht, was lange übersehen wurde: dass biologische Unterschiede, Genderrollen und gesellschaftliche Faktoren unsere Gesundheit entscheidend prägen. Ein Herzinfarkt äußert sich bei Frauen oft anders als bei Männern – aber jahrzehntelang galt das männliche Symptomprofil als „Norm“. Ich habe mich auf diesen Bereich spezialisiert, weil ich in meiner täglichen Arbeit gesehen habe, wie viele Probleme dadurch entstehen. Es sind extrem viele Menschen betroffen, die nicht adäquat behandelt werden, weil ihre Lebensrealität oder ihr Körper nicht ins traditionelle medizinische Raster passt.

Nachholbedarf sehe ich überall: in der Forschung, in der Lehre, in den Lehrbüchern und in der täglichen Praxis. Wir brauchen mehr Sichtbarkeit, mehr Empathie und vor allem die Bereitschaft, eine Medizin zu schaffen, die wirklich für alle Menschen da ist.

Gibt es ein Gespräch mit einer Patientin, das dir bis heute nicht aus dem Kopf geht?

Ja, ich erinnere mich an eine Patientin, die immer wieder zu mir kam und sagte: „Ich weiß, dass etwas mit meinem Körper nicht stimmt, aber niemand hört mir zu.“ Sie hatte starke Schmerzen, die lange nicht ernst genommen wurden – bis schließlich ein großes Myom festgestellt wurde. Dieses Gespräch hat sich bei mir eingebrannt, weil es so deutlich zeigt, wie gefährlich es sein kann, wenn Patientinnen nicht gehört werden. Gerade Frauen, besonders Frauen of Color, erleben viel zu oft, dass ihre Beschwerden abgetan oder als übertrieben dargestellt werden. Für mich war das ein Schlüsselmoment: Medizin muss zuhören, ernst nehmen und individuell hinschauen. Nur so entsteht wirkliche Heilung.

2020 hast du Black Lives Matter Wien mitorganisiert. Woran erinnerst du dich am liebsten aus dieser Zeit? Was hat sich seitdem verändert und was konnte bewegt werden?

Es war ein absoluter Mega-Moment. Wir hatten niemals mit so einer großen Anzahl an Menschen gerechnet – und als ich am Omofuma-Platz stand und diese Menschenmenge sah, war das überwältigend. Diese Energie, diese Solidarität, das Gefühl, dass wir nicht alleine sind, werde ich nie vergessen.

Seitdem ist das Thema Rassismus in Österreich sichtbarer geworden. Vor allem finde ich wichtig, dass Betroffene heute viel öfter selbst sprechen und ihre Erfahrungen öffentlich teilen können. Gleichzeitig bleibt aber noch sehr viel zu tun: Einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus gibt es bis heute nicht, und strukturell ist das Thema noch nicht ausreichend verankert.

Ein kleiner Meilenstein für mich persönlich war, dass ich es als Landtagsabgeordnete geschafft habe, am Internationalen Tag gegen Rassismus eine offizielle Veranstaltung im Wiener Rathaus zu organisieren. Das war für mich ein starkes Signal, dass diese Themen auch in den politischen Institutionen Platz haben müssen.

Mireille Ngosso
© Suna Films

Die „Norm“ ist weiß, männlich, europäisch – alles, was davon abweicht, wird kaum beachtet oder falsch eingeordnet. Genau deshalb ist diversitätssensible Medizin für mich so zentral: Sie rettet Leben, weil sie endlich alle Perspektiven ernst nimmt.

Du warst die erste afro-österreichische Frau in der Bezirksvertretung und dann im Wiener Landtag. Ein mutiger, nicht immer leichter Weg. Was nimmst du aus dieser Zeit mit und warum hast du dich schlussendlich aus der Politik zurückgezogen?

Für mich war es ein historischer Moment, in diese Funktionen gewählt zu werden – und gleichzeitig eine große Verantwortung. Ich habe gespürt, dass viele junge Schwarze Menschen und gerade Mädchen auf mich geschaut haben und gesehen haben: „Da ist jemand wie ich, der in den politischen Institutionen sitzt.“ Diese Sichtbarkeit war mir sehr wichtig.

Gleichzeitig war es auch ein sehr harter Weg. Politik in Österreich ist geprägt von starken Machtstrukturen, wenig Diversität und einem Klima, das für Frauen of Color oft besonders belastend ist. Ich habe viel gelernt, aber auch erfahren, wie sehr es an Offenheit fehlt.

Zurückgezogen habe ich mich nicht, weil ich leiser werden wollte – sondern weil ich gemerkt habe, dass ich außerhalb der Parteipolitik manche Themen freier und wirksamer voranbringen kann. Für mich war es eine bewusste Entscheidung, neue Wege zu gehen, ohne meine Stimme zu verlieren.

Eben, du bist nach wie vor laut und sichtbar, daher aber auch angreifbar. Was machst du, wenn dir alles zu viel wird?

Es gibt Momente, in denen mir alles zu viel wird – das gehört dazu, wenn man so sichtbar ist. In solchen Zeiten ziehe ich mich bewusst zurück. Ich verbringe Zeit mit meinen Kindern und engen Freunden und Freundinnen, gehe in die Natur oder spiele Klavier. Die Musik als Kraftquelle ist mir geblieben.

Ich habe auch gelernt, dass ich nicht immer stark sein muss. Pausen, Ruhe und auch das Zulassen von Verletzlichkeit sind genauso wichtig wie das Kämpfen und Lautsein. Das gibt mir die Balance, um wieder mit voller Energie weitermachen zu können.

Dein Lebensmotto?

„Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.“ Dieses Zitat begleitet mich schon sehr lange. Für mich bedeutet es: Ich kann nicht nur fordern, dass sich Strukturen oder die Gesellschaft ändern – ich muss selbst anfangen, das vorzuleben, wovon ich überzeugt bin. Und manchmal heißt das, unbequem zu sein, laut zu sein oder gegen Widerstände anzukämpfen. Aber es heißt genauso, achtsam mit mir selbst zu sein, Pausen zuzulassen und mir treu zu bleiben. Genau diese Mischung aus Haltung, Mut und Selbstfürsorge ist das, was mich trägt.

Mireille Ngosso ist Allgemeinmedizinerin und Expertin für diversitätssensible Medizin und Gendermedizin. Als Co-Autorin von „Für alle, die hier sind“ & „War das jetzt rassistisch?“, ehemalige Landtagsabgeordnete und Aktivistin (u. a. Black Lives Matter) bringt sie politische Perspektiven in medizinische Räume. Mit dem Verein MedInUnity setzt sie sich für eine Medizin ein, die gerechter, vielfältiger und sensibler ist. Keynotes von MedInUnity zu intersektionaler Gesundheit gibt es live am 10. Oktober ab 17 Uhr in der Wiener Urania.

Mireille Ngosso – Instagram

MedInUnity – Instagram

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Alicia Weyrich
arbeitet als Journalistin, Texterin und PR-Beraterin in Wien. Neben dem geschriebenen Wort liebt sie die Musik, das Meer, gutes Essen sowie Zeit mit ihren Lieblingsmenschen.

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