„Das Kanu des Manitu“: Bullys Rückkehr in den Wilden Westen

So, jetzt geht noch einmal jeder aufs Klo, und dann reiten wir los.“ – „Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden.“ – „Grabt den Klappstuhl aus!“ – „Halt doch die Klappe, du Zipfelklatscher!“ Diese Filmzitate aus dem Jahr 2001 haben sich ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation eingebrannt. Nicht umsonst ist Michael Bully Herbigs „Der Schuh des Manitu“ bis heute mit 11,7 Millionen Kinobesucher*innen der erfolgreichste deutsche Kinofilm der Nachkriegszeit. Es war seine zweite große Regiearbeit nach „Erkan & Stefan“ und die erste gemeinsame Komödie mit Christian Tramitz und Rick Kavanian.

Das Trio infernale, das ab 1997 mit der „Bullyparade“ das deutsche Fernsehen eroberte, machte damals genau das, was es auch im zweiterfolgreichsten deutschen Film „(T)Raumschiff Surprise – Periode 1“ (2004) und in einigen weiteren Kinofilmen tat: Es nahm ein bestimmtes Genre – hier die in den 1960ern von Harald Reinl gedrehten „Winnetou“-Filme und andere Western – und zog es erbarmungslos durch den Kakao. Kein neues Konzept (die britische Komikertruppe Carry On hatte das in den 1960ern und 1970ern schon auf die Spitze getrieben), aber sehr erfolgreich.

Der Witz bei „Der Schuh des Manitu“ liegt zum Teil darin, dass Reinl selbst schon einige komische Elemente benutzt hat, mit denen er die von ihm verfilmten Bücher von Karl May ein wenig verändert hat. Obwohl der deutsche Schriftsteller, der nie selbst im Wilden Westen war, in seinen Abenteuerromanen ein Bild von edlen Wilden zeichnete, waren diese in den Büchern viel wilder und brutaler als Pierre Brice (der weiße Franzose, der in den 1960ern den Apachen-Häuptling Winnetou spielte und „Der Schuh des Manitu“ nicht mochte) oder die anderen guten Figuren in Reinls Filmen.

24 Jahre später kehren Bully und seine Mit(st)reiter zurück in den Wilden Westen – allerdings haben sich die Vorzeichen geändert. Denn während im Jahr 2001 höchstens darüber diskutiert wurde, ob die Pointen in dieser Parodie auf Reinls „Winnetou“-Verfilmungen tiefsinnig-witzig oder doch bloß brachial-flach waren, wird heutzutage bereits vor dem Kinobesuch die schwerwiegende Grundsatzfrage gestellt: Darf man im Jahr 2025 überhaupt einen Film zeigen, in dem ein Native American als tuntiger Schwuler dargestellt wird? Und das noch von einem heterosexuellen Cis-Mann? Darf man überhaupt Witze über Native Americans und die Kolonialisierung Nordamerikas durch europäische Siedler und deren Nachkommen machen und dann auch noch das I-Wort in den Mund nehmen? Woher nimmt dieser Herr Herbig aus Bayern überhaupt die Frechheit, sich als Native American zu verkleiden? Rick Kavanians drollig-doofer Grieche Dimitri wurde in den meisten Artikeln zu diesem Thema bisher kaum erwähnt.

Nicht ohne Winnetouch

All diese Debatten prallen an Bully ab – so scheint es zumindest. Weil er von dem überzeugt ist, was er und seine Blutsbrüder hier tun. Deshalb hat der Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller auch „keine Pointe, die wir alle drei genial fanden, gestrichen“. Er betont aber auch, dass es ihm rein um die Unterhaltung geht und nicht um die Provokation. „Wir wollen miteinander lachen und nicht übereinander.“ Das gilt auch für Abahachis schwulen Zwillingsbruder Winnetouch, den Bully als „die liebenswerteste und emanzipierteste Figur im ersten Teil“ beschreibt. Deshalb war klar, dass er im „Kanu des Manitu“ wieder diese Doppelrolle übernehmen würde. Genauso musste auch Rick Kavanians Figur Dimitri mit seinen lustigen, zusammengesetzten Wörtern auf jeden Fall wieder dabei sein. Wenn man „Der Schuh des Manitu“ nochmal genau anschaut, muss man Bully rechtgeben: Winnetouch ist zwar sehr übertrieben dargestellt, und es wäre verständlich, wenn es in der queeren Community Kritik gäbe. Trotzdem ist die Figur viel cleverer als Abahachi und Ranger zusammen. Das wird im „Kanu des Manitu“ noch stärker gezeigt – Winnetouch ist eine coole Persönlichkeit.

Der eigentliche Held im „Schuh des Manitu“ war aber der große Bösewicht. Denn wie Sky du Mont seine Rolle als Santa Maria anlegte, war wirklich ganz großes Kino. Allein die Szene, in der sich der müde John kurz vor dem Aufbruch gegen seinen Bandenführer stellte, und die Gags, die daraus entstanden, machten die Genialität des Drehbuchs deutlich. Umso gespannter durfte man nun sein, wie Bully seinen alten Freund Sky (78) jetzt im „Kanu des Manitu“ einbauen würde, war doch Santa Maria im „Schuh des Manitu“ ja scheinbar verunglückt. Aber wie es halt so ist: Totgesagte leben länger, und der Wilde Westen ist voller Überraschungen.

Wildwest- statt Weihnachtsfilm

Die größte Überraschung ist freilich der Film selbst. Denn dass er jemals eine Fortsetzung drehen würde, damit hatte Bully eigentlich nicht mehr gerechnet – bis zu jenem 11. August 2022, an dem er mit Tramitz und Kavanian einen geplanten Weihnachtsfilm besprechen wollte. Irgendwann im Verlauf des Gesprächs meinte Tramitz, es sei eigentlich schade, dass sie nie einen zweiten Apachen-Film gedreht hätten. Es war eigentlich eine eher beiläufige Bemerkung, „als wenn man sagt: Lasst uns eine Pizza bestellen“, sagt der Ranger-Darsteller im Rückblick. Aber Bully bereitete er damit eine schlaflose Nacht, an deren Ende feststand: Es wird eine Fortsetzung geben, und sie wird „Das Kanu des Manitu“ heißen, weil sich der Titel auf jeden Fall reimen soll. Und neben einem fahrenden Zug und einer Postkutsche spielt eben auch das Wasser eine wichtige Rolle. Aber bis die Idee filmreif war, vereinbarten die drei absolutes Stillschweigen über das Projekt, sodass der Start der Dreharbeiten im vorigen Jahr dann doch eine echte Überraschung war.

Schließlich war dem Trio klar: Wenn sie im Jahr 2025 noch so einen Klamaukfilm bringen wie 2001, dann ist es erstens nicht weit zum woken Shitstorm, und zweitens – was wohl schwerer wog – erwarten ihre Fans etwas wirklich Großes und keinen müden Abklatsch. Das ist ja immer das Risiko bei Fortsetzungen, zumal mit so viel zeitlichem Abstand.

Wir wollen miteinander lachen und nicht übereinander.

Gewohnte Parodien und Referenzen

Diese Gefahr besteht allerdings nicht, weil auch im neuen Film Bullys Liebe zu Zucker-Abrahams-Zucker-Komödien auf Tramitz’ tiefschwarzen Humor und Kavanians Hang zur Stand-up-Comedy trifft. Wer den alten Film mochte, wird auch den neuen mögen. Wenn zwei Bayern in den Weiten der amerikanischen Prärie jodeln, ein Lokomotivführer Lukas heißt und Blutsbrüder mitten im Feuergefecht zanken wie ein altes Ehepaar, dann sind wir mitten in einem Bully-Film. Und zwischen den vielen kleinen und großen Gags sind auch manche Easter Eggs aus anderen Bully-Komödien versteckt. Nur in Sachen Anspielungen auf Native Americans halten sich Bully und sein Team diesmal tatsächlich zurück und parodieren stattdessen lieber einzelne Szenen aus ganz verschiedensten alten und neuen Filmklassikern. Man muss den Film mehrmals sehen, um alle zu erkennen, die Bandbreite reicht von „Hasch mich, ich bin der Mörder“ bis „Ocean’s Eleven“. Natürlich kommen aber auch die Reinl-Vorlagen nicht zu kurz. Und ja, es ist eine Wildwest-Komödie, aber in Wahrheit würde sie auch in einem anderen Genre genauso funktionieren.

Dazwischen ist „Das Kanu des Manitu“ voller Referenzen auf den „Schuh des Manitu“, seitdem sich die Figuren weiterentwickelt haben. Wir erfahren zum Beispiel, was aus Rangers Kind geworden ist, und Dimitri erlebt einen sozialen Aufstieg: Er hat jetzt eine neue, größere Taverne, fährt eine Kutsche statt einen störrischen Esel hinter sich herzuziehen, und kriegt sogar das Mädchen – Jasmin Schwiers drückt als Nachfolgerin von Marie Bäumer dem Film ihren Stempel auf, indem sie so gut wie jede Situation rettet. Und diesmal gibt es noch eine zweite starke Frau: Jessica Schwarz spielt die Anführerin einer aufstrebenden, aber noch namenlosen Bande, die Abahachi und Ranger eine Falle stellt, um selbst endlich zum erhofften Reichtum zu kommen.

Dafür kommt ihnen Friedrich Mücke als einäugiger, aber scharfsinniger Sheriff gerade recht. Wie ernsthaft Bully bei aller Blödelei an seinen Film heranging, wird deutlich, wenn er erzählt, welche Gedanken er sich über Mückes Outfit machte. Er wollte nämlich verhindern, dass dessen Rolle im DDR-Flüchtlingsdrama „Ballon“ (2018) in irgendeiner Form durch den Auftritt im „Kanu des Manitu“ leiden könnte. Ebenso holte er sich erst von der Witwe deren Einverständnis, ehe er die Stimme des 2011 verstorbenen Erzählers von 2001, Friedrich Schoenfelder, mittels KI auch in der Fortsetzung zu Wort kommen ließ. Apropos Produktion: Bemerkenswert ist, dass die Schieß-Spezialeffekte just Dirk Lange beaufsichtigte. Sein Großvater Erwin Lange war der Pyrotechniker der hier persiflierten Reinl-Produktionen, in denen Revolver, Silberbüchse und Henry-Stutzen knallten.

Neu im Kino: „Das Kanu des Manitu“ mit Jessica Schwarz
„Das Kanu des Manitu“ mit Jessica Schwarz © herbX film/Constantin Film/Luis Zeno Kuhn

Ein echter Apachen-Stamm

Genauso kam Redfacing für Bully nicht in Frage. Maskenbildner Georg Korpás sorgte lediglich dafür, dass Tramitz mit seinem ohnehin sonnengegerbten Teint nicht dunkler wirkt als Bully in seinen Apachen-Kostümen. Viel zu tun hatte Korpás auch bei Kavanian, der ebenfalls eine Doppelrolle spielt: Neben Dimitri gibt er auch den sächselnden Deputy des Sheriffs auf einem eigenwillig gebauten Pferd, das eigentlich durch Zufall bei ihm landete, weil es für Bully nicht passte. „Es ist klein, sieht aus wie ein Dackel, aber es passt zu mir.“ Viel reiten muss er darauf aber nicht, im Gegensatz zu Bully und Tramitz. Dass sie es mit ihren 57 beziehungsweise 70 Jahren beide noch draufhaben, beweisen sie in rund 60 Reitszenen. Wenn Bully nicht gerade über einen fahrenden Zug springt.

Die meisten Szenen haben sie im spanischen Almería absolviert (dem Hauptdrehort neben den Münchner Bavaria-Studios), einige aber auch in den USA, konkret im Norden von New Mexico. Denn Bully wollte eine Schlüsselszene unbedingt dort drehen, und zwar mit echten Native Americans. Weil er die kroatischen Komparsen aus den Reinl-Filmen eben nicht mit spanischen Komparsen parodieren wollte. Und so stand in seinem Apachen-Film tatsächlich im Finale ein authentischer Apachen-Stamm vor der Kamera, während Bully einen Weg fand, bei seinen eigenen Filmfiguren den Vorwurf der kulturellen Aneignung zu entkräften. Weil er die Wokeness-Debatte offenbar doch auf seine Weise ernst genommen hat – z. B. wenn ein Bandenmitglied mit Holzprothese Inklusion erfährt, die Bandenchefin um Emanzipation kämpft und Abahachi nicht nur einmal fordert: „Sagen S’ bitte net Indianer!“

Übrigens: Der inoffizielle erfolgreichste deutsche Film aller Zeiten war „Otto – Der Film“ mit knapp 14 Millionen Kinobesucher*innen. Allerdings wurden jene in der DDR im offiziellen Ranking nicht berücksichtigt. Was Otto Waalkes’ Komödie aus dem Jahr 1985 mit dem „Schuh des Manitu“ und dem „Kanu des Manitu“ verbindet: In allen drei ist Sky du Mont zu sehen. Und Bully wie Otto sind ihrem Humor über die Jahrzehnte treu geblieben. Egal, was ihre Kritiker*innen daran auszusetzen haben.

„Das Kanu des Manitu“ (2025) ist die Fortsetzung von „Der Schuh des Manitu“ (2001), dem erfolgreichsten deutschen Nachkriegsfilm, und vereint erneut Michael Bully Herbig, Christian Tramitz und Rick Kavanian. Abahachi, Ranger, Winnetouch und Dimitri kehren in ein neues Wildwest-Abenteuer zurück, in dem eine mysteriöse Bande, eine Falle am Fluss und ein Kanu voller Geheimnisse für Chaos sorgen – und am Ende sogar ein echter Apachen-Stamm eine Schlüsselrolle spielt.

Kinostart: 14. August 2025 in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Das Kanu des Manitu

Kabarettpreis 2025: Sieger*innen-Portrait Teil 2: Der Kuseng

Du hast keine Chance – nutze sie. Das könnte das Motto der Künstlerkarriere von Kian Kaiser alias Der Kuseng sein, dem soeben der Förderpreis beim Österreichischen Kabarettpreis für sein Solodebüt „Hoamatland, Hoamatland“ zuerkannt wurde. Neben Berni Wagner (Hauptpreis) ist er heuer der zweite Preisträger aus Oberösterreich. Dabei, meint er im Gespräch mit funk tank, hatte er jede Menge Startnachteile: mit einer Iranerin als Mutter und einem Vater, der in der Türkei geboren wurde, dessen Eltern aber aus Georgien und Russland stammten.

