Oscar Predictions 2024: Späte Spannung

Schon seit Jahren ist es Tradition im Hause Höller, ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe alle Oscar-nominierten Filme zu prüfen. Den Großteil davon habe ich grundsätzlich schon im Laufe des Jahres im Kino oder via Streaming gesehen, manche muss ich auf anderem Weg (z.B. via Screener – danke an der Stelle an die Unterstützung der Verleihe) nachholen. Immerhin 38 Filme zählt die Liste der erlauchten Spielfilme (Sorry, aber Kurzfilm ist für mich immer noch keine relevante Oscar Kategorie!). Bis auf die Dokumentation To Kill a Tiger, der einfach nicht zu bekommen war, habe ich mir alle angesehen. Teilweise mehrmals, oft begeistert, manchmal auch mit tiefem Bedauern über die vergeudete Lebenszeit. Zwischenfazit: Wie schon im Vorjahr nach der triumphalen Rückkehr des Big Screens nach der Corona-Pause via Avatar: The Way of Water und Top Gun: Maverick bekräftigt auch heuer wieder das Kino seine Macht als Vermittler von überwältigenden Sinneseindrücken, purem Eskapismus und der eindringlichen Präsentation großer Geschichten. Dass Streaming hier – quasi als Second Screen – auch durchaus seine Berechtigung hat, wenn es um den stillen Genuss von Autor*innenkino, Kinderprogramm und Dokumentationen geht, steht mittlerweile aufgrund der hohen Produktions- und Ausstrahlungsqualität der Eigenproduktionen von Streaming-Anbietern außer Frage. Bis auf Amazon Prime, aber das ist eine andere Geschichte.

Barbie und Oppenheimer haben schon früh das Kinojahr dominiert. Der gleichzeitige Kinostart, die hohe Erwartungshaltung und der folgende „Barbenheimer“-Hype haben die beiden Filme an den Kinokassen in lichte Höhen geführt, Kritiker*innen und Publikum wurden ebenfalls nicht enttäuscht. Und aufgrund des Streiks der Filmschaffenden von Juli bis November, der teilweise antizipierte Starts von potenziellen Blockbustern wie Dune: Part Two, Deadpool 3, Ghostbusters: Frozen Empire und der unvermeidlichen Fülle an Marvel-Filmen auf heuer oder auf noch später verzögerte, wurden die Nominierungsoptionen kräftig durchgemischt. Andererseits öffneten die verschobenen Filmstarts ein Fenster für andere, teilweise höchst bemerkenswerte Streifen, wodurch so manche schon als sicher geglaubte Auszeichnung nochmals in Frage gestellt wurde. Die üblicherweise aus vorher stattfindenden Preisverleihungen (Golden Globes, BAFTA, SAG etc.) abgeleiteten Trends brachten hier quasi in der Rapid-Viertelstunde des Oscar-Rennens noch einige spannende Optionen ins Spiel. Für mich jedenfalls stehen die Gewinner*innen fest. Wer meiner Meinung nach aus objektiven Gründen gewinnen sollte, lest ihr in den folgenden Zeilen nach Kategorien sortiert. Aber auch – falls abweichend– wer vermutlich tatsächlich gewinnen wird, denn manchmal werden die Entscheidungen der Academy von Sentimentalität, Politik, Tagesgeschehen, Lobbyismus und leider zunehmend Wokeism getragen.

Bester Film

Wieder einmal hat die Academy satte zehn Filme in der wichtigsten Kategorie nominiert, und erfreulicherweise sind die Genres breit gefächert. Die kleine, feine Produktionsgemeinschaft A24 (die noch keinen einzigen schlechten Film produziert hat, Anm.) ist hier gleich mit zwei Filmen vertreten, The Zone of Interest und Past Lives – toll, aber zu nischig und daher chancenlos. Ebenso wie der hoffnungslos überbewertete Maestro. Experimentelles Kino wie Poor Things ist für den Grand Prix dann doch auch zu wenig breitentauglich, ebenso wie der brillante Anatomy of a Fall, der uns aus unerwarteter Ecke ein paar der besten Kinomomente des Jahres beschert hat. Mehr dazu später. Routiniertes Big Cinema à la Killers of the Flower Moon hebt sich zu wenig aus dem Feld ab, ebenso wie die charmanten, aber doch mainstreamigen Dramödien American Fiction und The Holdovers. Wie schon früh erwartet, läuft es auf ein Duell zwischen Barbie und Oppenheimer hinaus, und da hat letzterer dann doch die Nase vorne. Denn die USA lieben einfach große Held*innengeschichten, und der „Vater der Atombombe“ wird in den Augen der US-Amerikaner*innen immer ein Nationalheld bleiben. Außerdem haben Dramen immer bessere Chancen als Komödien. Und es ist ironischerweise just die in Barbie angeprangerte Männerdominanz, die hier auch mitspielt.

Beste Regie

Traditionellerweise rittern fünf Regisseur*innen der für „Best Picture“ nominierten Filme um diese Auszeichnung, so auch dieses Jahr. Wobei es hier ein klein wenig Entrüstung rund um die Nicht-Nominierung von Greta Gerwig für Barbie gab und gibt. Die ich – im Gegensatz zu manch entbehrlicher Aufregung – hier vollinhaltlich unterschreibe, denn statt Martin Scorsese für sein allzu routiniertes Werk Killers of the Flower Moon hätte ich hier wirklich lieber die Gerwig für Barbie gesehen. Vor allem, weil im starken und mutigen Umfeld von Justine Triets spannendem Anatomy of a Fall, Yorgos Lanthimos außergewöhnlichem Poor Things, Jonathan Glazers bedrückendem The Zone of Interest und Christopher Nolans überwältigendem Oppenheimer selbst das Erfolgsduo Scorsese & DiCaprio etwas angestaubt wirkt. Am Ende des Tages aber egal, denn niemand hat hier der ebenso präzisen wie leidenschaftlichen Arbeit von Nolan etwas entgegenzusetzen.

