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Musik zum Denken und Fühlen

Seit den Nullerjahren ist Kettcar die verlässliche Konstante der Hamburger Musikszene. Melodische Hymnen, politische Kampfansagen, poetische Liebeserklärungen – das Repertoire der Band ist so groß, wie die Fangemeinde in Wien. Nach dem ausverkauften Konzert in der Arena im April folgt ein Auftritt im Juli. funk tank hat Reimer Bustorff von Kettcar zum Interview getroffen.
Bandfoto Hamburger Musiker Kettcar
© Andreas Hornoff

Mit dem sechsten Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ meldete sich Kettcar nach sieben Jahren Albumpause im April zurück. Das aktuelle Album nennt die Band selbst einen „Gemischtwarenladen“, denn hier findet sich sowohl harter Post-Punk als auch ruhige Romantik. Was nie fehlt: Texte zum Nachdenken mit viel Tiefgang …

funk tank: Wer Kettcar kennt und schätzt, liebt vor allem auch die Kombination aus Leichtigkeit und Tiefe eurer Texte und Musik – inwiefern hat sich euer Zugang zum Musikmachen und Texten im Laufe der Jahre verändert? Auch hinsichtlich Gesellschaftskritik und Politik?

Reimer Bustorff: Das hängt einfach mit der jeweiligen Lebenssituation zusammen. Wir haben mit der Band angefangen, als wir Anfang der 30er waren. Marcus war mit seinem Studium fertig, ich habe mein Studium abgebrochen, weil wir dann das Label gegründet haben (Anm. d. Red.: Grand Hotel van Cleef). Beziehungen gingen auseinander. Da war ganz viel privat im Umbruch und es hat sich viel um einen selbst gekreist und das spiegelte sich dann auch in den Texten wider. Jetzt befinden wir uns in einer anderen Lebenssituation, jetzt hat man irgendwie seinen Weg gefunden.

Das aktuelle Album ist ja sehr politisch und gesellschaftskritisch. Ist es euch wichtig geworden, auch Aufklärungsarbeit zu betreiben?

Wir waren schon immer politisch denkende Menschen, wir haben uns mit Kettcar von Anfang an positioniert und das war uns seit jeher wichtig, aber der Blick auf die Gesellschaft hat sich verändert und erweitert und daher ist das jetzt auch Thema in unseren Texten. Die Aufklärungsarbeit passiert, niemand von uns ist missionarisch unterwegs, die Dinge kommen aus uns raus und wir schreiben nieder, was wir fühlen. Das ist ja diese ewige Diskussion, was und ob man was mit der Musik erreichen möchte. Uns ist schon klar, dass wir die Welt nicht verändern oder Frieden stiften können. Durch meine Sozialisation kann ich aber sagen: Hätte es Bands wie Fugazi oder Bad Religion nicht gegeben, wäre ich jetzt nicht hier. Insofern kann Musik schon Denkanstöße geben und so manch verlorene Seele retten bzw. ranholen.

Euer neues Album ist seit 5. April draußen! Gratulation dazu! Nach sieben Jahren Pause haut ihr so ein großartiges Ding raus. Mit Lyrics, aus denen man ein Buch machen könnte. Da tun die Texte manchmal weh, weil sie so treffend sind und man spürt so viel Emotion. Wie lange habt ihr am Album gearbeitet und wie leicht ist es euch gefallen?

Vielen Dank! Sieben Jahre Pause ist immer so ein großes Wort, stimmt natürlich nicht ganz, denn wir waren auch umtriebig nach dem letzten Album. Wir waren dann noch auf Tour, haben eine EP rausgebracht, haben Musik fürs Theater gemacht – „Kabale und Liebe“ von Schiller in Kiel. Dann kam die Pandemie und wir waren ein bisschen bequem. Natürlich hatten wir auch Druck, denn je länger du wartest mit dem neuen Album, umso größer wird die Erwartungshaltung von allen. Das Schöne ist, dass wir den Druck auf fünf Schultern verteilen können als Band. Wir haben vor ca. vier Jahren mit dem Album begonnen und dann gemeinsam daran gearbeitet.