„Ich glaube, jede Familie hat gewisse Traditionen – und unsere Familientradition ist es offenbar, auf der Flucht zu sein.“ Er sieht darin sogar etwas Positives, „weil es mir zeigt, dass meine Vorfahren optimistische Menschen waren, die sich nicht einfach ihrem Schicksal ergeben haben, sondern nach vorne geschaut haben, nach dem Motto: Hier ist es scheiße, schauen wir, wo es besser ist.“ Natürlich sind die Erfahrungen, die man dann macht, nicht immer positiv – vor allem, wenn man nicht nur Flüchtling, sondern auch noch eine trans* Person ist wie Kian. „Umso schöner fand ich dann den Moment, als ich angerufen und gefragt wurde, ob ich den Kabarettpreis annehmen möchte, weil ich nie wirklich die Zielgruppe für Erfolg war, sondern eher die Fußnote in irgendwelchen Integrationsstatistiken“, sagt der Autodidakt, der auf der Bühne steht – nicht weil, sondern obwohl er so ist, wie er ist. Und bei aller Freude schwingt auch ein bisschen Wehmut mit: „Viele andere mit ähnlich großem Talent werden vielleicht nie entdeckt und bekommen nie diese Chance.“

Vom Rap zum Kabarett

Der Kuseng jedenfalls hat seine Chance genutzt. Nach Poetry-Slam, Rap und einem Buch über die feministisch-queere Hip-Hop-Szene hat der 35-Jährige sich heuer auch auf die Kabarettbühne gewagt. Warum er sich dabei gerade diesen Künstlernamen ausgesucht hat? War es vielleicht gar ein größenwahnsinniger Vorgriff darauf, dass Kian auch gleich Deutschland erobern möchte – und das kann ein Kuseng halt besser als ein Cousin? Kian lacht und erklärt: „Ich bin tatsächlich sehr viel mit deutschem Fernsehen groß geworden, aber mir ging es eigentlich darum, einen Künstlernamen zu finden, der einer gewissen sozialen Klasse zugeordnet wird. Und mit ‚Der Kuseng‘ assoziiert man jetzt nicht unbedingt als Erstes Kabarett, das ja eine Kulturinstitution ist, die doch mittlerweile zur Hochkultur gezählt wird. Ich fand es schön, mit diesem Bruch zu spielen.“

Womit er auch gerne spielt, das ist die Sprache. Schließlich war Kian in der politischen Öffentlichkeitsarbeit tätig, „da waren Sprache und Sprechen immer Werkzeuge für mich“. Von daher war der Schritt zum Kabarett, in dem er eine gewisse Form der politischen Kommunikation sieht, dann gar nicht so ein großer. Es ist für ihn eine politische Waffe „mit einer Schaumstoffspitze – sie tut nicht weh, aber sie trifft trotzdem. Und im besten Fall bringt sie Menschen dazu, eigene Überzeugungen zu hinterfragen.“
„Wenn ich auf einer Bühne stehe, bin ich automatisch politisch“, meint Kian, der Menschen auch Lebensrealitäten zeigen möchte, mit denen sie sonst nichts zu tun haben – aber nicht belehrend, sondern verbindend.

„Gute und schlechte Sprachen“

Sprache ist für ihn ein Schlüssel – und gleichzeitig auch ein Schloss, weil man damit Menschen aussperren kann. Das betrifft nicht nur Nationalsprachen, sondern auch das Niveau, in dem gesprochen wird, „etwa in akademischen Texten oder auch in Kabarettprogrammen“. Darauf versucht Der Kuseng in seinem Bühnenprogramm Rücksicht zu nehmen und benutzt deshalb „kein Vokabular, das nur Migras oder Queere verstehen“, damit sich wirklich alle abgeholt fühlen – auch die, denen die Welt, um die es gerade geht, fremd ist. „Das ist ein zentraler Aspekt meines Stücks: Ich will wirklich Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten zusammenbringen – und wenn die gemeinsam in einem Raum sitzen und gemeinsam lachen können, dann verstehen sie auch einander.“

Geprägt haben ihn dabei seine eigenen Erfahrungen als Ausländerkind: „Es gibt bei uns in den Köpfen der Menschen gute und schlechte Fremdsprachen und gute und schlechte Ausländer*innen – zu Letzteren werden Menschen mit meiner Herkunft eher gezählt. Und wenn ich sage, dass ich Französisch spreche, wird das anders aufgenommen, als wenn ich sage, dass ich Türkisch kann.“
Dazu muss man wissen: Kian, der seit seinem zehnten Lebensjahr die österreichische Staatsbürgerschaft hat, beherrscht insgesamt fünf Sprachen: Persisch, Türkisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Die ersten beiden bekam er von daheim mit, die dritte im Kindergarten und die letzten beiden in der Schule. „Verschiedene Sprachen zu sprechen“, ist er überzeugt, „ist der größte Schatz, den man haben kann, weil man damit die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann.“

Ich war nie die Zielgruppe für Erfolg – eher die Fußnote in Integrationsstatistiken.

Ein emotionales Gastspiel

Eine neue Perspektive hat sich Kian auch bei der Suche nach seinem Lebensmittelpunkt gesucht, den er fürs Erste in Wien gefunden hat. Wobei er klarstellt, dass das „Hoamatland“ Oberösterreich ihm sehr oft den Rücken zugekehrt hat. „Ich verbinde damit sehr viel Schönes: die Natur, ich habe mich dort zum ersten Mal verliebt, aber ich habe dort auch zum ersten Mal Rassismus erlebt, als ich ein paar Jahre alt war.“
Er kommt aber immer wieder nach Oberösterreich zurück und hat etwa sein Programm auch in Vöcklabruck in jenem Flüchtlingsheim gespielt, in dem er einst mit seinen Eltern angekommen war. „Das war ein sehr bewegender Auftritt, weil es ein Zurückkommen war, wieder mit einem Koffer in der Hand – aber diesmal haben Menschen dafür bezahlt, dass sie mich sehen. Das war schon sehr emotional.“

Sichere Orte für queere Personen

Und dann ist da noch das zweite große Thema neben Heimat, Integration und Rassismus, dem Der Kuseng in seinem Kabarettprogramm Raum gibt: Dass Kian trans* ist, spricht er nicht nur offen an, sondern er widmet diesem Umstand auch gleich mehrere bissige Pointen. Wer davon irritiert ist, sollte den Kabarettisten fragen, was im Vergleich dazu trans* Personen an Schamlosigkeit serviert bekommen – und zwar nicht auf der Bühne, sondern ganz im Privaten.
Kian macht jedenfalls die Situation queerer Menschen Sorgen, die immer mehr Anfeindungen und Gewalttaten ausgesetzt sind – und zwar nicht nur im Nachbarland Ungarn, wo jüngst die Pride vom Budapester Bürgermeister gegen den autokratischen Premier durchgesetzt wurde und extrem großen Zulauf erfuhr.
„Es braucht solche Veranstaltungen, um aufzuzeigen, dass es sonst keine Räume gibt, in denen sich queere Menschen sicher fühlen können, wenn sie feiern, oder wo sie nicht blöd angeschaut werden, wenn sie Händchen halten und sich küssen. Selbst in der Landeshauptstadt Linz gibt es mittlerweile kein queeres Lokal mehr.“ Und von der Anfeindung ist es kein langer Weg mehr zur Beschneidung der Rechte queerer Personen. „Und wenn ein Menschenrecht für eine Personengruppe verrückbar ist“, warnt Kian, „dann ist es für jeden verrückbar.“

Der Österreichische Kabarettpreis wird seit 1999 vergeben. Ins Leben gerufen hat ihn damals Wolfgang Gratzl, der damalige Leiter der Wiener Kleinkunstbühne Vindobona. 2010 übernahm ein eigens gegründeter Verein unter dem Vorsitz der Kabarett-Agenturchefin Julia Sobieszek die Verantwortung für den Preis, der mittlerweile in sechs Kategorien vergeben wird:

  • Der Hauptpreis geht an herausragende Künstler*innen.
  • Der Förderpreis ist Nachwuchstalenten gewidmet.
  • Der Programmpreis wird unter allen Kabarettist*innen vergeben, die in den vergangenen zwölf Monaten ein neues Programm auf die Bühne gebracht haben.
  • Der Sonderpreis ist eine Art Würdigung des Lebenswerks: Die Jury widmet ihn Personen oder Institutionen, die sich besonders um das Kabarett im deutschsprachigen Raum verdient gemacht haben.
  • Mit dem Fernsehpreis zeichnet das Publikum in einem öffentlichen Voting die beliebteste Satire-/Comedy-/Kabarettshow im deutschsprachigen TV aus – Streaming-Formate eingeschlossen.
  • Mit dem Online-Preis würdigt das Publikum die beliebtesten Content-Creator im deutschsprachigen Raum.

Die ersten vier Preisträger*innen bestimmt eine Fachjury aus rund einem Dutzend Kulturjournalist*innen gemeinsam mit zwei Bühnenbetreiber*innen als Gastjuror*innen. Das Online-Voting für den Fernseh- und Online-Preis läuft von 11. bis 31. August auf der Website vom Österreichischen Kabarettpreis.

Der Kuseng

Kabarettpreis 2025: Sieger*innen-Portrait Teil 1: Simpl

Addiert man die aktuellen Lebensalter der Haupt-, Förder- und Programmpreisträger*innen beim heurigen Österreichischen Kabarettpreis, kommt man ziemlich genau auf jenes des Sonderpreisträgers. Denn das Kabarett Simpl wurde vor 113 Jahren im Souterrain des Hauses Wollzeile 36 gegründet. Folgerichtig hat Julia Sobieszek, langjährige Agenturchefin und Obfrau des Vereins, der hinter dem Preis steht, ihr 2007 erschienenes Buch über fast 100 Jahre Simpl „Zum Lachen in den Keller“ betitelt. Auf 288 Seiten erzählt sie darin von den Anfängen kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs unter Egon Dorn mit Stars wie Fritz Grünbaum, von den personellen Einschnitten durch Kriege und Holocaust (vor allem viele jüdische Künstler*innen kamen ins KZ), von der Blütezeit nach dem Zweiten Weltkrieg unter Karl Farkas mit Ernst Waldbrunn und Maxi Böhm und lässt im Vorwort auch den aktuellen Hausherren Michael Niavarani zu Wort kommen. Diesem gehört heute das „größenwahnsinnig gewordene Nudelbrett“ (Zitat Karl Farkas), das er 2019 von Albert Schmidleitner erworben hat, nachdem der Simpl fast seine gesamte Künstlerkarriere begleitet hatte.

Mit nur 23 Jahren machte ihm der damalige Simpl-Chef Martin Flossmann erstmals das Angebot, Künstlerischer Leiter des Hauses zu werden – das für Niavarani zum zweiten Wohnzimmer geworden ist, neben dem von ihm gegründeten Wintergarten Globe und der Sommerloggia Theater im Park. 1993 übernahm Niavarani dann tatsächlich das angetragene Amt an der Seite von Geschäftsführer Albert Schmidleitner und war außerdem bis 2004 Conférencier der Simpl-Revue. Dass er 15 Jahre später in den rot ausgekleideten Keller zurückgekehrt ist und ihn komplett übernommen hat, war eigentlich nur logisch. Denn wie heißt es an einer Stelle im Buch so schön: „Der Simpl frisst einen mit Haut und Haar.“

Der „Bulli“ ist bissiger geworden

Dabei war das Kabarettlokal mit der roten Bulldogge im Logo zu Beginn gar nicht so bissig. Im Gegenteil: In der Vorkriegs-, Weltkriegs- und Zwischenkriegszeit scheute man die Konfrontation mit der Obrigkeit und gab der Zensur oft lieber erst gar keinen Grund für Streichungen. Politische Witze wurden eher vermieden. Der „Bulli“ war damals also eher handzahm – im Unterschied zu heute, wo es eigentlich zum guten Ton jeder Simpl-Revue gehört, in- und ausländische Politiker*innen mit bissiger Satire durch den Kakao zu ziehen.

Den direkten Vergleich der Gags von einst und jetzt liefert Sobieszek in etlichen Auszügen in ihrem lesenswerten Buch, in dem sie auch die Geschichte des „Bulli“ erzählt, den der Simpl von der gleichnamigen Münchner Kabarettbühne übernommen hatte.

Für die Simpl-Revuen von heute bedeuten jedenfalls Regierungswechsel, dass manche Gags umgeschrieben werden, bis ein Jahr nach der Premiere ein völlig neues Programm auf die Bühne gebracht wird, das dann quasi das Grundgerüst jeder Saison bildet. Gerade in der jetzigen Ära Niavaranis gibt es daneben aber nicht nur zahlreiche Gastspiele (auch der Hausherr selbst gibt sein Solo „Homo Idioticus 2.0“), sondern auch verschiedene andere Produktionen – aktuell etwa die Impro-Show „Dem Faust aufs Aug 3 – Movie Edition“ oder die Slapstick-Komödie „Frau Van Helsings Dracula – Die ganze Wahrheit“.

Der Simpl hat zwar heute wie damals eine männliche Führung, aber ist keine Männerbastion mehr, in der die hübschen Damen in erster Linie als optischer Aufputz dienen.

Die Frauen reden heute mehr mit

Was sich noch gegenüber früher verändert hat: Der Simpl hat zwar heute wie damals eine männliche Führung, aber ist keine Männerbastion mehr, in der die hübschen Damen in erster Linie als optischer Aufputz dienen. Die neue Simpl-Revue hat Niavarani gemeinsam mit Jenny Frankl geschrieben, Regie führt er gemeinsam mit Helena Steele, und die Liedtexte hat Sigrid Hauser gemeinsam mit Johannes Glück verfasst.

Nur der Conférencier, der durch den Abend führt, ist mit Joachim Brandl erneut ein Mann. Frauen in dieser Rolle gab es in 113 Jahren lediglich dreimal: Tilde Lechner (1916), Dolores Schmidinger / Steffi Paschke (1999/2000) und Claudia Rohnefeld (2015 bis 2017). Letztere ist mittlerweile selbst zur Theaterleiterin aufgestiegen: Sie hat nach dem Tod von Gerald Pichowetz sein Gloria-Theater übernommen und wagt im Frühjahr 2026 einen Neubeginn beim Floridsdorfer Spitz.