Beste männliche Hauptrolle

Zuallererst müssen wir in dieser Kategorie Bradley Cooper in der Titelrolle des Maestro im gleichnamigen, leider ziemlich danebengegangenen Oscar-Bait-Ego-Trips rund um Musik-Genie Leonard Bernstein in die Wüste schicken, Nase hin oder her. Bemerkenswert, aber trotz aller Leidenschaft trotzdem zu wenig spektakulär, Colman Domingo als Bürgerrechtler Rustin, ebenso wie die perfekt süßsaure Performance von Jeffrey Wright in American Fiction. An dieser Stelle ist erwähnenswert, dass mit Ausnahme von Bradley Cooper hier Schauspieler nominiert sind, die bisher keineswegs als „Leading Men“, sondern vielmehr als ausgezeichnete und erfahrene Schauspieler in der zweiten Reihe bekannt waren. So wie Paul Giamatti, der mit einer großartigen Vorstellung in The Holdovers dem schon Cillian Murphy als Oppenheimer sicher scheinenden Oscargewinn ins Wackeln brachte. Letztendlich aber wird dem Iren das Goldmännchen nicht zu nehmen sein, denn die Intensität und Gravitas, mit der er hier fast den gesamten Film über drei Stunden trägt, ist herausragend. Und wie schon erwähnt: 1. US-Held, 2. Drama schlägt Komödie.

Filmstill Oppenheimer
Cillian Murphy als Robert Oppenheimer in „Oppenheimer“ von Christopher Nolan © Universal Studios

Beste weibliche Hauptrolle

Keine leichte Entscheidung. Ungeachtet der Empörung rund um Margot Robbie in Barbie (siehe oben) haben wir es hier mit einem extrem dichten Feld an schauspielerischen Leistungen aus völlig verschiedenen Genres, Alters- und Bekanntheitsklassen zu tun. Angeführt von der ehrenwerten Grande Dame Annette Bening in der Titelrolle als Extremschwimmerin in Nyad, zeigen hier die Oscar-prämierte Emma Stone in Poor Things und die schon mehrfach Oscar-nominierte Carey Mulligan in Maestro überzeugende Kostproben ihres Könnens. Wirklich ganz groß. Dennoch müssen sich diese drei Hollywood A-Listers hier den Schneid von zwei bisherigen Außenseiterinnen abkaufen lassen: von Sandra Hüller in Anatomy of a Fall (die sich in The Zone of Interest eigentlich eine zweite Nominierung verdient hätte) und von der wenig bekannten Lily Gladstone, die in Killers of the Flower Moon selbst Kapazunder wie DiCaprio oder De Niro an die Wand spielt. Auch wenn Hüller hier mit einer mehrsprachigen Vorstellung à la Christoph Waltz jeden Preis der Welt verdient hat, wird wohl die Gladstone abräumen. Denn nicht nur das hervorragende Spiel ist ausschlaggebend, sondern auch die Chance, dass hier erstmals eine indigene, amerikanische Schauspielerin mit einem Oscar ausgezeichnet werden kann. Das sollte sich die Academy aus gesellschaftspolitischen Gründen nicht entgehen lassen.

Beste männliche Nebenrolle

Hier gibt es keine Newcomer. Und ebenso wie in der Kategorie der besten Hauptdarsteller steht hier das Feld praktisch Kopf. Denn mit Ausnahme von Sterling K. Brown in American Fiction finden wir hier ausschließlich Oberliga „Leading Men“, die sich hier in einer Nebenrolle mehr als wohlfühlen. Und alle spielen völlig entgegen ihren charakteristischen Standard-Charakteren. Mit Ausnahme von De Niro, der in Killers of the Flower Moon nun ja eben den üblichen De Niro gibt. Bisschen langweilig. Mark Ruffalo als öliger Möchtegern-Playboy in Poor Things zum Beispiel, oder Ryan Gosling als einfältiger Ken in Barbie sind einfach nur königlich gut. Am überraschendsten und beeindruckendsten aber gelingt diese Übung Robert Downey Jr. als Oppenheimer Widersacher Lewis Strauss. Wie der einst gefallene Hollywood-Jungstar und Troublemaker nach seinem fulminanten Comeback via Marvel hier mühelos mit glaubwürdiger Seniorität vom ewig leichtfüßigen Mr. Charming ins ganz ernste Fach wechselt, ist oscarwürdig – ohne Diskussion.

Beste weibliche Nebenrolle

Lange sah es ja so aus, als würden sich Emily Blunt in Oppenheimer oder America Ferrera in Barbie aufgrund ihrer Vorstellungen in einem sehr dichten Feld an schauspielerischen Glanzleistungen die Goldglatze in der Kategorie beste weibliche Nebenrolle ausschnapsen. Zwei Nominierte sind wohl chancenlos: Danielle Brooks in der (entbehrlichen) Musical-Neuverfilmung The Color Purple bleibt zu wenig in Erinnerung, Jodie Foster als Nyad-Sidekick zwar gewohnt gut, bleibt aber von ihren persönlichen Karriere-Highlights dann doch weit zurück. Vorhang auf für Newcomerin Da’Vine Joy Randolph, die quasi wie aus dem Nichts mit ihrer wohldosierten, sarkastischen und einfühlsamen Vorstellung als Schulköchin in The Holdovers Publikum und Kritiker*innen im Sturm überzeugte. Neben der vermutlich im Hauptfach siegenden Lily Gladstone ein erfreuliches Signal aus Hollywood, sodass a) nicht nur der Nachwuchs bei den Damen gesichert ist, sondern b) auch Diversity nicht mehr nur ein Lippenbekenntnis bleibt.