Die Hamburger Band Kettcar
Kettcar sind: Christian Hake, Erik Langer, Marcus Wiebusch, Reimer Bustorff und Lars Wiebusch © Andreas Hornoff
Die Texte stammen von dir und Marcus?

Marcus ist eigentlich federführend und wir beide stecken dann die Köpfe zusammen. Wir machen viel zusammen, wir gehen zum Fußball, auf Konzerte, reden viel und versuchen dann, Themen zu finden, um uns einzunorden, wo die Reise hingehen soll. Jetzt ist es thematisch ein ganz schöner Gemischtwarenladen geworden (lacht).

Gibt es auch Streit und Unstimmigkeiten in so einem Prozess?

Streit will ich das nicht nennen, aber es gibt schon immer wieder Reibungspunkte, wo wir nicht klar beieinander sind. Es kann über Diskussionen hinausgehen, aber wir besprechen das dann in der ganzen Band. Ich schmeiße z. B. einen Text in die Runde und die anderen geben Feedback und so entsteht das Ganze dann, Stück für Stück. Und befruchtet sich. Man muss da natürlich manchmal Eitelkeiten über Bord werfen und das Ego zurückschrauben. Das ist nicht immer einfach, aber dessen sind wir uns bewusst.

Ihr seid einfach schon erfahren und lange zusammen.

Genau. Und erwachsen und vernunftbegabt. Es ist Wahnsinn (lacht).

Wie nehmt ihr die ersten Reaktionen aufs Album und die Tour wahr, seitens Publikum und Presse?

Eigentlich gibt es nur positives Feedback bisher. Das ist sehr schön.

Viele Musiker*innen in Deutschland haben gedacht, sie müssen nach Berlin gehen, um erfolgreich zu werden, da gab es ja einen Hype um die Stadt eine Zeit lang. Ihr seid in Hamburg geblieben. Was kann Hamburg, was Berlin nicht kann und umgekehrt? Welches Umfeld braucht es, um kreativ sein zu können?

Das ist eine schwierige Frage. Es braucht definitiv Raum und diesen Ort muss man suchen und finden. Diesen Raum gab es Anfang der 00er-Jahre in Berlin viel mehr, weil da viel Leerstand war, wo dann viele Partys und auch Musik gemacht wurden. Aber das ändert sich gerade, weil Berlin so wahnsinnig gentrifiziert wird. Das haben wir in Hamburg schon hinter uns. Ich fühle mich in Hamburg immer noch wohl, das ist immer noch unsere Stadt. Da haben wir die Plattenfirma, da haben wir unseren Proberaum, wir haben da eine perfekte Infrastruktur.

Reimer Bustorff im Interview in der Arena Wien
Reimer Bustorff im (unbewohnten) Schlafsaal der Wiener Arena im Interview mit funk tank © Alicia Weyrich

Hätte es Bands wie Fugazi oder Bad Religion nicht gegeben, wäre ich jetzt nicht hier. Insofern kann Musik schon Denkanstöße geben und so manch verlorene Seele retten bzw. ranholen.

Euer heutiges Konzert in Wien war sofort ausverkauft, daher gibt es am 25. Juli ein Zusatzkonzert in der Arena. Ich bin ja der größte Hamburgfan ever und finde, dass gerade, was den morbiden Humor und die Herzlichkeit betrifft, die ja da ist, aber die man sich ein bisschen erarbeiten muss, Wien und Hamburg verbindet. Welchen Bezug habt ihr zu Wien und den Wiener*innen?