Der Österreichische Kabarettpreis wird seit 1999 vergeben. Ins Leben gerufen hat ihn damals Wolfgang Gratzl, der damalige Leiter der Wiener Kleinkunstbühne Vindobona. 2010 übernahm ein eigens gegründeter Verein unter dem Vorsitz der Kabarett-Agenturchefin Julia Sobieszek die Verantwortung für den Preis, der mittlerweile in sechs Kategorien vergeben wird:

  • Der Hauptpreis geht an herausragende Künstler*innen.
  • Der Förderpreis ist Nachwuchstalenten gewidmet.
  • Der Programmpreis wird unter allen Kabarettist*innen vergeben, die in den vergangenen zwölf Monaten ein neues Programm auf die Bühne gebracht haben.
  • Der Sonderpreis ist eine Art Würdigung des Lebenswerks: Die Jury widmet ihn Personen oder Institutionen, die sich besonders um das Kabarett im deutschsprachigen Raum verdient gemacht haben.
  • Mit dem Fernsehpreis zeichnet das Publikum in einem öffentlichen Voting die beliebteste Satire-/Comedy-/Kabarettshow im deutschsprachigen TV aus – Streaming-Formate eingeschlossen.
  • Mit dem Online-Preis würdigt das Publikum die beliebtesten Content-Creator im deutschsprachigen Raum.

Die ersten vier Preisträger*innen bestimmt eine Fachjury aus rund einem Dutzend Kulturjournalist*innen gemeinsam mit zwei Bühnenbetreiber*innen als Gastjuror*innen. Das Online-Voting für den Fernseh- und Online-Preis läuft von 11. bis 31. August auf der Website vom Österreichischen Kabarettpreis.

Kabarett Simpl

Bitte nicht noch eine Fortsetzung: „Die nackte Kanone“ 2025

Was haben „Die nackte Kanone“ (1988), „Jurassic Park“ (1993) und „Gladiator“ (2000) gemeinsam? Alle drei Kultfilme waren zu ihrer Zeit so erfolgreich und haben sich dermaßen ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation eingebrannt, dass sie nicht nur zum Teil direkte Fortsetzungen im damals üblichen Abstand von drei bis vier Jahren bekamen (zumindest Lieutenant Frank Drebin und Steven Spielbergs Dinos), sondern dass mehrere Jahrzehnte später ein Produktionsteam beschlossen hat: Hey, die Kassen haben damals so laut geklingelt, und Nostalgie geht immer. Wir machen jetzt einfach eine Fortsetzung, weil die Leute haben es damals geliebt – sie werden es jetzt auch tun. Was, die Hauptfigur ist im Film schon verstorben? Der Hauptdarsteller lebt nicht mehr? Ist doch egal, wir nehmen halt einen Sohn, Neffen, Enkel und bauen um den herum eine neue Story. Wir brauchen eine Handlung? Wer hat das gesagt? Wir haben CGI (Computer Generated Imagery, Anm.)! Das muss reichen.

Zugegeben, die letzten Sätze waren sehr zynisch und treffen – aus meiner ganz subjektiven Sicht – tatsächlich nur auf „Jurassic World“ (2015) zu, den handlungstechnisch müden Abklatsch von „Jurassic Park“, in dem es offenbar in erster Linie darum ging, möglichst viele Menschen von möglichst wilden Sauriern fressen zu lassen. Und die Fortsetzung des Sequels, „Jurassic World – The Fallen Kingdom“, wirkte auch irgendwie, als hätte man einfach die Fortsetzung des Originals, „Jurassic Park – The Lost World“, lieblos plagiiert. Über den dritten und vierten „Jurassic World“-Film will ich mich lieber gar nicht erst auslassen. Immerhin hatte der erste „Jurassic World“-Film noch ein paar Easter Eggs für Kenner*innen des Originals zu bieten, wie etwa einen Jeep, der schon in „Jurassic Park“ im Einsatz gewesen war.

Wenn dann auch noch der Regisseur abspringt ...

Bei „Gladiator 2“ (2024) stimmt zwar auch der Teil mit der CGI. Ich meine: Eine Seeschlacht mit Haien im Kolosseum! Nun, Regisseur Ridley Scott hat sich zumindest bemüht, die Fans von früher durch Opulenz zu versöhnen und ein überragend agierender Denzel Washington hat das Seine dazugetan, das Fehlen von Russell Crowe zu kaschieren. Das ist übrigens ein wichtiger Punkt: Im Gegensatz zu Steven Spielberg, der seinen Dinos schon bei „Jurassic Park 3“ den Rücken gekehrt hatte (ebenso wie zuvor seinem „Weißen Hai“ bei der ersten von drei sehr schwachen bis peinlichen Fortsetzungen), war bereits Ridley Scott der Regisseur des Originals.

Bei der „Nackten Kanone“ war das nun freilich nicht möglich, weil nicht nur Hauptdarsteller Leslie Nielsen, sondern auch Kultregisseur Jim Abrahams bereits verstorben sind und die Brüder David und Jerry Zucker ihren letzten Film vor mehr als zehn Jahren gedreht haben. Das legendäre Trio verantwortete nicht nur von 1988 bis 1994 die drei wahnwitzigen Polizei-Klamaukfilme „Die nackte Kanone“, „Die nackte Kanone 2½“ und „Die nackte Kanone 33⅓“, sondern hatte davor bereits 1982 die TV-Serie „Die nackte Pistole“ produziert, die ebenfalls diverse Polizeifilme parodiert hatte. So ist also beim 2025er-Sequel das gesamte Team neu. Nur die Gags sind die gleichen geblieben, zumindest vordergründig wirken manche wie 1:1-Kopien. Allerdings geht Leslie Nielsens Nachfolger Liam Neeson in der Rolle des Sohnes von Anfang an viel direkter, brutaler, düsterer und auch ernsthafter zu Werke. Während Frank Drebin Senior die traumtänzerische Tollpatschigkeit, mit der er etwa unbehelligt mitten durch Schießereien latschte oder Sachen und Menschen kaputtmachte, ohne selbst auch nur das Geringste davon mitzubekommen, förmlich zur Kunstform erhob, begibt sich Frank Drebin Junior teils ganz bewusst in ungute Situationen, denen dann auch zeitweise der entsprechende abmildernde Ulk fehlt. Kein Wunder, hat Liam Neeson doch keine Klamauk-, sondern eine Actionthriller-Karriere in seinem Portfolio stehen. Entsprechend hart legt er seine Rolle an. Dass das Ganze trotzdem bei der Zielgruppe funktioniert, zeigten etliche Lacher in einem Preview. Und während die einen Filmkritiker*innen „eine Verbeugung vor dem großen Vorbild“ loben, werfen die anderen dem Sequel Ideen- und Mutlosigkeit vor, weil es krampfhaft am humoristischen Rockzipfel des Originals hängt, statt Neues zu wagen – eine vergebene Chance also, bei der die Frage zu stellen ist, wer sich das Machwerk anschauen soll: Fans der alten Filme sind mit diesen bestens bedient, und junges Publikum kann mit dem Humor vielleicht gar nichts anfangen. Liam Neeson dürfte jedenfalls nicht der Grund für den Kinobesuch sein. Dann schon eher Pamela Anderson, die ihm als würdige Nachfolgerin von Priscilla Presley in der Rolle der mysteriösen Schönen den Kopf verdreht und zeigt, dass ihre Selbstironie sich sehen lassen kann. Und vielleicht sind es auch die vielen Reminiszenzen an Leslie Nielsen und das damalige Team, die sich an allen Ecken und Enden aufdrängen. Letztlich ist festzustellen: Wer gnädig über gewisse Schwächen hinwegsieht und dem Aufguss eine Chance gibt, bekommt einiges zum Lachen serviert, auch wenn viele Gags aufgesetzter und bemühter wirken als anno dazumal.

Wer gnädig über gewisse Schwächen hinwegsieht und dem Aufguss eine Chance gibt, bekommt einiges zum Lachen serviert, auch wenn viele Gags aufgesetzter und bemühter wirken als anno dazumal.

Vorgeschichte, Nachgeschichte, dieselbe Geschichte

Zugegeben, ich habe hier mit einer Krimikomödie, einem Monsterkracher und einem Römer-Epos drei Filme und ihre Sequels mehr oder weniger zufällig ausgewählt, stellvertretend für die vielen, vielen Fortsetzungen und Remakes, von denen es in Hollywood immer mehr zu geben scheint. Die Liste ist schier unendlich und reicht von „Star Wars“, wo 16 Jahre nach dem Ende der ersten Trilogie George Lucas immerhin selbst Hand anlegte, um endlich auch Episode eins bis drei nachzureichen (ob er sich und der Welt damit einen Gefallen getan hat, darüber scheiden sich bis heute die Geister ebenso wie bei den diversen nachfolgenden Episoden und Franchise-Filmen und -Serien), über „Indiana Jones“, wo sich Harrison Ford für Teil 5 im Jahr 2023 sogar mittels KI verjüngen ließ, bis zu „Der Herr der Ringe“ (2001 bis 2003) und „Der Hobbit“ (2012 bis 2014), wo zunächst ebenfalls Peter Jackson mit zehn Jahren Abstand das Kunststück vollbrachte, ein Buch von weniger als 400 Seiten im Kino genauso lang auszuwälzen wie die dreimal so dicken Hauptbücher, ehe 2022 Amazon noch einmal um einiges langatmiger die Vorgeschichte dieser Vorgeschichte zu erzählen begonnen hat. Es ist stark zu vermuten, dass in vielen Fällen weniger der Drang im Vordergrund stand und steht, endlich Aspekte einer Geschichte zu erzählen, die im Original noch nicht erzählt wurden, sondern dass man einfach noch einmal ordentlich Kasse machen möchte. Besonders stark ist diese Vermutung beim „Harry Potter“-Franchise „Phantastische Tierwesen“, das Autorin Joanne K. Rowling zwar noch einmal einen Geldregen beschert hat, aber nicht von ungefähr kamen letztlich nur drei statt der geplanten fünf Filme ins Kino. Das Publikum lässt sich halt nicht immer mit einem lieblosen Aufguss abspeisen. Überhaupt wäre das Thema Fortsetzungen einen eigenen Artikel wert. Wenige sind genauso gut oder gar besser als der erste Film, viele deutlich schlechter.

Neben Prequels und Sequels sind natürlich auch echte Remakes beliebt. Da kann dann das neue Team zeigen, dass es den Stoff viel besser umsetzen kann als weiland die Altvorderen (oder auch nicht). Davor ist weder ein Captain James Tiberius Kirk gefeit noch ein Danny Ocean (ja, „Ocean’s Eleven“ gab es schon 1960 mit Frank Sinatra und Dean Martin), ein Juda Ben Hur oder ein Willy Wonka (sogar ein Remake und ein Prequel). Und Disney scheint es sich überhaupt zum Sport gemacht zu haben, seine Klassiker als Realfilme oder in hochauflösendem Computer-3D neu zu interpretieren. Zugegeben, der vollanimierte Simba des Jahres 2019, bei dem man jedes noch so kleine Härchen erkennt, mag ästhetisch ansprechender sein als das zum Teil noch handgezeichnete Original von 1994. Aber weit mehr zählt der Tiefgang von Handlung und Dialogen. Und da gilt etwa für „Aladdin“: Ein Will Smith in Full HD (2019) kommt einfach an einen von Robin Williams gesprochenen Dschinni in 2D (1992) nicht heran. Und über „Jumanji“ sprechen wir bitte hier erst gar nicht. Dann schon lieber über einen Film, bei dem das Remaken gerade auf die Spitze getrieben wird: Denn der ersten Mutter-und-Tochter-tauschen-Körper-Komödie „Freaky Friday“ im Jahr 1976 folgten 1995, 2003 und 2018 weitere Adaptionen – und am 8. August kehrt nun die 2003er-Besetzung (Jamie Lee Curtis und Lindsay Lohan) mit „Freakier Friday“ ins Kino zurück.

Indiana Jones 2023 mit Harrison Ford und Phoebe Waller-Bridge © Lucasfilm
„Indiana Jones“ 2023 mit Harrison Ford und Phoebe Waller-Bridge © Lucasfilm

So gut waren die Originale oft auch wieder nicht

Bei aller Kritik an all den cineastischen Trittbrettfahrer*innen, die sich alter Stoffe bedienen und dabei mitunter fast schon Leichenfledderei begehen, muss ich allerdings eines zugeben: Manche Originale, die hier abgekupfert werden, waren bei näherer Betrachtung gar nicht so qualitativ hochwertig. Ja, sie haben mich damals auf der Höhe ihrer Zeit gut unterhalten. Aber das tun manche Sequels und Remakes heute auch, wenn ich ihnen die Chance dazu gebe. Und so schlimm ich etwa den vierten „Indiana Jones“-Film mit der abgedrehten Außerirdischen-Szene im Finale fand: Im Grunde waren die ersten drei auch schon ziemlich gaga. Aber das ist wohl das große Glück des Kinos: Seine Hauptaufgabe ist es, die Menschen zu unterhalten oder an ihren Emotionen zu rühren. Der Qualitätsanspruch ist letztlich zweitrangig, wenn man auch bei einem C-Movie spürt, eine gute Zeit zu haben. Ich bin jedenfalls schon gespannt, ob ich mich in zwei Wochen über Bully Herbigs „Kanu des Manitu“ – 24 Jahre nach „Der Schuh des Manitu“ – zerkugeln oder doch fadisieren werde …

Hollywood produziert weiterhin massenhaft Sequels, Prequels und Remakes – meist getrieben von Nostalgie und Kasseninteresse, selten mit frischen Ideen. Die neue „Nackte Kanone“-Verfilmung mit Liam Neeson ist jetzt in den Kinos und polarisiert durch düsteren Humor statt klassischen Klamauk.

Die nackte Kanone 2025

Kabarettpreis 2025: Junge Wilde und älteste Kabarettbühne

Ein in jüngerer Vergangenheit oft strapazierter Begriff verbindet die drei Personen, die heuer mit dem seit 1999 bestehenden Österreichischen Kabarettpreis ausgezeichnet werden: toxische Männlichkeit. An ebendieser arbeitet sich nämlich nicht nur der trans* Förderpreisträger Kian Kaiser alias Der Kuseng im Rahmen seines Debüts „Hoamatland, Hoamatland“ zwischendurch ab – in dem es allerdings in erster Linie um Zugehörigkeit und Integration geht. Die Frage nach Männlichkeitsbildern steht auch im Zentrum des aktuellen Soloprogramms „Monster“ des mit dem Hauptpreis prämierten Berni Wagner. Und auch Antonia Stabinger, die für „Angenehm“ den Programmpreis erhält, macht sich auf ihre ganz eigene, höchst sympathische Weise lustig über Männer, die sich völlig zu Unrecht für die Krone der Schöpfung halten.