Filmstill "Killers of the Flower Moon"
Lily Gladstone und Leonardo DiCaprio in „Killers of the Flower Moon“ von Martin Scorsese

Bestes Originaldrehbuch

Es gibt sie noch, die frischen Ideen. Trotz aller berechtigten Unkenrufe rund um die Marvelisierung der Kinowelt, schier endlose Reigen an Sequels und Prequels und die fast immer hochnotpeinlichen Remakes sitzt jetzt gerade jemand an den Tasten und kreiert ein neues, originelles und unterhaltsames Drehbuch. Wie im Fall von Past Lives zum Beispiel, der berührenden koreanischen Expat Romance, oder dem bewusst kontroversen Beziehungsdrama May December, das aber hart an den Kriterien zu adaptiertem Drehbuch schrammt und sich zu wenig zwischen Provokation und Routine entscheiden kann. Ebenso wie Maestro, der als Biopic völlig versagt, indem er dem Werk im Verhältnis zu privaten Extravaganzen einfach zu wenig Platz einräumt. Originell und anders ist halt nicht immer gut. The Holdovers hingegen kann mit seiner Balance aus Nostalgie, Weltschmerz, Coming-of-Age und letztendlich mit exzellenter Situationskomik sowie geschliffenen Dialogen voll und ganz überzeugen. Nur noch geschlagen von Anatomy of a Fall, der aufgrund von perfekten mehrsprachigen Dialogen, messerscharfen Timings für Rückblenden und mehrmaliger wechselnder Perspektiven eigentlich aus einem Fernsehkrimi-Material ein dichtes, bis zum Schluss spannendes Kriminal-Drama in Hollywood-Qualität strickt.

Bestes adaptiertes Drehbuch

Schwiiiiierig, ganz schwierig! Man ist natürlich versucht, den Jahresknüllern Oppenheimer oder Barbie den Preis umzuhängen, schließlich ist das Skript ja immer die Grundlage für einen tollen Film. Überhaupt bei Barbie, wo die Agenda von Autorin Greta Gerwig so pipifein in Szene gesetzt wird. Doch halt: Ist es nicht auch eine ähnliche Agenda, die im abgefahrenen Poor Things – wenn auch ganz, ganz anders – transportiert wird? The Zone of Interest wiederum, komplett andere Baustelle, führt den Zuseher*innen erneut die Gräuel der Nazis vor Augen. Es nützt sich jedoch die Grundidee schnell ab und überlässt den Film dann großteils sich selbst, sprich den Schauspieler*innen und der Kamera. Das Drehbuch kann hier wenig nachlegen. Isoliert betrachtet ist es hier American Fiction am besten gelungen, eine im Kern wichtige Agenda mittels köstlich überhöhter Sozialkritik, entlarvendem Spott und vor allem ziselierter Charaktere einen Finger auf die gar nicht so neue Woke-Unkultur zu legen – ohne dabei peinlich zu wirken, sondern wirklich zu unterhalten.

Bester internationaler Film

Wieder einmal ein starkes Jahr für die Filmszene abseits von Hollywood. Mit Society of the Snow wurden unter spanischer Regie die tragischen Ereignisse rund um den Flugzeugabsturz in den Anden von 1972 mit dem folgenden, in höchster Not praktizierten Kannibalismus in großem Stil inszeniert. Dringt aber, so wie der japanische Beitrag Perfect Days von Wim Wenders (!), rund um den Alltag eines Toilettenreinigers doch zu wenig in die Herzen der Zuseher*innen vor, um hier abzusahnen. Bedingungsloser Realismus wie im deutschen Mobbing-Drama Das Lehrerzimmer geht dem Publikum dann schon mehr an die Nieren. Hier hapert es aber letztendlich an einigen schauspielerischen Mängeln in den Nebenrollen. Durch und durch eindringlich, sowohl in Produktion als auch in Aktion zeigt Io Capitano aus Italien Einblicke in den Schlepperalltag zwischen Afrika und Europa, wenn auch ein wenig zu hollywoodesk. Unangefochten meisterlich und daher sicherer Anwärter auf den Auslandsoscar ist aber der beklemmende The Zone of Interest, der einen fassungslos auf die Selbstverständlichkeit des Massentötens aus Nazisicht blicken lässt. So ruhig und dennoch schrecklich wurde der Holocaust noch nie kommentiert.

Bester Animationsfilm

Die Mighty Mouse strauchelt weiter. So und nicht anders ist das nun schon länger andauernde Geschwächel in der einstigen Parade, ja fast schon als Abodisziplin von Disney zu werten. Disneys gut gemeinter, aber eben nicht wirklich guter Elemental fällt in dieser Kategorie weit hinter die Mitnominierten zurück. Sei es der sicher auch konventionelle, aber eben knackiger inszenierte Nimona aus dem Stall von Netflix oder der charmante und gänzlich ohne Dialog auskommende spanische Robot Dreams – alles besser. Ganz zu schweigen von Studio Ghiblis Altmeister Hayao Miyazaki, der uns mit The Boy and the Heron ein wundervolles Spätwerk kredenzt. Auch wenn es more of the same ist, viele Ideen kennt man schon aus früheren Filmen der Japaner*innen. Gold kann es beim Animationsfilm aber nur für die äußerst gelungene Fortsetzung des animierten Multiverse-Wahnsinns rund um Alternativ-Spiderman Miles Morales geben. In Spider-Man: Across the Spider-Verse werden die Grenzen des famosen ersten Teils nochmals gedehnt, ohne dabei auf das so wichtige Character Building zu vergessen. Meisterhaft.

Bester Dokumentarfilm

Hier muss ich mich – wie schon erwähnt – für die fehlende Beurteilung von To Kill a Tiger entschuldigen. Spielt aber vermutlich keine Rolle, weil es hier ohnehin nur einen klaren Sieger geben kann: 20 Days in Mariupol hat mich zum Weinen gebracht. Die Schrecken des Ukraine Krieges sind hier so eindringlich wie objektiv dokumentiert, da braucht es kein erzählerisches Format. Gut und kreativ gemachte Dokus wie Four Daughters rund um junge Frauen, die dem Einfluss des IS verfallen sind, oder Bobi Wine: The People’s President mit den politisch- korrupten Wirren in Uganda als Thema wirken dagegen fast schon harmlos und/oder aus der Zeit gefallen. Und wie sich die rührselige Alzheimer-Doku The Eternal Memory in diese hochkarätige Runde verirrt hat, verstehe ich immer noch nicht.