Also für uns als deutschsprachige Band, die wenig rumkommt, ist es immer was Besonderes ins Ausland zu kommen. Wir spielen ja quasi immer in denselben Städten. Österreich und Schweiz sind da die Exoten für uns. Bei Wien lieben wir dieses Flair, es ist alles so gelassen und eine andere Lebensart. Wir waren vorher Fußball gucken im Lokal Jetzt und der Wirt war so herzlich, das ist schon sehr schön.

Zusammen mit Thees (Anm. d. Red.: Sänger und Autor Thees Uhlmann) und Marcus betreibst du das Hamburger Indie-Label Grand Hotel van Cleef. Was muss ein Künstler/eine Künstlerin haben, damit er/sie bei euch gesigned wird?

Wir entscheiden das meistens vom Herzen aus und gemeinsam, wir sind ja neben Thees und Marcus und mir noch ein größeres Team. Wir haben schon unterschiedliche Geschmäcker und Ansichten, wie was funktionieren kann. Es muss vor allem auch menschlich stimmen und wir gut miteinander klarkommen. Und ganz wichtig ist, dass die Idee, wohin man will, im Einklang ist. Als Künstler*in will man sofort mal eine Platte rausbringen. Und dann müssen wir vom Gas runter und sagen: Vielleicht zuerst mal auf Tour gehen und Konzerte spielen. Und überlegen: Wie finanzieren wir das? Rechnet sich das? Fast jede/r will ja davon leben können, das ist ein weiter Weg. Da gehört auch viel Glück dazu, nicht nur Talent. Wir haben das selber mit Kettcar auch erfahren, wir hatten auch Glück, dass wir zur richtigen Zeit den richtigen Sound gefunden haben und dann passte das auch fürs Gefühl für viele Leute. Das passiert halt nicht immer. Ich habe im Laufe der Label-Arbeit schon tolle Künstler*innen gesehen, wo dann nach dem 2. Album nichts mehr gelaufen ist und zu wenige Leute zu den Konzerten gekommen sind.

Welche Musiker*innen hörst du gerade am liebsten? In welche Platte müssen wir unbedingt hineinhören?

Shitney Beers, die hatten wir jetzt mit auf Tour. Die ist umwerfend, wahnsinnig charmant und charismatisch, die liegt mir sehr am Herzen. Und Christin Nichols ist bei uns auch mit auf Tour, wirklich toll, ein bisschen poppiger als Shitney, die mehr in die Indie-Richtung geht.

Endlich mehr Frauen auf Bühnen! Und überhaupt: Mehr Frauen im Musik-Biz!

Ja unbedingt, auch bei der Label-Arbeit haben wir früher immer nur mit Typen zu tun gehabt. Wir schauen jetzt im Büro, dass wir auch Frauen im Team haben, wir bilden ja auch aus als Veranstaltungskauffrau/Veranstaltungskaufmann. Wir teilen uns das Büro auch mit zwei Grafikerinnen, das ist wichtig für die Balance und Diversität.

Kettcar ist eine Indie-Rock-Band aus Hamburg. Ihr sechstes Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist im April erschienen. 12 Songs, die unter anderem Geschichten von, auf und über Bayreuth, Krankenhauszimmern, Rügen, dem Supermarkt, der Enterprise und der Blauen Lagune erzählen. Mal die Faust in der Tasche, mal das Herz im Hals – schroffe Post-Punk-Gewitter, Akustisches und Sprechgesang. Mit dem sechsten Studioalbum gastiert die Band diesen Sommer in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Am 25.7. spielen Kettcar in der Wiener Arena (Open Air), am 29.7. in Graz (Kasematten) und am 31.8. in Linz (Posthof) zusammen mit Thees Uhlmann.

Kettcar

funk-tank-magazin-alicia-weyrich-by-stefan-diesner-3
Alicia Weyrich
arbeitet als Journalistin und Werbetexterin in Wien. Neben dem geschriebenen Wort liebt sie die Musik, das Meer, gutes Essen sowie Zeit mit ihrer Familie, ihren Freund*innen und ihren Tieren.

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