Nur das Kabarett Simpl, mutmaßlich Österreichs älteste noch existierende Kabarettbühne, die den Sonderpreis für große Verdienste um die sogenannte Kleinkunst bekommt, wollen wir lieber nicht mit toxischer Männlichkeit assoziieren. Auch wenn die Kellerbühne an der Wollzeile seit ihrer Gründung im Jahr 1912 die meiste Zeit unzweifelhaft männlich dominiert war – in 113 Jahren gab es lediglich drei weibliche Conférencières, in den ersten Jahrzehnten fungierten die „hübschen Damen“ im Ensemble in erster Linie als optischer Aufputz, und lange Zeit bekam die Erste Frau bestenfalls so viel Text zugestanden wie der Dritte oder der Vierte Mann. Aber man täte dieser heute von Michael Niavarani künstlerisch wie wirtschaftlich geführten Institution Unrecht, würde man sie auf diese Vergangenheit reduzieren – hat sie doch dutzende Kabarettlegenden hervorgebracht. Und die vorerst letzte Simpl-Conférencière, Claudia Rohnefeld, ist nun selbst zur Theaterleiterin aufgestiegen und wird ab Frühjahr 2026 das Gloria Theater des verstorbenen Gerald Pichowetz weiterführen.

Publikumsvoting für Fernseh- und Online-Preis

Der Kuseng, Berni Wagner, Antonia Stabinger und das Simpl also wurden von der Jury ausgewählt. Damit stehen aber längst nicht alle Preisträger*innen des heurigen Jahres fest. Denn nun ist das Publikum am Zug. Dieses kann nämlich von 11. bis 31. August auf der Website www.kabarettpreis.at über den Fernseh- und den Online-Preis abstimmen.

Alle sechs Preisträger*innen werden Preisgeld und Trophäen – die heuer ein neues Design haben – im Rahmen einer großen Gala am 24. November im Globe Wien überreicht bekommen. Dass dessen Hausherr Michael Niavarani heißt, ist reiner Zufall und hat bei der Jurysitzung überhaupt keine Rolle gespielt, soviel darf zweifelsfrei festgestellt werden. Wichtiger war der Jury „der unverwechselbare Mix aus politischer Satire, treffsicherem Humor und musikalischem Können“, wie es in der Begründung für den Sonderpreis heißt. „Das Ensemble versteht es heute wie damals, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen pointiert und zugleich unterhaltsam auf die Bühne zu bringen – stets mit einem feinen Gespür für den Zeitgeist und einer beeindruckenden Wandlungsfähigkeit.“

Der Kuseng wiederum hat die Jury mit seiner Zeitreise zurück in seine oberösterreichische Kindheit – zwischen Landgemeinde, Jugendkultur und iranischem Elternhaus – überzeugt. „Er formt daraus eine pointierte Reflexion über gesellschaftliche Normen, Zugehörigkeit, Identität – und über all das, was uns trotz Unterschieden verbindet. Nie belehrend, stets mit wachem Blick und auf Augenhöhe mit dem Publikum.“ Die Jury lobt sein „feines Gespür für Sprache, Lebenswelten und das richtige Timing“, mit dem er „persönliche Erfahrungen in universelle Erzählungen verwandelt“.

Er formt daraus eine pointierte Reflexion über gesellschaftliche Normen, Zugehörigkeit, Identität – und über all das, was uns trotz Unterschieden verbindet. Nie belehrend, stets mit wachem Blick und auf Augenhöhe mit dem Publikum.

Eine neue Generation

Mit Antonia Stabinger wiederum wird eine „scharfsinnige Beobachterin und absurd-witzige Botschafterin gesellschaftskritischer, heikler Themen“ ausgezeichnet, in der die Jury „eine zentrale Stimme einer österreichischen Kabarettist*innen-Generation“ sieht, für die Begriffe wie politische Unbestechlichkeit, Respekt, Gerechtigkeit und Menschlichkeit keine hohlen Schlagwörter sind, „sondern ein Wertgefüge, dem man mit urkomischer Leichtigkeit ein relevantes Gewicht zu verleihen vermag“.

Zu dieser Generation gehört auch Hauptpreisträger Berni Wagner, der bereits im Vorjahr als Teil des Trios GHÖST beim Österreichischen Kabarettpreis ausgezeichnet wurde und die Jury mit seiner „enormen Energie, starken Bühnenpräsenz und hohen Wuchteldichte“ überzeugt hat. Als gelernter Biologe hat er in seinen bisherigen Programmen einen gewissen Hang zu Natur und Nachhaltigkeit gezeigt – aber auch Nächstenliebe ist ihm ein wichtiges Anliegen. Und von seinem ersten Solo „Schwammerl“ (2013) bis zu seinem aktuellen Programm „Monster“ hat sich sein Männerbild gewandelt, stellt die Jury fest.

Bleibt die Frage, ob die Fachjury beim Gedanken daran, Michael Niavarani den Österreichischen Kabarettpreis zu überreichen, zumindest ein kleines bisschen nervös ist. Denn bei der Verleihung 2010, als er ihn gemeinsam mit seinem Spezi Viktor Gernot entgegennehmen durfte, ist er ihm runtergefallen und in zwei Teile zerbrochen. Das wurde prompt zum Anlass genommen, das Kleinod – damals gab es nur einen Preis für beide gemeinsam – brüderlich aufzuteilen. Ein Schelm, wer beim Gedanken an diese Anekdote die Köpfe im Simpl-Ensemble durchzählt . . .

Die Gewinner*innen des Österreichischen Kabarettpreises 2025 stehen fest – darunter Der Kuseng, Antonia Stabinger, Berni Wagner und das Kabarett Simpl. Thematisch dominieren Fragen nach Männlichkeitsbildern, gesellschaftlicher Zugehörigkeit und der Wandel einer neuen Kabarettgeneration.

Mehr über die Preisträger*innen des Österreichischen Kabarettpreises gibt es in den kommenden Tagen an dieser Stelle zu lesen.

Österreichischer Kabarettpreis

It’s all about Lust und Leidenschaft, Baby: The Kills in Wien

In puncto spannender Konzerte mit Indie-Flair oder alternativem Touch herrscht derzeit in Wien fast eine Art Ausnahmezustand: Queens of the Stone Age, Nine Inch Nails, Sextile, Amyl & The Sniffers, St. Vincent – die Liste ist lang. Beinahe jeden Abend spielt irgendwo eine großartige Band, ob internationaler oder österreichischer Herkunft. Oft kollidieren auch zwei oder mehrere Events miteinander.

Inmitten des dauerhaften Ausgehstresses sticht für ewige Indie-Rocker*innen ein Termin besonders hervor: The Kills beehren endlich mal wieder Wien. Ja genau, Alison Mosshart und Jamie Hince machen in der Donaumetropole Station. Um die dazugehörige Euphorie meinerseits zu verstehen, braucht es vielleicht ein kurzes Millennium-Flashback.

Die musikalische Revolution

Nachdem gegen Ende der 90er-Jahre im Popuniversum eine allgegenwärtige Fadesse herrschte – zwischen jammernden Indie-Gesängen, akademischem Postrock, immer belangloser dahinplätscherndem Friseursalon-House und Legionen von herumfrickelnden Laptop-Nerds – kündigte sich zur Jahrtausendwende eine kleine Revolution an.

Das Nachtleben wurde wieder rauer, glamouröser, musikalisch eklektischer. Disco, New Wave und Electro gaben plötzlich in Mashup-Variationen den pulsierenden Ton an. Parallel dazu machte sich auch in internationalen Hipster-Szenen eine fiebrige Energie breit; roher Rock’n’Roll hallte wieder durch Proberäume und Clubs zwischen London, New York und Wien. „The“-Bands wie die Strokes, White Stripes oder Libertines ließen damals verstaubte Gitarrenmusik erneut mitreißend klingen, die Yeah Yeah Yeahs oder Interpol beamten den schattseitigen Postpunk in die damalige Zeit.

Mittendrin in diesem Hype-Aufruhr stand ein Duo, das aus sämtlichen herumzirkulierenden Retro-Styles nur die pure Essenz nahm und daraus ein ganz eigenes Ding kondensierte: The Kills, bis heute bestehend aus der US-Sängerin Alison Mosshart und dem britischen Gitarristen Jamie Hince, ergänzt durch eine simple Drum-Machine, verknüpften den rohen Spirit des Rock’n’Roll und Blues mit einer Affinität für Beats und Grooves abseits des Bumm-Bumm-Tschak dahindreschender Rockcombos. Ungeheuer minimalistisch war und ist diese Musik, extrem intensiv, verdammt sexy, melancholisch – und fies zugleich. It’s all about Lust und Leidenschaft, Baby.

Album-Meisterwerke wie „Keep on Your Mean Side“ (2003), „No Wow“ (2005) oder „Midnight Boom“ (2008) pendeln abwechslungsreich zwischen krachigen Aggro-Stücken, traumhaften Balladen, Rockabilly-Zitaten und Dub-Einflüssen – aber immer im Rahmen der strengen Selbstbeschränkung, die sich The Kills von Anfang an auferlegt hatten.

Tratsch und Fremdgehen

Live standen VV und Hotel, wie sie sich damals nannten, mal zittrig auf der Stelle; dann schwitzten und sangen sie sich aus nächster Nähe an – ruhelos, ekstatisch. Ein eng verschweißtes und – das muss man schon sagen – wahnsinnig geil aussehendes Bühnenpaar, das privat aber „nur“ bestens befreundet ist. So etwas lieferte natürlich auch Stoff für Klatschkolumnen.

Um die Zeit von „Blood Pressures“ anno 2011 nahm der Tratsch um das Duo unangenehm zu – und schwappte auch in den Mainstream über. Der Grund: eine Beziehung von Jamie Hince mit Supermodel Kate Moss, die in einer Hochzeit mündete. Als ihr der Musik- und Freizeitkumpel durch die Ehe für eine Weile abhandenkam, ging Alison Mosshart mit Jack White künstlerisch fremd. Die Rock’n’Roll-Supergroup The Dead Weather überzeugte mit einigen großartigen Songs – aber an die spezielle Magie von The Kills kam das Projekt genauso wenig heran wie andere lässige Kollaborationen der Gesangsgöttin.

Ungeheuer minimalistisch war und ist diese Musik, extrem intensiv, verdammt sexy, melancholisch – und fies zugleich.

The Kills forever

Rückblende beendet, Schnitt in die Jahre 2016 und 2023. Mit den Alben „Ash & Ice“ und „God Games“ fanden The Kills wieder zueinander. Das jüngste Album wurde inspiriert von ihren Lieblingsstädten L.A. und New York – Alison und Jamie kreierten einen neuen Sound, mit Hip-Hop- und R’n’B-Elementen, ohne den alten Kills-Spirit zu verlieren. Die lang ersehnte Live-Darbietung des Rock-Duos im kommenden Monat verspricht also Großes – wenn das Wetter am 13. Juli in der Wiener Arena Open Air mitspielt …

Ankündigung The Kills in der Wiener Arena im Juli 2025
© Myles Hendrik

The Kills wurden 2000 gegründet, zwei Jahre später veröffentlichten Alison und Jamie ihre Debüt-EP „Black Rooster“ und 2003 folgte das erste Album „Keep On Your Mean Side“. Seitdem ist die britisch-amerikanische Rockband fixer Bestandteil der internationalen Musikszene. Das sechste Studioalbum „God Games“ ist 2023 erschienen, am 13. Juli 2025 spielen The Kills live in der Wiener Arena ein Open Air inkl. Support Anda Morts, Tickets hier.

The Kills

Die sprachliche Identität und der Minderwertigkeitskomplex

„Was Deutsche und Österreicher trennt, ist die gemeinsame Sprache“, hat schon der Kabarettist Karl Farkas festgestellt. Ein Zitat, das immer wieder fälschlicherweise Karl Kraus zugeschrieben wird und bei dem die Meinungen auseinandergehen, ob es so überhaupt stimmt. Eines steht aber fest: Die Sprache sollte durchaus dazu dienen, Österreich nicht nur politisch von Deutschland abzugrenzen, und zwar im Zuge der (neuerlichen) Nationsbildung nach dem Zweiten Weltkrieg, der vor 80 Jahren endete. Folgerichtig erteilte das Unterrichtsministerium der jungen Zweiten Republik dem Österreichischen Bundesverlag (öbv) den Auftrag, ein eigenes „Österreichisches Wörterbuch“ zu erstellen, dessen erste Auflage 1951 erschien. Soeben ist eine aktualisierte Ausgabe herausgekommen. (Randnotiz: Ironischerweise gehört der 1772 gegründete Österreichische Bundesverlag seit der Privatisierung im Jahr 2002 zum deutschen Klett-Verlag.)

500.000 deutsche Wörter, davon 50.000 originär österreichisch

„Wenn eine Gruppe eine gemeinsame Sprache hat, hat sie auch eine gemeinsame Identität“, erklärt Christiane Pabst, die Chefredakteurin des „Österreichischen Wörterbuchs“, die Intention dahinter, das österreichische Deutsch zu kodifizieren. Und so umfasste das erste „Österreichische Wörterbuch“ 1951 rund 23.600 spezifisch österreichische Stichwörter. Als Christiane Pabst 2015 Chefredakteurin wurde, waren es schon rund 70.000 Begriffe – heute, in der 44. Auflage, sind es an die 100.000. „Davon ist etwa die Hälfte originär österreichisch.“ Zum Vergleich: In der aktuellen Ausgabe des deutschen Universalwörterbuchs „Duden“ wird der Wortschatz der deutschen Alltagssprache auf rund 500.000 Wörter geschätzt und der zentrale Wortschatz auf rund 70.000 Wörter. Somit würden Austriazismen etwa ein Zehntel des gesamtdeutschen Wortschatzes ausmachen. Das „Österreichische Wörterbuch“ jedenfalls enthält laut seiner Chefredakteurin „den gesamten österreichischen Sprachbestand sowie alle im Land gebräuchlichen Begriffe, inklusive Etymologien. Da gibt es natürlich eine gewisse Schnittmenge mit dem ‚Duden‘, der das bundesdeutsche Deutsch abbildet.“

Und da ist sie wieder, die gemeinsame Sprache, die uns trennt. Nämlich nicht nur dann, wenn „Ösis“ und „Piefkes“ für dieselben Dinge andere Bezeichnungen haben (Sackerl/Tüte, Marille/Aprikose, Sessel/Stuhl, Mistkübel/Abfalleimer), sondern auch dann, wenn sie dasselbe sagen, aber etwas anderes meinen. Der Chefarzt zum Beispiel ist in Deutschland der Primarius einer Klinik, während er in Österreich im Medizinischen Dienst der Gesundheitskasse Bewilligungen ausstellt. „Da haben wir beide Bedeutungen im ‚Österreichischen Wörterbuch‘ mit entsprechender Kennzeichnung vermerkt“, sagt Christiane Pabst.