Beste Kamera

Die Künstler*innen hinter der Linse haben uns auch dieses Jahr wieder völlig neue Perspektiven eröffnet (pun intended). Die schräge Polit/Vampir-Gruselkomödie El Conde, von Edward Lachmann durchwegs in schwarz-weiß gedreht, weiß ebenso zu gefallen wie der phasenweise auch monochrome Film Poor Things via Robbie Ryan mit erfrischend unangenehmer Fischaugen-Optik. Gewagt. Deutlich besser jedenfalls als der ebenfalls zwischen Farbe und Nicht-Farbe schwankende Maestro mit Matthew Libatique, der dies aber scheinbar ohne echtes Konzept tut. Killers of the Flower Moon hingegen, das ist großes Kino, das ist Breitwand, wie man sie von typischen Scorsese-Werken kennt, diesfalls mit Rodrigo Pietro am Okular. Großes Kino im besten aller Sinne fand jedoch 2023 im IMAX-Format statt, für Oppenheimer wieder einmal vom Analog-Supersize-Fetischisten Christopher Nolan durchgesetzt und dem unvergleichlichen Hoyte van Hoytema hinter der Kamera. Wahrlich: Ein Fest für die Augen.

Beste visuelle Effekte

Witzigerweise ist Oppenheimer trotz aller visuellen Grandezza nicht für diese Kategorie nominiert, weil fast ausschließlich Practical Effects. Und im Gegensatz zum letztjährigen Gamechanger Avatar: The Way of Water ist die Eye-Candy-Fraktion heuer eher fad. Guardians of the Galaxy Vol. 3 bietet hier ebenso wenig Neues wie Mission: Impossible – Dead Reckoning Part One oder der zwar herrlich retro orientierte, aber letztlich auch schon 1.000 Mal ähnlich erlebte Godzilla Minus One. Über den gründlich misslungenen Napoleon muss man hier auch wenig Worte verlieren. Es bleibt letztlich für mich als Verlegenheitslösung der zwar auch stellenweise dröge, aber zumindest mit interessanten Effekten versehene The Creator in dieser heuer leider völlig verzichtbaren Kategorie. Hättiwari: ohne Hollywood-Streik und mit Dune: Part Two wäre das nicht passiert …

Bestes Kostümdesign

Die authentische Darstellung von Kleidung aus unterschiedlichen Epochen ist zweifellos kein einfaches Unterfangen, überhaupt in Zeiten, wo Profi Pedanten dank High Definition sofort jeden falsch umgelegten Saum und unpassenden Knopf bemängeln. Insofern ist es den Kostümdesigner*innen von historischen Dramen wie Killers of the Flower Moon, Napoleon oder Oppenheimer hoch anzurechnen, dass sie diesbezüglich alles richtig machen. Ist aber halt auch ein wenig langweilig und unspektakulär, dieses Korrekte. Da gibt Holly Waddington mit den Kreationen in Poor Things dem Affen schon mehr Zucker als Jacqueline West, Janty Yates & Dave Crossman und Ellen Mirojnick. So richtig vom Leder ziehen konnte aber genrebedingt Jacqueline Durran in Barbie, und das tat sie mit Humor, Authentizität und Verve. Unschlagbar ist daher der Kostümrausch in Pink, Fake Fur und Neon-Rollerblades!

Bestes Szenenbild

In dieser Kategorie sind exakt die gleichen Filme nominiert wie beim Kostümdesign, und die Wertung lässt sich witzigerweise praktisch 1:1 mit der gleichen Argumentation umsetzen. Also Killers of the Flower Moon, Napoleon und Oppenheimer kreuzbrav und korrekt umgesetzt, wobei sich letzterer allein schon durch die Inszenierung der Bombe (und deren Detonation) deutlich abhebt. Aber dennoch hat Poor Things mit seinen oft grotesken Szenerien und Ausstattungsmerkmalen (Man achte auf die Farben der Rauchfahnen!) hier die Nase vorne, aber natürlich nicht so weit wie Barbie – und zwar sowohl in Barbieland als auch im witzig überzeichneten realen Los Angeles.

Bestes Makeup und Haare

Heikle Sache diesmal. Gleich drei Biopics rund um außergewöhnliche jüdische Persönlichkeiten. Da ist man als Maskenbildner*in aufgrund einschlägiger rassistischer Stereotypen gleich mal in Bedrängnis, wenn man gewisse physiologische Gegebenheiten umsetzen will. Ja, wir reden von Nasen. Ganz schlecht im Sinne von PR-Unglück hat es Bradley Cooper in Maestro erwischt, was aber natürlich nicht alleinig schuld an dem enttäuschenden Gesamtwerk ist. Deutlich besser wurde das mit Helen Mirren in der Titelrolle des Biopics Golda rund um die einstige israelische Premierministerin gelöst. Und bei Oppenheimer hat man auf große Eingriffe via Maske komplett verzichtet und sich einzig auf das famose Method Acting von Cillian Murphy verlassen, alles richtig gemacht. Society of the Snow ist meiner Meinung nach in dieser Kategorie ein wenig deplatziert. Hier haben die Maskenbildner*innen einfach nur ihre Arbeit gemacht, wenig davon ist ausdrücklich erwähnenswert. Umso mehr aber die vielseitigen Ideen in Poor Things. Allein die Tatsache, dass man dem ohnehin schon wie gemacht wirkenden Antlitz von Willem Dafoe noch einen Zacken mehr Irrsinn aufsetzt, ist schon eine Leistung.