Sprachliche Fallstricke für Jurist*innen

Besonders aufpassen müssen Jurist*innen, meint der Sprachwissenschafter Rudolf de Cillia. So finden sich allein in Rudolf Muhrs und Marlene Peinhopfs „Wörterbuch rechtsterminologischer Unterschiede Österreich–Deutschland“ mehr als 2.000 Begriffe, die jeweils eine andere Bedeutung haben. So ist zwar das Vergehen in Österreich ebenso wie in Deutschland eine geringere rechtswidrige Tat als ein Verbrechen, allerdings beträgt hier das maximale Strafmaß drei Jahre und dort nur ein Jahr.

„Bei allem, was mit staatlicher Organisation zu tun hat, gibt es große Unterschiede“, stellt der Sprachwissenschafter fest, „von der AHS über den Konsumentenschutz und die Studienberechtigungsprüfung bis zum Zulassungsschein.“ Mittlerweile gibt es zusätzlich auch noch ein EU-Deutsch, das zum Teil wieder andere Bedeutungen aufweist. So ist zum Beispiel eine Verordnung in Österreich (und auch in Deutschland) eine an eine Personengruppe gerichtete, generell verbindliche Rechtsnorm, die durch ein Regierungs- oder Verwaltungsorgan (Exekutive) erlassen wird. Die Europäische Union hingegen versteht unter einer Verordnung einen Rechtsakt mit allgemeiner Gültigkeit und unmittelbarer Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten, der dort sogar einen Anwendungsvorrang hat.

Der Kampf um die Marmelade beim EU-Beitritt

Übrigens spielte die EU ihre ganz eigene Rolle im Ringen um die österreichische Sprachidentität. So verweist Rudolf de Cillia neben dem „Österreichischen Wörterbuch“, das auch für ihn ein wichtiger Punkt in der Abgrenzung von Deutschland ist, auf das berühmte Protokoll Nummer 10 im EU-Beitrittsvertrag von 1995. Darin ist nämlich festgehalten: „1. Die in der österreichischen Rechtsordnung enthaltenen und im Anhang zu diesem Protokoll aufgelisteten spezifisch österreichischen Ausdrücke der deutschen Sprache haben den gleichen Status und dürfen mit der gleichen Rechtswirkung verwendet werden wie die in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücke, die im Anhang aufgeführt sind. 2. In der deutschen Sprachfassung neuer Rechtsakte werden die im Anhang genannten spezifisch österreichischen Ausdrücke den in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücken in geeigneter Form hinzugefügt.“

Ältere Semester erinnern sich noch an den Kampf um die Marmelade, den eine österreichische Tageszeitung damals führte „und natürlich verloren hat, auch wenn sie es als Sieg gefeiert hat – aber de facto werden Sie in keinem Supermarkt etwas anderes als Konfitüre finden, es sei denn, es handelt sich um Orangen- oder Zitronenmarmelade.“ Höchstens auf lokalen Märkten darf der Terminus „Marmelade“ verwendet werden. „Das zeigt, wie wichtig die Sprache für die Identitätsbildung ist.“ Nicht von ungefähr ist neben dem „Piefke“ der „Marmeladinger“ eine weitere abwertende österreichische Bezeichnung für die nördlichen Nachbar*innen.

Wienerisch am Beispiel eines alten Zeitungsausschnitts
© Mathias Ziegler

Die meisten Unterschiede gibt es beim Essen

Apropos Marmelade: Rudolf de Cillia hat mit einem großen Forschungsprojekt aufgezeigt, wo im alltäglichen Sprachgebrauch die Unterschiede am häufigsten sind – nämlich in der Regel dort, wo es ums Essen geht. Man denke nur an Schlagobers vs. Sahne, Topfen vs. Quark, Paradeiser vs. Tomaten, Semmel vs. Brötchen, Melanzani vs. Aubergine, Knödel vs. Kloß, Erdapfel vs. Kartoffel, Berliner vs. Krapfen, Frankfurter vs. Wiener, aber auch gut vs. lecker. Und: Deutsche laufen, wo Österreicher*innen lediglich gehen. Und wenn Deutsche nicht gelaufen sind, dann haben sie gestanden oder gesessen, wo Österreicher*innen gestanden oder gesessen sind. Ein*e Österreicher*in würde auch im Alltag kaum das Plusquamperfekt verwenden, das bei Deutschen oft als Ersatz für das Perfekt zum Einsatz kommt.

Manchmal sind es auch nur Kleinigkeiten wie das Fugen-s (Schweinsbraten/Schweinebraten) oder die Mehrzahlbildung (Erlässe/Erlasse, Pölster/Polster), die den Unterschied ausmachen. Spannend ist auch das Verhältnis zu Titeln jeglicher Form. Während in Österreich akademische Grade ebenso wie Amtstitel einfach zum Namen dazugehören und es schon genügt, einen Arzt zu heiraten, um selbst zur „Frau Doktor“ zu werden, sind Adelstitel seit 1919 per Gesetz verboten. In Deutschland ist es fast umgekehrt: Da ist ein „von“ im Namen überhaupt kein Problem, dafür kann es einem Nicht-Mediziner durchaus passieren, dass er scheel angeschaut wird, wenn er sich als „Doktor“ vorstellt und womöglich auch noch einen ebenfalls erworbenen „Magister“ dazustellt. „Ein deutscher Kollege hat einmal von österreichischer Titelhuberei gesprochen“, erzählt Rudolf de Cillia.

Österreicher*innen sollen anders buchstabieren

Nur beim Buchstabieren ticken Deutsche und Österreicher*innen bisher gleich. Doch das soll sich ändern, denn nach der neuen deutschen Buchstabiertabelle aus dem Jahr 2019 wurde auch erstmals eine eigene österreichische Tabelle entwickelt, die nun auch in der neuen Auflage des „Österreichischen Wörterbuchs“ zu finden ist. Statt von A wie Anton bis Z wie Zeppelin zu buchstabieren, heißt es in Deutschland künftig A wie Aachen (und Ä wie Umlaut Aachen) bis Z wie Zwickau. Dazwischen liegen 24 weitere Städtenamen, die zum Teil so speziell sind (zum Beispiel Chemnitz oder Quickborn), dass sie einfach nicht für die österreichische Tabelle taugen würden.

Hier führt nun Anna die Liste an, gefolgt vom Ärmel statt Ärger und Bernhard statt Berta. Der aus der Nibelungensage bekannte Held Siegfried wurde durch Sarah ersetzt, aus dem Übel wurde die Übung, und das Zeppelin – das eigentlich immer nur der Ersatz für Zürich war – musste der letzten österreichischen Kaiserin Zita weichen. Womit wir bei einem weiteren Grund für die neue österreichische Buchstabiertabelle sind: Die alte stammte nämlich aus der NS-Zeit, und folgerichtig waren sämtliche jüdischen Namen daraus getilgt worden. Quasi als Wiedergutmachung gesellt sich nun zu Abrahams Frau Sarah der biblische König David. Ganz neu hinzugekommen ist China fürs Ch, gleich geblieben hingegen sind Cäsar, Ida, Otto, Österreich, Quelle, Schule, Xaver und Ypsilon. Bleibt abzuwarten, wie lange es dauern wird, bis sich das neue Buchstabier-Alphabet durchgesetzt hat.

Wenn Anrainer*innen zu Anwohner*innen werden

Abseits der verschiedenen Begrifflichkeiten ist dem Sprachforscher Rudolf de Cillia noch etwas anderes aufgefallen: Es hat den Anschein, dass insgesamt Österreicher*innen leichter deutsche Dialekte verstehen als Deutsche österreichische. Irritierend findet er dabei, dass das deutsche Deutsch nicht nur – früher durch das Fernsehen und heute durch Social Media verstärkt – in die Jugendsprache hinüberschwappt, sondern dass etwa auch die Wiener Verwaltung plötzlich Anrainer*innen zu Anwohner*innen macht. „Es gibt da sicher einen gewissen Minderwertigkeitskomplex in Bezug auf das österreichische Deutsch“, stellt Rudolf de Cillia fest. Dem stimmt Christiane Pabst zu: „Viele Österreicher*innen empfinden ihre Sprache als nicht gleichwertig mit dem deutschen Deutsch.“ Aber nicht nur sie. „Ich kenne viele Kolleg*innen, die außerhalb Österreichs als Lektor*innen tätig waren und von Nicht-Muttersprachlern in ihrer Varietät des Deutschen nicht für voll genommen wurden“, berichtet Rudolf de Cillia. „Eine Kollegin hat einmal in Frankreich für Weihnachtskekse das Wort ‚Bäckerei‘ statt ‚Plätzchen‘ verwendet – da hat es einen Aufstand gegeben.“

Und da wäre er wieder, der eingangs erwähnte Karl Kraus. Der verwendete nämlich speziell das Wienerische beziehungsweise die österreichische Umgangssprache als Symbol für provinzielles Denken und Verhalten, als Leitsatz für eine österreichische Selbstverharmlosung und für ähnliche negative Erscheinungen.

Sprachforscher Rudolf de Cillia
Sprachforscher Rudolf de Cillia © Mathias Ziegler

Es gibt da sicher einen gewissen Minderwertigkeitskomplex in Bezug auf das österreichische Deutsch.

„Wir sprechen eine kodifizierte, vollwertige Sprache“

Dabei, betont die Chefredakteurin des „Österreichischen Wörterbuchs“, entbehrt die devote österreichische Haltung gegenüber der Sprache der nördlichen Nachbar*innen jeglicher Grundlage. Denn: „Es gibt drei gleichwertige deutsche Sprachvarietäten: die deutsche, die österreichische und die schweizerische.“ Österreich könnte hier von der Schweiz einiges lernen, die sich und ihre Sprache sehr ernst nimmt. „Hier gibt es ein sehr starkes Nationalitäts- und Identitätsbewusstsein“, stellt Christiane Pabst fest. „Aber die Schweiz musste sich auch nie von Deutschland freispielen, so wie Österreich.“ Sie hat aber schon den Eindruck, „dass sich zum Beispiel im Rat für deutsche Rechtschreibung gerade die Deutschen – ausgehend von ihrer eigenen Haltung – erwarten, dass die Österreicher*innen zu ihrer Sprachvarietät stehen, sie ernst nehmen und sich dafür starkmachen.“

Sie wünscht sich deshalb für ihre Landsleute, die sich allzu oft dem deutschen Deutsch anpassen, wenn sie „schön“ sprechen wollen oder wenn es offiziell wird, „mehr Selbstbewusstsein und die Überzeugung, dass wir in Österreich eine kodifizierte, vollwertige Sprache sprechen.“ Das betrifft nicht nur Menschen, die nicht so sprachaffin sind. So erzählt Christiane Pabst eine Anekdote aus dem ORF: „Im österreichischen Deutsch kann man sowohl ‚das Virus‘ als auch ‚der Virus‘ sagen, wobei ‚der Virus‘ überwiegt. Im deutschen Fernsehen hat man aber in der Corona-Zeit immer nur ‚das Virus‘ gehört, weshalb man sich im ORF dann auf ‚das Virus‘ geeinigt hat, weil das ja die richtige Form sein muss. So funktioniert aber auch Sprachgeschichte.“

Das „Österreichische Wörterbuch“ als Abbild seiner Zeit

Die Pandemie war es übrigens auch, die für besonders viele neue Begriffe in der jüngsten 44. Auflage des „Österreichischen Wörterbuchs“ gesorgt hat: „Da sind neue Wörter wie Impfstraße, Impfneid, natürlich auch Covid-19 dazugekommen“, berichtet Christiane Pabst, „aber auch Bedeutungserweiterungen: Bei der Maske zum Beispiel ist zur Faschingsverkleidung, zur Kosmetikanwendung und zum In-der-Maske-sitzen der Mundnasenschutz aufgenommen worden. Oder im administrativen Bereich der Oster-Erlass des damaligen Gesundheitsministers.“ Der Sinn dahinter ist, dass man später Texte, die sich darauf beziehen, besser versteht. Das „Österreichische Wörterbuch“ ist also auch ein Abbild seiner Zeit.

Das Nachschlagewerk ist einem steten Wandel unterworfen, wie die Zahl der Auflagen zeigt. Denn wenn nicht mehr als 70 Prozent des Inhalts geändert werden, gibt es keine neue, sondern lediglich eine aktualisierte Auflage. Insofern sind 44 Auflagen in fast 75 Jahren ganz schön viel. Eine der größten Veränderungen gab es 1996 im Zuge der großen Rechtschreibreform. Und für das kommende Schuljahr steht die aktualisierte, 44. Auflage an, die im Juni erscheint und wieder eine größere Reform abbilden wird. Neben der Schul- gibt es auch eine Buchhandelsausgabe. „Das Wörterbuch soll nicht nur in der Schule helfen, sondern auch im Medizin- und Administrativdschungel in Österreich. Das ist mir wichtig, dass es für alle Menschen in Österreich da ist“, betont Christiane Pabst. Folgerichtig enthält es auf rund 1.000 Seiten nicht nur diverse Tabellen zu Konjugationen, stark gebeugten Verben und andere Übersichten für Schüler*innen, sondern auch eine differenzierte Darstellung diverser Fachsprachen (Jus, Medizin, Biologie, Mathematik), eine Auflistung aller österreichischen Kfz-Kennzeichen – und eine Erläuterung zu den oben angesprochenen diversen akademischen Titeln.

Sensible Sprache

Speziell dieser Anhang trägt die Handschrift von Christiane Pabst, die seit 2004 mit dem „Österreichischen Wörterbuch“ verbunden ist, damals als Konsulentin. Nach diversen Projekten im In- und Ausland von Ungarn bis Brasilien zu verschiedenen Sprachthemen – „Wörterbücher haben mich immer begleitet“, meint sie im Rückblick – ist sie seit 2015 Chefredakteurin des Nachschlagewerks mit einer Handvoll Mitarbeiter*innen und etwa einem Dutzend Konsulent*innen. Und in ihrer Ägide hat sie vor allem in Bezug auf sensible Sprache neue Schwerpunkte und Akzente gesetzt. Das „Österreichische Wörterbuch“ gibt nämlich nicht nur ganz genau Auskunft darüber, welche in Österreich gebräuchlichen Begriffe rassistisch oder diskriminierend sind, sondern enthält auf den letzten Seiten eine Art Sprachknigge. „Man soll nicht nur geschlechtersensibel sprechen, sondern der Umgangston ist insgesamt eine Frage des Respekts, und das ist modeunabhängig“, betont Christiane Pabst.

Der Jugendsprache immer einen Schritt hinterher

Eine besondere Herausforderung für sie und ihr Team ist die Jugendsprache. Denn die entwickelt sich schneller, als die Redaktion ihre Begriffe ins Wörterbuch übernehmen kann. So sucht man etwa neben dem „Digestiv“ den „Digger“ vergeblich. Noch, sagt Christiane Pabst. „In der neuen Auflage kommt er hinein“, verspricht sie. Ob dann auch „heast“, immerhin das österreichische Jugendwort des Jahres 2024, endlich Eingang ins „Österreichische Wörterbuch“ finden wird, bleibt abzuwarten.

In der Online-Version finden neue Begriffe natürlich rascher Eingang in das Nachschlagewerk. Allerdings gibt es derzeit keine vollständig frei zugängliche Online-Version. Man braucht den Code aus einem gekauften Exemplar, um die Website nutzen zu können. Ohne diesen sind fünf Suchanfragen möglich, während duden.de komplett kostenfrei nutzbar ist.

Chefredakteurin Christiane Pabst verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass auf der Website des „Österreichischen Wörterbuchs“ keine Werbung erlaubt ist – im Gegensatz zu jener des „Duden“, die voll davon ist. Sie will aber das Online-Wörterbuch in den nächsten Jahren aufwerten. „Meine Philosophie ist, dass das haptische Printprodukt und das Nachschlagewerk im Internet zwei getrennte Welten sind.“ Ob dann auch eine App folgt? Wer weiß.

Man soll nicht nur geschlechtersensibel sprechen, sondern der Umgangston ist insgesamt eine Frage des Respekts, und das ist modeunabhängig.

Das „Österreichische Wörterbuch“ ist erstmals 1951 erschienen, am 10. Juni 2025 ist eine neue Ausgabe davon herausgekommen. Chefredakteurin Christiane Pabst wünscht sich mehr Selbstbewusstsein und die Überzeugung, dass wir in Österreich eine kodifizierte, vollwertige Sprache sprechen. Auch Sprachwissenschafter Rudolf de Cillia betont, wie wichtig die Sprache für die Identitätsbildung ist.

Österreichisches Wörterbuch

Theatergruppe teatro: NS-Widerstand auf der Musical-Bühne

Die Sonne scheint immer noch.“ Diese letzten Worte von Sophie Scholl sind in die Geschichte eingegangen. Am 22. Februar 1943 wurde die 21-Jährige gemeinsam mit ihrem Bruder Hans Scholl und ihrem Mitstreiter Christoph Probst in München hingerichtet. Ihr Verbrechen: Ihre Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ hatte Flugblätter verteilt, in denen zu lesen war, was für ein verbrecherisches Regime der Nationalsozialismus darstellte.

82 Jahre später bringt Intendant Norberto Bertassi nun mit seinem Bühnenprojekt teatro ein Musical über Sophie Scholl auf die Bühne, das für ihn ein Herzensprojekt ist. Denn die Widerstandskämpferin begegnet dem Theatergründer täglich mehrmals – auf einem Straßenschild. „Als ich vor zwölf Jahren in die Sophie-Scholl-Gasse übersiedelt bin, war für mich klar: Irgendwann möchte ich dieser beeindruckenden jungen Frau ein Musical widmen“, erzählt Norberto im Gespräch mit funk tank.

Bis zu 3.000 Kinder auf der Musical-Bühne

Und jetzt ist es endlich so weit: Nachdem im Jänner 2023 das Musical „Anne Frank“ Premiere hatte, folgt nun eine weitere teatro-Inszenierung mit NS-Bezug: „Sophie Scholl – Die weiße Rose“. Beide Stücke werden von einem jungen Ensemble für ein junges Publikum gespielt, so wie es bei teatro üblich ist. Denn seit der Gründung im Jahr 1999 verfolgen Norberto und sein Team das Ziel, Kinder und Jugendliche nicht nur für das Theater zu begeistern, indem sie ihnen etwas zu sehen und hören geben, sondern indem sie auch selbst auf der Bühne stehen dürfen.

Und das waren in den vergangenen 26 Jahren geschätzte 2.000 bis 3.000 Kinder. Denn neben der Erarbeitung der beiden Saisonstücke am Hauptstandort Mödling gibt es auch mehrere Workshops und Musical-Academies im Rahmen der Wiener Volkshochschulen: In der Brigittenau, in Meidling und in der Seestadt Aspern studieren je drei Klassen zu je 10 bis 15 Kindern ein Jahr lang einmal pro Woche ein Musical ein, das am Schluss vor Freund*innen und Familie aufgeführt wird.

Von teatro zur Ronacher-Hauptrolle

Was einst als kleine Kulturinitiative auf einem Bauernhof im südlichen Niederösterreich begonnen hat, ist heute eine echte Institution. Und eine Talenteschmiede, denn manche kleinen teatro-Knirpse von früher sind mittlerweile gefragte Schauspieler*innen. Eines der bekanntesten Aushängeschilder ist derzeit wohl Moritz Mausser, der ab seinem elften Lebensjahr in Mödling unter anderem als Pinocchio, Hutmacher („Alice im Wunderland“), Huckleberry Finn oder Fuchs („Der kleine Prinz“) Bühnenluft schnupperte – und jetzt die Hauptrolle im Falco-Musical „Rock me Amadeus“ im Ronacher spielt.

Norberto verweist auf die Pionierarbeit, die teatro in Sachen Kinder- und Jugendtheater geleistet hat: „Als wir vor rund 25 Jahren angefangen haben, gab es zwar einige Sprechtheater von Jungen für Junge, aber wir waren damals die Einzigen, die Musiktheater gemacht haben. Und das alles im Eigenbau.“ Die Texte stammen aus der Feder von Norbert Holoubek, für die Musik zeichnet Walter Lochmann verantwortlich, und die Choreografien entwickelt Kathleen Bauer. „Wir machen alles selbst und nehmen keine fremden Stücke“, erzählt der Intendant, der insgeheim hofft, umgekehrt einmal einem großen Theater eine seiner Produktionen verkaufen zu können.

Apropos Geld: Wie sieht es denn finanziell aus? Norbertos kurze Antwort: In Niederösterreich ist alles fein, da ist teatro Teil des Theatersommers und wird entsprechend gefördert. „In Wien hingegen bekommen wir gar nichts, weil die Stadt nur Profis unterstützt und keine Theaterprojekte mit Kindern.“ Dabei leisten die drei Musical-Academies einen wichtigen Beitrag zur Kulturbildung, der von den Eltern der kleinen Darsteller*innen gestemmt werden muss. Das führt unter anderem dazu, dass in Aspern die Kulturgarage für die Abschlussaufführung zu teuer ist und man nach Groß-Enzersdorf ausweichen muss. Der Impresario Michael Niavarani hingegen schätzt die teatro-Produktionen offensichtlich, wie die geplanten Aufführungen von „Cinderella“ diesen Sommer in seinem Theater im Park und „Die Weihnachtsgeschichte“ im Dezember in seinem Globe beweisen.

Norberto Bertassi vom teatro Mödling
Norberto Bertassi vom teatro Mödling © teatro

Als ich vor zwölf Jahren in die Sophie-Scholl-Gasse übersiedelt bin, war für mich klar: Irgendwann möchte ich dieser beeindruckenden jungen Frau ein Musical widmen.

Ensemble von 9 bis 71 Jahre

Bei diesen Wiederaufnahmen mit dabei ist der älteste teatro-Darsteller: Peter Faerber – unter anderem bekannt als die Stimme von Thomas Brezinas sprechendem Fahrrad Tom Turbo – könnte mit seinen 71 Jahren der Urgroßvater des aktuell jüngsten teatro-Mitglieds (9) sein, das bei der zweiten großen Saisonproduktion in Mödling mitwirkt: Für die Jüngsten wird das locker-leichte Musical „Mogli“ gegeben, und zwar in einer aufgepimpten Version der Produktion aus dem Jahr 2012: „Es gibt neue Musik, und das Ganze wird viel größer und viel aufwendiger“, schwärmt Norberto.

Der jüngste Darsteller in „Sophie Scholl“ ist hingegen schon 17 Jahre alt, und das aus gutem Grund. Denn locker-leicht ist hier gar nichts. Es beginnt 1938 in Forchtenberg, wo Vater Scholl Bürgermeister ist und seine Kinder zunächst Feuer und Flamme sind und freudig mitmachen bei der Hitlerjugend. „Aber dann steigert sich das alles immer mehr, und die Kinder verlassen eines nach dem anderen diese fürchterliche Ideologie und geben dem Vater Recht, der von Anfang an dagegen war“, schildert Norberto den Plot. Es ist also eine Entwicklungsgeschichte in Bezug auf den Nationalsozialismus, der ja anfangs von vielen als das Heil in der Wirtschaftskrise begrüßt wurde, ehe er seine hässliche Fratze ganz offen zeigte. „Und wir sehen jetzt gewisse Parallelen. Manche Menschen scheinen vergessen zu haben, was hier in Europa früher los war“, meint der Intendant. Rechtspopulistische Tendenzen, die immer wieder aufflammende Migrationsdebatte, der Krieg in der Ukraine – all das macht Norberto Sorgen und ist mit ein Grund für ihn, die Geschichten von Anne Frank und Sophie Scholl zu erzählen „und uns an der Erinnerungskultur zu beteiligen“.

80 Jahre Weltkriegsende, und die Sonne scheint immer noch

Und dann ist da ja noch der besondere Termin heuer, jährt sich doch das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Genau am 8. Mai, dem Datum des offiziellen Kriegsendes, wird „Anne Frank“ in Mödling als konzertante Version aufgeführt. „Mödling feiert da auch 150 Jahre Stadterhebung, da hat sich das ganz gut ergeben“, erklärt Norberto. Die Premiere von „Sophie Scholl – Die weiße Rose“ ist dann am 10. Juli im Stadttheater Mödling, die Inszenierung wird aber später auch im Wiener Vindobona zu sehen sein.

Und Norberto denkt bereits über weitere Produktionen mit historischen Bezügen nach. Wichtig ist ihm dabei Faktentreue, weshalb er zur „Weißen Rose“ etliche Sachbücher verschlungen hat. Und er überlegt sich gut, was und wie viel davon er dem jungen Publikum zumuten kann. So endet das Musical „Anne Frank“ bereits mit der Entdeckung und Gefangennahme im Amsterdamer Hinterhaus, „und wir haben dann bloß szenisch berichtet, was aus jeder einzelnen Person geworden ist – das ist traurig genug.“ Bekanntlich starb Anne ein halbes Jahr nach ihrer Verhaftung im KZ Bergen-Belsen. Die Hinrichtung von Sophie Scholl kommt zwar im Stück vor, „aber nicht so plakativ“, sagt Norberto. Und: „Es endet mit einer Überraschung.“ Worin die besteht, verrät er natürlich nicht. Nur so viel: „Wir wollen das Publikum nicht traurig nach Hause schicken.“ Vielleicht hat er ja bei der Entwicklung des Stücks herausgearbeitet, wie viel Trost und Hoffnung trotz allem in Sophies letzten Worten liegen: „Die Sonne scheint immer noch.“

Theatergruppe teatro aus Mödling mit "Sophie Scholl" 2025
"Sophie Scholl" © teatro

Das 1999 gegründete Musiktheater teatro – unter der Leitung von Norberto Bertassi – widmet eine seiner beiden heurigen Saisonproduktionen der Geschichte der „Weißen Rose“ um Sophie und Hans Scholl. Nach anfänglicher Begeisterung für den Nationalsozialismus nahmen die beiden Geschwister in den frühen 1940er-Jahren zunehmend dessen Unmenschlichkeit wahr und gründeten in München eine Widerstandsgruppe, die insbesondere Flugblätter verteilte, in denen sie zum Sturz des Regimes aufriefen. Im Laufe des Jahres 1943 wuchs dieser Protest auf weitere deutsche Städte, und selbst in Wien tauchten die Flugschriften der „Weißen Rose“ auf. Am 18. Februar 1943 wurden Sophie und Hans verhaftet, als sie an der Universität München rund 1.700 Flugzettel verteilten, und vier Tage später zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Diese Geschichte zeichnet das 14-köpfige Ensemble von teatro im Musical „Sophie Scholl“ nach. Premiere ist am 10. Juli 2025 um 19:30 Uhr im Stadttheater Mödling, weitere Vorstellungen dort sind am 19. Juli, 26. Juli und 2. August. Das Musical gastiert außerdem am 8. November im Wiener Vindobona – das Datum ist kein Zufall, liegt es doch mitten in der Gedenkwoche an die Pogrome vom 9./10. November 1938, bei denen im gesamten Deutschen Reich (also auch in Österreich) in einer konzertierten Aktion jüdische Einrichtungen zerstört und zahlreiche Menschen misshandelt wurden.