Bester Schnitt

Cutter*innen sind die wahrscheinlich wichtigsten Mitarbeiter*innen großer Regisseur*innen, denn sie bestimmen Flow und Rhythmus eines Films, manchmal sogar die gesamte Dramaturgie. Und letztlich entscheidet die Arbeit am Schnittpult darüber, ob sich 90 Minuten wie eine Ewigkeit anfühlen oder drei Stunden wie nichts verfliegen. Zum Beispiel bei Anatomy of a Fall, wo nicht nur clevere Dialoge, sondern vor allem ein raffinierter Schnitt aus Tatort-Material ein Oscar-Drama machen. Oder Poor Things, der die hauptsächlich lineare Erzählweise an exakt den richtigen Augenblicken mit ergänzenden Brüchen perfektioniert. Wo wäre The Holdovers ohne perfektes Gagtiming und gekonnt gesetzten erzählerischen Pausen? Killers of the Flower Moon mit seiner Abwechslung aus epischen Longshots, dramatischer Action und vor allem den Scorsese-typischen Montagen? Alles wirklich erste Sahne. Aber am Ende holt Oppenheimer mit Cutterin Jennifer Lane unter Anleitung von Nonlinear-Obermeister Christopher Nolan das Goldmännchen. Wie schon gesagt: Drei Stunden rund um Persönlichkeiten und Schöpfung eines der bahnbrechendsten Ereignisse der Menschheit in drei Stunden so zu verdichten, dass man fast aufs Atmen vergisst, das ist schon bemerkenswert.

Filmstill „Anatomy of a Fall“
„Anatomy of a Fall“ von Justine Triet © 2023 NEON

Es gibt sie noch, die frischen Ideen. Trotz aller berechtigten Unkenrufe rund um die Marvelisierung der Kinowelt, schier endlose Reigen an Sequels und Prequels und die fast immer hochnotpeinlichen Remakes sitzt jetzt gerade jemand an den Tasten und kreiert ein neues, originelles und unterhaltsames Drehbuch.

Bester Ton

Auch 2024 weine ich immer noch verständnislos der Abschaffung bzw. Integration von Tonschnitt nach. Gerade jetzt wären die so unterschiedlichen Merkmale eine eigene Erläuterung wert. Aber was solls. Wuchtiger Sound dominiert wie so oft diese Kategorie, sei es zünftiger Kawumm wie in Mission: Impossible – Dead Reckoning Part One oder moderne Sci-Fi-Soundkulisse wie in The Creator. Auch Maestro kann in den Konzertsequenzen mit gekonnter Dynamik punkten, wahrscheinlich noch das Beste am Film. Die Entscheidung um den Preis für den besten Ton wird aber sauknapp zwischen zwei Konzepten ausfallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Oppenheimer mit den Nolan-typischen Soundkaskaden und der oft ohrenbetäubenden Mischung aus Dialog und Ambience, und The Zone of Interest mit der Mischung aus bewusst belanglosen Unterhaltungen und dem nur im Hintergrund wahrnehmbaren Grauen hinter der Mauer. Nie wurde Sound so subtil und gleichzeitig so wirksam eingesetzt. Ich setze zwar konservativ auf Oppenheimer, aber ein Sieg für The Zone of Interest würde mich wenig überraschen.

Beste Filmmusik

Wer bin ich, ein unwürdiger Wurm, um Kritik am einzigartigen, großen John Williams zu üben? Ich krümme mich im Staub wie eine Made, wenn ich‘s schreibe, aber es muss raus: Die 48. Nominierung (ACHTUNDVIERZIG) für die beste Filmmusik ist leider die schwächste in dieser Kategorie – und das ausgerechnet für einen Indiana Jones-Streifen mit Harrison Ford. Der ist aber ein ziemlicher Topfen, das nur nebenbei bemerkt. Jedenfalls sind die Nominierungen für American Fiction, Poor Things und speziell auch Robbie Robertsons Killers of the Flower Moon deutlich spannender als die Kompositionen des Altmeisters. Wahre Größe, und das nicht nur in Dezibel, sondern auch punkto Effektivität, zeigt sich aber in der Musikbegleitung von Oppenheimer, erneut je nach Gusto brachial oder harmonisch umgesetzt von Spezl Ludwig Göransson. Jeder Generation ihren Ludwig!

Bester Song

Das muss man sich mal verinnerlichen: Die erst 22-jährige Billie Eilish wird aller Wahrscheinlichkeit bei der 96. Oscar-Verleihung das erreichen, was Kapazunder wie Elton John, Burt Bacharach oder Henry Mancini erst in weit fortgeschrittenerem Alter geschafft haben: Zwei Auszeichnungen für den besten Song. Nach dem verdienten Sieg vor zwei Jahren mit dem Bond-Titelsong, also mit dem Hit aus Barbie, eine weitere Talentprobe von ihr und Bruder Finneas. Vor allem mit hochkarätigen Mitbewerbern à la John Batiste und seine Film American Symphony, dem anderen Barbie-Song „I’m Just Ken“ von Mark Ronson ist das nochmal höher zu bewerten. Die Titelsongs von Killers of the Flower Moon und Flamin´ Hot sind zwar auch hitverdächtig, aber eben nicht so unter die Haut gehend wie die unvergleichliche Stimme der jungen Amerikanerin.

Das wären also mal alle Nominierten und die von yours truly projektierten Gewinner*innen. Mein Haus versetzen würde ich in so mancher Kategorie dennoch nicht, die Oscars waren noch jedes Jahr für eine oder zwei Überraschungen gut. Als fix darf aber gelten, dass Oppenheimer mit vermutlich acht Siegen aus 13 Nominierungen – darunter bester Film – der große Sieger des Abends wird. Auch Barbie wird mit vermutlich drei Goldmännern keinen Grund zur Klage haben. Killers of the Flower Moon hingegen wird mit „nur“ einem Preis von zehn nominierten Kategorien als großer Verlierer des Abends dastehen, ebenso unglücklich unverdient wie Poor Things mit einer Statue von 11 möglichen. Der Rest wird sich mehr oder weniger fair verteilen. Als große Gewinner*innen dürfen sich dafür Anatomy of a Fall und The Zone of Interest feiern. Zu verdanken haben sie hier vor allem einiges der großen Sandra Hüller – von ihr werden wir hoffentlich noch viel in ebenso spannenden Produktionen sehen.

Zu guter Letzt gibt es da auch noch die Filme aus 2023, die es in der einen oder anderen Kategorie trotz würdiger Leistungen leider nicht unter die Nominierten geschafft haben. Dazu zählen ohne weitere Erläuterung oder Reihung John Wick: Chapter 4, Inside, Dogman, Beau is Afraid und Creed III. Nicht viele, aber das ist wie gesagt auch dem langen, lähmenden Streik zuzuschreiben. Nach den Oscars ist vor den Oscars – ich freue mich jedenfalls schon auf die Ausgabe 2025, wenn heurige Highlights wie Dune: Part Two, Back to Black, Furiosa: A Mad Max Saga, Ballerina, Inside Out 2, Deadpool & Wolverine, Alien: Romulus, Joker: Folie à Deux oder Nosferatu in den Ring steigen.

Unsere Vorhersage auf einen Blick

Kategorie
Film/Name
Film
Oppenheimer
Regie
Christopher Nolan
Hauptdarsteller
Cillian Murphy
Hauptdarstellerin
Lily Gladstone
Nebendarsteller
Robert Downey Jr.
Nebendarstellerin
Da’Vine Joy Randolph
Originaldrehbuch
Anatomy of a Fall
Adaptiertes Drehbuch
American Fiction
Internationaler Film
The Zone of Interest
Animationsfilm
Spider-Man: Across the Spider-Verse
Dokumentarfilm
20 Days in Mariupol
Kamera
Oppenheimer
Visuelle Effekte
The Creator
Kostümdesign
Barbie
Szenenbild
Barbie
Makeup und Haare
Poor Things
Schnitt
Oppenheimer
Ton
Oppenheimer
Musik
Oppenheimer
Song
What Was I Made For? – Billie Eilish (Barbie)

Die 96. Oscar-Verleihung wird in der Nacht von 10. auf 11. März 2024 ab 23:25 Uhr live auf ORF 1, ProSieben und Joyn übertragen.

Oscars

Stefan Csáky / Grainy Day – Der Charme der Langsamkeit

Vorweg ein Hinweis in eigener Sache: Der Csáky und ich, wir kennen (und mögen) einander schon länger. Woher und seit wann genau, wissen wir nicht mehr. Das Wiener Nachtlokal Shelter, das es leider nicht mehr gibt, war eine gemeinsame Heimat, ebenso die Arena, das U4 und das Flex. Überhaupt, der Rock ’n’ Roll, die dunkle Luft, das Oage generell. Zur folgenden Geschichte kam es, weil Stefan für uns Jan Hoša und seine „Do Something Great Society“ fotografiert hat. Er hatte eine seiner alten, schweren Analogkameras mit und nebenbei erwähnt: „Mir taugt’s auch wieder sehr, von diesem Null und Eins der digitalen Welt wegzugehen und zu den Wurzeln des Handwerks zurückzukehren.“ Wir haben darüber nachgedacht, wie eine Geschichte über ihn und seine wieder erwachte Leidenschaft für analoge Fotografie ausschauen könnte, und er hat gesagt: „Komm‘ ins Studio, ich fotografier dich und dabei erzähl ich dir, worum es geht …“

Klack!

Der satte, mechanische Verschluss der Blende steht am Ende einer unveränderlichen Abfolge notwendiger Handgriffe, die exakt eine Minute und 40 Sekunden gedauert hat. Und es ist der krönende Abschluss eines Prozesses, der zuvor eine gute halbe Stunde in Anspruch genommen hat (und noch mehr, wenn man Stefan Csákys Vorbereitung im heimischen Dunkelzelt einberechnet, wo er einzelne Filmblätter – je zwei Stück pro Magazin – händisch in eine Halterung einschieben musste). „Analoge Fotografie entschleunigt“, sagt der 52-jährige Wiener. „Sie fordert aber nicht nur meine vollständige Achtsamkeit, sie verlangt auch von den Menschen vor der Kamera einen klaren Fokus auf den Moment. Wir müssen uns miteinander beschäftigen, um gemeinsam zu einem schönen Ergebnis zu kommen.“

Selbstportrait Stefan Csáky
Stefan Csáky © Stefan Csáky

Eine Art Revolution

Stefan Csáky ist Fotograf aus Leidenschaft. Natürlich, sagt er, arbeitet er auch mit modernstem Digital-Equipment; in vielen Bereichen bringt es durchaus große Vorteile mit sich. Aber seine Liebe gilt eben der analogen Fotografie – und das nicht nur aus Sentimentalität. „So habe ich das Fotografieren erlernt. So habe ich das Handwerk schätzen gelernt. Ich mag das Haptische!“ Und er mag die Philosophie, die überraschenderweise dahintersteckt. „Analoge Fotografie ist eine Form der Revolution gegen unser modernes Gesellschaftsmodell. Heute muss in allen Lebensbereichen immer alles schneller funktionieren. Alles muss sofort fertig und immer und überall verfügbar sein. Und gleichzeitig ist nichts mehr richtig fassbar. Analoge Fotografie ist langsam und aufwendig. Sie ist ein Gegenentwurf zum permanenten Druck. Sie ist ein Aufbegehren gegen die Digitalisierung unseres Lebens.“

Aura der Wertigkeit

Für unser Porträt (eine Hommage an den Sänger Paul Westerberg) schleppt Stefan Csáky seine gut 70 Jahre alte Linhof Technika V ins Studio, in den Keller des Photo Clusters in Wien 7. Seine „Big Mamacita“, wie er die Kamera liebevoll nennt, ist eine massive, robuste Großformatkamera. Sie ist so schwer, dass sie zum Fotografieren auf einem Stativ befestigt werden muss. Kein Plastik, keine Elektronik, keine Sensoren, kein moderner Schnickschack. Natürlich kein Autofokus. Um scharfzustellen, schlüpft er unter ein schwarzes Tuch und begutachtet sein Motiv, das auf der rückseitigen Mattscheibe der Kamera nicht nur auf dem Kopf steht, sondern auch noch spiegelverkehrt dargestellt wird – durch eine Lupe. „Eigentlich“, sagt Stefan Csáky, „sind diese Dinge unglaublich simpel aufgebaut. Vorne wird eine Optik aufgesteckt, hinten kommt der Film hinein. Fertig.“