Den Auftakt zur teatro-Saison 2025 in Mödling macht das Musiktheater „Anne Frank“ am 8. Mai, an diesem Tag jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Infos und Tickets zum Musiktheater für junges Publikum:

teatro

Valerie Huber: „Wir dürfen den Mut nicht verlieren!“

Ja, das war ganz schön smart!“ Valerie Huber verzieht ihr Gesicht zu einem sarkastischen Grinsen. Denn dass wir uns heute mit unserem CO2-Fußabdruck permanent selbst belasten, geht auf eine ausgeklügelte Marketingstrategie des britischen Ölkonzerns BP vor rund 20 Jahren zurück: „Ihnen ist damit gelungen, die Aufmerksamkeit und die Verantwortung von sich auf uns umzulenken. Statt auf die wahren Verschmutzer zu schauen und sie dazu zu bringen, Öl und Gas endlich im Boden zu lassen, machen wir uns selbst Vorwürfe, weil wir Fleisch essen oder mit dem Auto fahren.“

Dabei will die Schauspielerin, die mit „FOMO Sapiens“ im Jänner 2025 ihr erstes Buch veröffentlicht hat, gar nicht verhehlen, dass wir alle unseren Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten müssen: „Natürlich ist auch persönlicher Verzicht wichtig und gut. Doch das steht in keiner Relation zu den Maßnahmen, die auf globaler Ebene getroffen werden müssen: Was ich viel besser finde als die Frage nach dem Fußabdruck, ist das Konzept des ‚ökologischen Handabdrucks‘.“ Der beschreibt – grob vereinfacht – die kleinen klimafreundlichen Handlungen, die jeder einzelne Mensch leisten kann, etwa gesunde Lebensmittel aus regionaler Landwirtschaft zu essen: „Es geht darum, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu handeln. Aber wir können uns nicht immer nur kasteien, sondern müssen auch auf unser persönliches kleines Glück achten. Sonst haben wir ja gar keinen Grund mehr, in der Früh noch aufzustehen …“

FOMO – Fear of missing out

Valerie Huber ist Schauspielerin aus Leidenschaft. Mit zehn Jahren stand sie erstmals für Thomas Brezinas TV-Serie „Tom Turbo“ vor der Kamera. Sie war in TV-Serien wie „Das Traumschiff“ und „SOKO Köln“ ebenso zu sehen wie in kitschigen Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen und dem romantischen Fernsehfilm „Ein Sommer auf Mykonos“. 2021 spielte Valerie Huber eine der Hauptrollen in der Netflix-Serie „Kitz“ und brillierte im Biopic „Klammer – Chasing the Line“, 2023 stand sie neben Otto Jaus und ihrem damaligen Freund Paul Pizzera für die Kino-Komödie „Pulled Pork“ vor der Kamera. „Schauspielerin“, sagt sie im funk tank-Gespräch im Guesthouse Vienna, „ist für mich der schönste Beruf, den es gibt. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen und mit wahnsinnig tollen Menschen meine Möglichkeiten auszuloten. Was für ein Privileg, so einen kreativen Beruf ausüben zu dürfen.“

Daneben gibt es aber auch andere Aspekte, für die Valerie Huber privat „wahnsinnig brennt“ – und das sind die Politik und damit verbunden ein politischer Aktivismus, der ihr nicht nur Jubel einbringt. Sie positioniert sich über ihren Instagram-Account und in Interviews klar und lautstark gegen rechts; dass sie öffentlich mit den verkehrsbehindernden Aktionen der Letzten Generation sympathisierte, brachte ihr in einem Boulevard-Medium den (nicht schmeichelhaft gemeinten) Spitznamen „Klima-Valerie“ und den Vorwurf der Heuchelei ein. „Das war, nachdem ich für eine TV-Dokumentation auf den Galapagos-Inseln gedreht hatte. Anfangs habe ich gedacht, dass mich solche Vorwürfe nicht treffen würden. Aber dann hat es mich doch berührt …“

Denn gerade der Klimawandel und dessen unabsehbare Folgen sind Themen, denen sich Valerie Huber in ihrem neuen Buch „FOMO Sapiens“ widmet. Der Untertitel dieses rund 300 Seiten starken Sachbuchs lautet „Verpassen wir die heile Welt? 34 Fragen, die mich nachts wachhalten“. Sie macht sich unter anderem Gedanken über unsere moderne Konsumgesellschaft, die Gefahr von Social Media, soziale Ungerechtigkeit, die Rolle der Frau und – wie der Titel sagt – die „Fear of missing out“, also die beständige Angst, etwas zu verpassen: „Unsere Welt bröckelt an allen Ecken und Enden. Und meine Generation ist die letzte, die etwas dagegen tun könnte. Aber ich sehe, dass sich gerade meine Generation scheinbar im Tiefschlaf befindet und sich lieber auf TikTok die Zeit vertreibt, statt sich irgendwie zu engagieren.“

Mit „FOMO Sapiens“ will Valerie Huber schwer fassbare Probleme leicht verpacken: „Aber eigentlich ist es ein Hilfeschrei!“ Denn die Frage, welche Welt wir der nächsten Generation hinterlassen, bereitet ihr große Sorgen: „Das geht so weit, dass diese Gedanken meinen potenziellen Kinderwunsch beeinflussen. Okay, ich bin noch keine 30 und habe noch ein bisschen Zeit. Aber wie alle Menschen meiner Generation frage ich mich, ob wir überhaupt noch Hoffnung auf eine gute Zukunft haben …“

Prägende Jahre in Afrika

Ein besonders eindringliches Kapitel widmet Valerie Huber ihrer Rolle als Unicef-Ehrenbeauftragte, die sie 2023 nach Malawi und in den Südsudan führte, zwei der ärmsten Länder der Welt. Denn gerade Afrika liegt der gebürtigen Wienerin besonders am Herzen. Sie hat ihre ersten sieben Lebensjahre in der Elfenbeinküste und in Uganda verbracht (später sollte sie auch noch vier Jahre in der US-Hauptstadt Washington zur Schule gehen). „Afrika“, sagt sie, „hat mich in jedem Aspekt bis heute geprägt. Sei es die Liebe zum Essen oder zur Musik und zum Tanz. Am allerwichtigsten war aber, dass ich schon in so jungen Jahren mitbekommen habe, wie groß das soziale Ungleichgewicht auf der Welt ist.“

Valerie Huber ist klar, dass sie eine „super privilegierte“ Kindheit verbracht hat: „Ich bin nicht im Slum aufgewachsen. Unser Haus hatte einen Garten und einen Nachtwächter, der mit einer Kalaschnikow bewaffnet war. Denn leider Gottes sind die Gegenden, in denen die reicheren Europäer*innen wohnen, eine gute Zielscheibe für Einbrüche.“ Nachdenklicher Nachsatz: „Und ehrlich gesagt, finde ich das verständlich …“

Ihre Eltern – die mittlerweile ihren wohlverdienten Ruhestand im Salzkammergut verbringen – waren immer schon gesellschaftlich und sozial sehr engagierte Menschen. Mutter Christa war Controllerin, Vater Konstantin hat als Entwicklungsökonom gearbeitet: „Sie waren schon vor meiner Geburt jahrelang gemeinsam in Afrika in ein Entwicklungsprojekt involviert. Es klingt vielleicht kitschig, aber die waren große Idealist*innen. Sie wollten die Welt zum Besseren verändern.“

Und das hatte von Anfang an riesigen Einfluss auf die junge Valerie: „Man kann natürlich diesen immer wieder ein bisschen verächtlich gebrauchten Begriff ‚Gutmenschen‘ verwenden. Aber meine Eltern waren und sind tatsächlich gute Menschen. Und das hat mich geprägt: Dass ich mich heute als Aktivistin engagiere, nicht nur als Unicef-Ehrenbeauftragte, kommt sicher daher, dass mir meine Eltern vorgelebt haben, dass man etwas tun kann – und muss.“

Schauspielerin und Aktivistin Valerie Huber und Unicef
© Unicef

Politik am Esstisch

Politik war zu Hause kein Tabu, erinnert sich Valerie Huber: „Es gab kein Abendessen ohne politische Diskussionen, ohne Gespräche über tagespolitisch aktuelle Themen.“ Dass ihre Stimme schon früh nicht nur gehört, sondern von den Eltern ernst genommen wurde, ist ein weiterer Mosaikstein ihrer Persönlichkeitsentwicklung: „Das ist etwas, was ich mit meinem Buch ebenfalls vermitteln möchte: Politik ist überall, wir alle werden ständig von der Politik beeinflusst. Ich habe früh das Bedürfnis verspürt, mitzureden und bin auch ermutigt worden, meine Meinung zu sagen.“

Auf jeden Fall habe ihr das familiäre Umfeld ein grundlegendes Gefühl der Sicherheit vermittelt: „Ich bin komplett furchtlos aufgewachsen. Und ich habe bis heute keine Angst. Ich habe keine Angst vor dem Tod und ich habe keine Angst davor, mich für meine Anliegen einzusetzen.“ Und das ist eine Eigenschaft, die sie als Vorbild anderen Menschen weitergeben möchte: „Furcht ist nie förderlich, Furcht lähmt uns nur. Wir müssen mutig sein. Wir müssen Hoffnung schaffen!“

Was ebenfalls zu ihrer grundlegenden Selbstsicherheit beigetragen hat, war die Sportbegeisterung ihrer Eltern. Ihr Vater war nebenbei Taekwondo-Trainer, ihre Eltern haben sich sogar über diesen ursprünglich koreanischen Kampfsport kennengelernt. Und so war es kein Wunder, dass Valerie Huber früh mit diesem Sport begonnen und heute – wie alle Familienmitglieder – Trägerin des „schwarzen Gürtels“ ist: „In der Schule war ich eine kleine Rauferin. Ich habe mir nicht gefallen lassen, dass Burschen angeblich besser und stärker sind als Mädchen und habe mich deshalb oft mit ihnen geprügelt.“

Unsere Welt bröckelt an allen Ecken und Enden. Und meine Generation ist die letzte, die etwas dagegen tun könnte. Aber ich sehe, dass sich gerade meine Generation scheinbar im Tiefschlaf befindet und sich lieber auf TikTok die Zeit vertreibt, statt sich irgendwie zu engagieren.

Die Rolle(n) der Frau

Die Rolle der Frau in der Gesellschaft ist ein großes Thema in Valerie Hubers Leben (und Arbeit): „Wir brauchen viel mehr weibliche Vorbilder. Filme werden praktisch immer aus männlicher Sicht erzählt.“ Zur Untermauerung erwähnt sie in ihrem Buch einen Test der amerikanischen Cartoon-Zeichnerin und Autorin Alison Bechdel: Dieser „Sexismus“-Test aus dem Jahr 1985 zeigt noch heute anhand dreier simpler Fragen, welch untergeordnete Bedeutung Frauen in Filmen zukommt. „Das sind Fragen, die jeder selbst und objektiv beantworten kann: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen diese Frauen miteinander? Und unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann?“

Bei aller Kritik an dem Test – etwa, dass ein Film „nicht sexistisch“ wäre, obwohl sich die Frauen nur übers Schminken unterhalten, oder ein Film auch dann als „sexistisch“ bewertet wird, wenn eine einzelne Frau die tragende Rolle spielt – ist das Ergebnis „schlimm. Es ist absurd, wie sexistisch die Branche ist.“ Deshalb will sich Valerie Huber in Zukunft selbst verstärkt in Richtung Regie entwickeln: „Weil ich in der Filmwelt mehr Verantwortung übernehmen und die Filmwelt vielleicht ein bisschen mitformen kann.“ Ihr großes Ziel ist es, „dieser Volksverdummung entgegenzuwirken, die seit einiger Zeit stattfindet: Das ist Aufgabe des modernen Films. Denn indem wir eine Reality-Show nach der anderen produzieren, wird uns das nicht gelingen…“

Vom Nachteil, jung und blond zu sein

In „Klammer – Chasing The Line“, dem Biopic über das Leben von Franz Klammer und dessen atemberaubender Jagd nach Olympiagold 1976, verkörperte sie 2021 Eva, die damalige Freundin und spätere Ehefrau des österreichischen Skihelden. Es war bis dato ihre Lieblingsrolle, sagt Valerie Huber. Doch gerade auf diese Art von Rollen will sie sich nicht festlegen (oder besser: festnageln) lassen. Im Gegenteil! „Ich habe immer wieder Filmprojekte abgesagt, weil die angebotenen Rollen zu klischeebehaftet waren. Ich will nicht immer nur ‚die Freundin von‘ spielen!“

Zu bewusst ist der Kosmopolitin, die zwischendurch zweieinhalb Jahre in Berlin gelebt und gearbeitet hat, welche Rolle Film und Fernsehen im Leben und vor allem der Entwicklung von Mädchen und (jungen) Frauen haben: „Wir werden dazu erzogen, uns und unseren Körper zu hassen! Damit sich schon 16-Jährige unters Messer legen und tausende Produkte kaufen, um sich endlich schön zu fühlen! Uns wird von klein auf beigebracht: Ihr seid nicht gut genug, nicht schön genug, so wie ihr seid. Und das alles, weil eine Milliardenindustrie damit richtig viel Geld verdienen kann.“

Ihr eigenes Aussehen sieht sie nicht als Vorteil, sondern speziell in der Film- und Fernsehbranche als Nachteil: „Ich habe immer das Gefühl, ganz besonders stark kämpfen zu müssen. Weil man mir nicht zutraut, dass ich mehr kann als jung und blond zu sein.“ Sogar bei der Promotion für „FOMO Sapiens“ hatte Valerie Huber mit Vorurteilen zu kämpfen: „In einem Interview hat man mir gesagt: ‚Ich habe Ihnen nicht zugetraut, dass Sie so ein tiefgründiges Buch schreiben können.‘ Egal, was ich tue, ich muss mich immer doppelt beweisen.“

Ich bin komplett furchtlos aufgewachsen. Und ich habe bis heute keine Angst. Ich habe keine Angst vor dem Tod und ich habe keine Angst davor, mich für meine Anliegen einzusetzen.

Wechsel in die Politik?