Und doch umgibt diesen Apparat (ebenso wie eine ähnlich alte japanische Mamiya, die er zur Sicherheit ebenfalls mitgebracht) eine ganz besondere Aura. Eine Aura, die weit über das verklärte Sehnen nach einer besseren Zeit hinausgeht. „Du spürst die Wertigkeit eines Objekts, bei dem vor vielen Jahren jedes Teil mit Liebe zum Detail und höchsten Qualitätsansprüchen hergestellt wurde. Diese Kamera geht einfach nicht kaputt. Und wenn doch etwas passieren sollte, kannst du auch heute noch Einzelteile reparieren oder austauschen lassen.“

Redakteur Hannes Kropik steht Modell für Stefan Csáky
Redakteur Hannes Kropik steht Modell für Stefan Csáky © Dino Rekanović/Photo Cluster
Foto Hannes Kropik © Stefan Csáky
Hannes Kropik © Stefan Csáky

Von der Vision zur Realität

Stefan Csáky verdient sein Geld seit knapp 30 Jahren als Fotograf. Begonnen hat der begeisterte Extremsportler als einer der ersten Snowboard-Fotografen, später zählte er zu den führenden Mode- und Werbefotografen des Landes. „Wobei ich sagen muss, dass mich die Mode selbst nie interessiert hat. Mir war vollkommen egal, ob die Models Gewand von Louis Vuitton oder H&M anhatten. Ich hätte es wahrscheinlich nicht einmal unterscheiden können. Mir ist es immer nur ums Fotografieren selbst gegangen. Und darum, miteinander meine Vision von einem guten, interessanten Foto Realität werden zu lassen.“

Dabei hat Stefan Csáky keine formale Ausbildung genossen. Auf der Graphischen, der Höheren Graphischen Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt, hat er nach der Matura die Aufnahmeprüfung versemmelt. „Das Jahr in Friedl Kubelkas Schule für künstlerische Fotografie war sehr spannend. Aber da ging es in erster Linie um konzeptionelle Kunstfotografie, und ich wollte doch eigentlich nur Porträts fotografieren …“

Aus Liebe zum Makel

Ursprünglich wollte Stefan Csáky seinem Großvater nacheifern und Arzt werden, doch das Medizinstudium war Anfang der 1990er-Jahre vollkommen überlaufen. „Ich habe es drei Semester lang versucht, aber diese komplett überfüllten Hörsäle waren nicht meine Welt, das Fotografieren hingegen schon. Meine erste richtige Kamera war eine Pentax Super A, die mir mein Vater geschenkt hat.“

Zum Learning by Doing gehörten für den fotografischen Autodidakten viele, viele Stunden in der Dunkelkammer. „Ich habe es geliebt, meine verkaterten Sonntagnachmittage damit zu verbringen, Negative zu entwickeln und Fotos zu vergrößern. Mich hat dieser gesamte Prozess fasziniert – und das tut er immer noch!“

Was ihn außerdem begeistert, ist das Unperfekte in der analogen Fotografie. „Diese Filme haben von Haus aus eine Körnung, die wir bei digitalen Fotos als Makel wahrnehmen würden. Und sie können nicht so viele Nuancen bei Licht und Schatten abbilden wie es Digitalkameras können. Aber gerade dieser klassische ‚cineastische‘ Stil hat aus meiner Sicht viel mehr Charme als die glatte und deshalb zu einem gewissen Grad seelenlose Digitalfotografie. Analog entspricht unseren Sehgewohnheiten. Analog schmeichelt unseren Augen.“

Foto Monki Diamond - Tattoo Artist
Tattookünstlerin Monki Diamond © Stefan Csáky

Bei der analogen Fotografie musst du dich von Anfang an konzentrieren. Du kannst Fehler – etwa bei der Belichtung – nachträglich viel schwerer korrigieren. Du kannst dich nicht durchschummeln. Und das gefällt mir.

Tattoo Artist Steve Littlefingers
Tattookünstler Steve Littlefingers © Stefan Csáky

Ein Blick hinter die Augen

Einen wesentlichen Unterschied zwischen analoger und digitaler Fotografie können wir an dieser Stelle mit einem plumpen „Klasse statt Masse“ zusammenfassen. „Digital schießt du wahnsinnig schnell dutzende, vielleicht hunderte Bilder hintereinander. Und du weißt, da werden schon ein paar sehr gute dabei sei – und notfalls kannst du sie am Computer immer noch nachbearbeiten und durch irgendwelche Filter jagen. Bei der analogen Fotografie musst du dich von Anfang an konzentrieren. Du kannst Fehler – etwa bei der Belichtung – nachträglich viel schwerer korrigieren. Du kannst dich nicht durchschummeln. Und das gefällt mir.“

Analoge Fotografie verlangt aber auch vom Menschen vor der Kamera eine intensive Beschäftigung mit sich selbst. „Du musst wissen, wie du dich präsentieren willst. Denn wir machen eben nur ein oder zwei Fotos. Vielleicht zehn. Auf jeden Fall hilft es uns beiden, wenn wir uns vorher darüber unterhalten, wie das gewünschte Bild aussehen soll. Das macht die Zusammenarbeit zwischen Fotograf und Model viel persönlicher.“

Stefan Csáky versteht sich selbst nicht als Künstler. „Ich habe immer sehr viel Respekt vor der Kunst gehabt, und sehe mich lieber als kreativen Handwerker.“ Mit seinen Bildern will er vor allem den wahren Charakter der Menschen vor seiner Kamera herausarbeiten. „Ich will nicht großspurig vom ‚Spiegel der Seele‘ sprechen, das wäre mir zu esoterisch. Aber durch ein gelungenes Foto, ein gutes Porträt, kannst du ein wenig hinter die Augen einer Person schauen und als Betrachter eine Ahnung von diesem Menschen bekommen.“

Analogfoto Heinz Fischer
Alt-Bundespräsident Heinz Fischer © Stefan Csáky

Kreative Subkultur

Kommerziell wird die analoge Fotografie neben der günstigeren, schnelleren Digitalfotografie in Zukunft nie mehr als eine Nische für Liebhaber sein. „Aber es entsteht gerade eine kreative Subkultur, von der es nicht mehr viele gibt. Es fasziniert mich auch zu sehen, wie viele junge Leute, wie viele Influencer und Content Creators gerade wieder mit analogen Kameras durch die Stadt laufen. Sie haben erkannt, dass sie einen klassischen Look erzeugen können, ohne irgendwelche digitalen Filter zu verwenden.“

„Letztendlich“, sagt Stefan Csáky, „geht es ja gar nicht darum, einer längst verlorenen Zeit und Kultur hinterher zu jammern. Aber wir können uns unserer Tradition bewusst sein und uns auf unsere handwerklichen Fähigkeiten besinnen. Ich denke oft an das Sprichwort, wonach man nicht der Asche huldigen, sondern die Flamme weitertragen soll.“ Für die analoge Fotografie ist Stefan Csáky Feuer und Flamme.