Natürlich hat Valerie Huber überlegt, selbst in die Politik zu gehen. Nach der Matura hatte sie sogar Politikwissenschaften studiert, sich aber für die Schauspielerei entschieden: „Ich will nichts ausschließen. Wobei ich glaube, dass ich für die Politik zu stur und nicht kompromissbereit genug bin.“ Außerdem sei ihr klar, dass ein Wechsel in die Politik mit einem Ende ihrer Schauspielkarriere Hand in Hand gehen müsste: „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich in der Politik wirklich mehr Möglichkeiten hätte als heute als Schauspielerin. Denn meine Bekanntheit bietet mir eine kleine Bühne, auf der ich sehr viele Menschen erreichen kann.“

Dass sie „FOMO Sapiens“ schreiben und ihre Gedanken damit veröffentlichen durfte, lag übrigens daran, dass sie vom Verlag auf diese Idee angesprochen wurde: „Mein Vater hat sein Leben lang als Entwicklungsökonom versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er ist ein absoluter Experte und der schlauste Mensch, den ich kenne. Er wurde aber nie gefragt, ob er ein Buch über seine Erfahrungen schreiben möchte. Sie fragen lieber eine blonde, junge Schauspielerin – ich glaube, das beschreibt unsere Gesellschaft sehr gut.“

Valerie Huber, Jahrgang 1996, ist eine österreichische Schauspielerin und Aktivistin. Ihr Studium der Politikwissenschaften gab sie zugunsten einer Ausbildung an der Schauspielschule Krauss auf. Die sportliche Wienerin, die ausgebildete Skilehrerin ist und den schwarzen Gürtel in Taekwondo besitzt, engagiert sich als Unicef-Ehrenbeauftragte, gegen soziale Ungleichheit und für Klimaschutz. Unter dem Namen valeh veröffentlichte sie auf ihrem eigenen Label 96VRecords bisher mehrere Songs mit eigenen Texten, zuletzt im Dezember 2024 die Single „Heart of Snow“. Vor Kurzem stand sie in Spanien für die internationale TV-Produktion „Weiss und Morales“ vor der Kamera.

Valerie Huber – Website

Dokumentarfilm „Requiem in Weiß“ von Harry Putz

„Unsere Gletscher verschwinden. Sie sterben lautlos. Doch was das für uns als Gesellschaft, für uns als Menschheit bedeutet, liegt außerhalb unserer Vorstellungskraft“, sagt Harry Putz. Und deshalb widmet der Innsbrucker Kameramann und Filmemacher mit seiner neuen Doku „Requiem in Weiß“ einem Thema, das ihm als Bergmensch persönlich sehr am Herzen liegt: „Wir müssen erkennen, dass etwas unwiederbringlich verloren geht. Mehr noch: Dass sich etwas verändert – aber wir als Menschheit noch keine Ahnung haben, was durch diese Erderwärmung und den Klimawandel wirklich auf uns zukommt. Die Gletscher sind jedenfalls nur ein Anzeichen der Veränderungen. Mit diesem Film will ich dazu beitragen, die Empathie für unsere Natur zu fördern.“

Das Bewusstsein hat gefehlt

Harry Putz, 51, ist in einer wintersportbegeisterten Familie am Arlberg aufgewachsen, sein Onkel, Gerhard Nenning, feierte im Weltcup unter anderem Siege in Wengen und Kitzbühel und gewann in den 1960ern drei WM-Medaillen. Er selbst tingelte in den 1990ern – wegen seiner auffälligen Dreadlocks bekannt als „fastest Rasta“ – als Snowboard-Rennfahrer rund um den Planeten. „Ich war auf Gletschern im Himalaya-Gebirge, in Neuseeland und in Spitzbergen unterwegs, in den Sommer- und Herbstmonaten habe ich auf Gletschern in Österreich trainiert.“

Schon damals, erinnert sich Harry Putz, habe es erste Diskussionen über einen Rückzug der Gletscher gegeben: „Man dachte aber, das wäre nur ein kurzfristiger Effekt. Wir haben zwar gemerkt, dass sie Jahr für Jahr ein wenig stärker abschmelzen. Aber es war ja trotzdem noch so viel von den Gletschern vorhanden.“ Nachdenklicher Nachsatz: „Mir hat, wie so vielen anderen Menschen, das notwendige Bewusstsein für das Problem gefehlt.“

Warum die Gletscher verschwinden

Für seinen neuen Film, der ab 19. März mit einer Premierentour in die Kinos kommt, besuchte Harry Putz 14 Gletscher in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Südtirol. Und er sprach mit zahlreichen Expertinnen und Experten aus der Klimatologie, der Glaziologie und angrenzender Forschungsfelder: „Die Gletscher zeigen uns ganz klar, was in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Klima passiert ist. Das rapide Abschmelzen passiert nicht nur, weil es jetzt so warm ist, sondern weil es im Laufe der vergangenen Jahrzehnte um so viel wärmer geworden ist. Die Effekte treten verzögert ein.“

Gletschereis bildet sich grundsätzlich durch Schneefall im Einzugsgebiet der Gletscher: „Schneeschichten verdichten sich mit den Jahren zu Eis. Durch die Schwerkraft bewegt sich der Gletscher ganz langsam talwärts und schmilzt dort ab, wo es ihm dann zu warm wird. Da jetzt von oben aber nichts mehr nachkommt, weil in den Sommern kein Schnee mehr liegenbleibt, fehlt halt der Nachschub. Dadurch beschleunigt sich das Abschmelzen an der Gletscherzunge. Das Fatale aber ist, dass sich die Einzugsgebiete nicht mehr aufbauen, sondern ebenfalls völlig abschmelzen.“

Die Probleme sind hochkomplex – und die Folgen unabsehbar: „Selbst, wenn wir sofort alle CO2-Emissionen stoppen und ab heute klimaneutral sind, wird dieser von uns initiierte Rückkopplungseffekt die Temperatur weitere 30 bis 40 Jahre steigen lassen.“ Und das heißt, dass lediglich sechs bis zehn Prozent der Gletscher in den Ostalpen bestehen bleiben.

Moodbild Dokumentarfilm „Requiem in Weiß – Das würdelose Sterben unserer Gletscher“ von Harry Putz
© Harry Putz

Wir müssen erkennen, dass etwas unwiederbringlich verloren geht. Mehr noch: Dass sich etwas verändert – aber wir als Menschheit noch keine Ahnung haben, was durch diese Erderwärmung und den Klimawandel wirklich auf uns zukommt. Die Gletscher sind jedenfalls nur ein Anzeichen der Veränderungen.

Wozu wir die Gletscher brauchen

Doch was bedeutet dieses Gletschersterben konkret? Könnten wir nicht einfach einen metaphorischen Mantel des Vergessens über die Geröllfelder werfen, wo einst mächtige Gletscher lagen? „Nein“, sagt Harry Putz. Denn tatsächlich ist unser Leben (und das nicht nur in der Alpenrepublik) auf einen Jahrtausende alten Kreislauf abgestimmt: „Das Gletschereis hält frisch gefallenen Schnee besser am Berg. Wenn der Schnee im Frühjahr und Sommer abschmilzt, führt das zu einem regelmäßigen Abfluss des Wassers über unsere Flüsse.“

An dieses System hat sich unsere Natur im Laufe der Zeit angepasst. „Wenn die Gletscher fehlen, verändert das unser sogenanntes Abflussmanagement ganz entscheidend. Und das wirkt sich auf die Pegelstände der Flüsse ebenso aus wie aufs Grundwasser.“ Neben unabsehbaren Auswirkungen auf die Artenvielfalt erwartet Harry Putz auch ganz konkrete Folgen für viele Haushalte in ganz Österreich: „Wasserkraftwerke, etwa am Inn oder auch an der Donau, werden deutlich geringere Strommengen produzieren, wenn im Frühjahr und Sommer weniger Wasser abfließt und die Flüsse damit deutlich weniger Kraft haben.“

Kein Bashing der Tourismus-Industrie

Dass die UNESCO (die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur) und die WMO (die Weltorganisation für Meteorologie) 2025 zum „Internationalen Jahr der Erhaltung der Gletscher“ erklärt haben, war Harry Putz zu Beginn seiner Arbeit gar nicht bewusst. „Mir ging es ursprünglich um die Frage: Wie gehen wir mit der Natur um. Und da spielt der Tourismus eine entscheidende Rolle, denn die Gletscher werden dafür ausgenutzt.“

Gerade in seiner Heimat werde, laut Harry Putz (der sich in seiner vorangegangenen Produktion „Bis zum letzten Tropfen“ intensiv mit dem Thema „Tirol und die Wasserkraft auseinandergesetzt hat), „die Natur regelrecht prostituiert. Mich stört wahnsinnig, was in der hochalpinen Welt passiert. Aber ich hinterfrage mich natürlich: Ist das nur ein persönliches Gefühl? Gibt es gute Argumente, die rechtfertigen, was auf den Bergen passiert? Dass man die Kapazitäten in den Skigebieten immer weiter ausbaut? Dass man immer größere, breitere Pisten braucht und überall Kunstschneeanlagen errichtet? Dass man neue Gletscher erschließt, die in absehbarer Zeit ohnehin verschwunden sein werden? Warum darf man Skigebiete etablieren, wo noch Wildnis ist?“

Auf der Suche nach Antworten lässt Harry Putz in „Requiem in Weiß“ nicht nur Naturschützer*innen zu Wort kommen, sondern auch – bewusst nicht gegendert – Vertreter des Tourismus und der Seilbahnindustrie, die weiterhin großes Interesse am wirtschaftlichen Ausbau der Gletschergebiete hat: „Mein Film soll kein Bashing der Wintersport- und Tourismusbranche sein.“

Wichtiger ist eine grundlegende Philosophie seines Lebens: „Kampf bringt überhaupt nichts, Lösungen müssen im Dialog gesucht werden. Es ist nicht meine Absicht, für eine der beiden Seiten Werbung zu machen, sondern zu reflektieren: Wie weit kann man gehen mit der Vermarktung unserer Berge, mit dem weiteren Ausbau? Und wo gibt es Grenzen, die man erkennen und neu definieren muss?“

Schmerzhafte Veränderungen

Eine beeindruckende Rolle in dem Dokumentarfilm spielt eine Aktion der NGO „Protect Our Winters“: Umweltaktivistinnen und -aktivisten haben 2023 auf der Pasterze am Großglockner in einer spektakulären PR-Aktion einen Sarg aus Eis symbolisch zu Grabe getragen. „Dieses ‚Gletscherbegräbnis‘ war optisch sehr förmlich, wodurch es verwirrend und ein wenig anstößig wirkte. Der Trauermarsch ist richtig unter die Haut gegangen. Es war aber auch absurd: Die Reden, die hauptsächlich wissenschaftlichen Background vermitteln sollten, wurden direkt auf der Aussichtsterrasse gehalten, wo die Touristen ankommen und einen ersten Blick auf die Pasterze werfen. Motorräder, Kinder, Hunde. Das war ein schöner Kontrast …“

Dass die Pasterze gerade dabei ist, durch das ungebremste Abschmelzen ihren Status als größter Gletscher Österreichs zu verlieren, ist nur ein weiterer Beleg für die Dramatik der Situation. „Ich bin ja grundsätzlich ein zuversichtlicher Mensch“, sagt Harry Putz. „Aber ich mach’ mir nichts vor und stelle mich auf schmerzhafte Veränderungen ein. Dass Anfang Jänner halb Los Angeles brennt, weil es zu trocken geworden ist – das ist doch ein weiteres Zeichen, dass vieles nicht mehr im Lot ist. Wie deutlich müssen diese Zeichen noch werden, bis man endlich reagiert und handelt?“

Moodbild Dokumentarfilm „Requiem in Weiß – Das würdelose Sterben unserer Gletscher“ von Harry Putz
© Tobias Buettel

Verbindung zur Natur finden

Als aktiver Sportler galt Harry Putz selbst in der Welt der lässigen Snowboarder als Rebell. Seit gut 30 Jahren wachsen seine Dreadlocks vor sich hin, aus dem Vegetarier ist längst ein überzeugter Veganer geworden. Er habe einfach irgendwann beschlossen, sich nicht nur bewusster zu ernähren, sondern auch bewusster zu leben. Deshalb hat Harry Putz als Kameramann immer wieder Aufträge abgelehnt, wenn sie seinem Weltbild widersprochen haben: „Ich verzichte lieber auf Geld als auf meine Ideale.“

Dass er mit „Requiem in Weiß – Das würdelose Sterben unserer Gletscher“ nicht reich wird, sei ihm klar. Wichtiger ist es ihm, Bewusstsein für die Probleme zu schaffen, die mit dem Klimawandel einhergehen. Deswegen ist er bei der Produktion eine Partnerschaft mit dem österreichischen und dem deutschen Alpenverein eingegangen: „Wir stellen den einzelnen Sektionen nicht nur den Film, sondern Assets wie Poster oder digitale Medien zur Verfügung, und sie können dann eigene Events mit anschließenden Diskussionsrunden veranstalten.“

Außerdem wird es vom Film eine Kurzversion für den Einsatz in Schulen geben. In dieser Variante wird der Schwerpunkt auf einem verständlichen Zugang zu wissenschaftlichen Fakten liegen, um Diskussionen in den Klassenzimmern anzuregen: „Ich will aufklären und die Menschen sensibilisieren – vor allem junge Leute, die immer seltener rauskommen und dadurch weniger Empathie und Verständnis für die Natur mitbringen.“

„Das sei eben der Lauf“, sagt Harry Putz. Er weiß, dass Jammern und Weinen nichts bringen. Miteinander zu kommunizieren hingegen schon: „Man darf das der jungen Generation nicht übelnehmen, denn wir haben das selbst verursacht. Die digitale Welt hat halt einfach das Naturerlebnis abgelöst. Dabei ist es essenziell, dass wir in Verbindung mit der Natur leben und verstehen, wie die Kreisläufe funktionieren. Nur dann bekommen wir ein Gespür dafür, was man machen muss, um die Natur zu erhalten. Aber generell müssen wir renaturieren, wo immer wir können – und der Natur Raum zurückgeben, damit sie sich erholen kann!“

Harry Putz, Jahrgang 1973, hat seine Karriere als Snowboard-Profi begonnen. Seit 1998 produziert er Bergfilme, 2023 sorgte der Dokumentarfilm „Bis zum letzten Tropfen“ auf internationalen Festivals für Furore. Der Wahl-Innsbrucker ist Mitbegründer, Veranstalter und Kurator des Freeride Filmfestivals, das seit 2010 die besten Ski- und Snowboard-Filme auf die Leinwand bringt. Sein Sohn Vincent, 20, fungierte bei „Requiem in Weiß“ nach der Matura als sein Assistent – „und das macht mich sehr stolz!“

„Requiem in Weiß“ im Kino: Präsentiert wird der 60-minütige Film auf einer Premieren-Tour in Wien (19. März, Stadtkino), Innsbruck (21. März, Metropol Kino), Schlanders (23. März, Basis Vinschgau), München (28. März, Leopoldkino) und Naters (4. April, WNF Konferenzsaal).

Freiluftdoku


funk tank-Gewinnspiel: Für die Premiere von „Requiem in Weiß“ samt Podiumsdiskussion, u. a. mit der Meteorologin und Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb im Wiener Stadtkino am 19. März – Beginn 17:30 Uhr – verlosen wir 2 × 2 Tickets, hier mitmachen!