Foto Friedensnobelpreisträgerin Jody Williams
Friedensnobelpreisträgerin Jody Williams © Stefan Csáky

Stefan Csáky verpasste als Windsurfer mit einer Geschwindigkeit von exakt 50,0 Knoten, umgerechnet 92,6 km/h, bei der Lüderitz Speed Challenge 2018 in Namibia den österreichischen Rekord nur um 0,2 km/h. Wenn der Katzenfreund nicht mit irgendwelchen Sportgeräten draußen am Wasser herumtobt, arbeitet er als Fotograf mit Homebase in Wien.

Grainy Day – Stefan Csáky

Barbie, heul leise! Kommentar

Snub. Eines der häufigsten Wörter der letzten Jahre in der Medienbranche. „An act of rebuffing or ignoring someone or something“, weiß das Oxford Dictionary, also die Zurückweisung oder das Ignorieren von etwas oder jemandem. Eine gar nicht so feine reziproke Spielart des ständigen Offended-Seins, das in praktisch allen Bereichen des Lebens um sich greift. Da, wo passende Gefühle als Moralkompass einfacher zu handhaben sind als unangenehme Fakten. Wenn einem also eine Jury-Entscheidung nicht recht ist, wird eben jener Jury ein bösartiger Snub unterstellt. Zum wohl aktuellsten Beispiel zählen die Nicht-Oscar-Nominierungen von Margot Robbie als Leading Actress und Drehbuchautorin und Regisseurin Greta Gerwig als Best Director, beide für den Film Barbie, was die aufgeregte, systematische Misogynie witternde Interneteria dabei noch mehr zur Rage treibt. Ausgerechnet für die Rolle des Ken, der im Film toxisches Patriarchat etablieren will, wurde Ryan Gosling als Best Supporting Actor nominiert – ganz klar aus Sicht der Couchposter, TikToker und sonstigen Filmexperten. Die alten, weißen Männer haben es sich in Hollywood wieder mal gerichtet und vergönnen Frauen rein gar nichts. Was für ein Unfug!

Zahlen lügen nicht – oder doch?

Das oft angeführte Argument, acht Oscar-Nominierungen für den finanziell erfolgreichsten Film des Jahres stehen in keinem Verhältnis zu dem für 13 Nominierungen dritteinträglichsten Film des Jahres Oppenheimer ist völliger Quatsch. Wenn dem so wäre, müsste sich der zweiterfolgreichste Film des Jahres ja bei gefühlten zehn Listenplätzen einpendeln. Jedoch: The Super Mario Bros. Movie ist für gar keinen Oscar nominiert. Man sieht also schon, wie schnell solche Debatten peinlich werden können, wenn man Wunsch und Wirklichkeit vermengt. Die übrigens an Nominierungen fast gleichauf liegenden Filme Killers of the Flower Moon (10) und Poor Things (11) lassen die Diskrepanz zwischen Award-Tauglichkeit und Einspielergebnis noch weiter aufklaffen. Mit Platz 46 respektive 83 im weltweiten Boxoffice-Ranking liegen die beiden nämlich weit hinter – bei Filmpreisen chancenlosen – Cringe-Festivals wie Fast X (Platz 5) oder Meg 2: The Trench (Platz 19).

Sinnerfassendes Lesen

Abgesehen von den schnöden Zahlen sorgen aber vor allem die in der allgemeinen Empörung gerne unter den Teppich gekehrten positiven Faktoren für eine verzerrte Wahrnehmung. Fakt: „Barbie“ ist als einer von zehn Filmen unter hunderten in die letzte Auswahl als „Best Picture“ gekommen, quasi der Grand Prix des Abends. Per Definition also der Film, der der Academy subjektiv am besten gefallen hat. Dieser Preis wird an die Produzent*innen verliehen. Und siehe da: In diesem Quartett finden sich nicht nur zwei männliche Filmschaffende, sondern auch Robbie Brenner, die weibliche Präsidentin von Mattel Films sowie die angeblich so – jetzt kommt’s – gesnubbte Margot Robbie. Auch die teilweise beklagte Nominierung von Greta Gerwig in der gegenüber bestes Originaldrehbuch vermeintlich geringeren Kategorie bestes adaptiertes Drehbuch ist unnötige (und sachlich falsche) Kritik, denn es handelt sich um eine Form des Drehbuchs, bei dem das Skript auf einer zuvor veröffentlichten Publikation beruht. Nun, Barbie-Puppen und ihr zugehöriger Lore sind seit 1959 etabliert, vom Originalstoff sind wir da trotz der durchwegs genialen Interpretation weit entfernt.

Es kann nur eine(n) geben

Bleiben also nur noch die höchst strittigen Kategorien, wo es um große Emotionen, schwer quantifizierbare Handwerkskunst, Publikumsreaktionen und vor allem um eine unschätzbare Steigerung des Marktwertes von Personen in Tinseltown geht. Oscars für bestes Schauspiel oder die beste Regie. Und hier gilt, mehr als in allen anderen Disziplinen, das alte Sprichwort: „Das Glück is a Vogerl.“ Jedem ist die Jahre und fünf Nominierungen dauernde Durststrecke von Leo DiCaprio bis zum begehrten Gewinn des Goldmännchens als bester Mime ein Begriff. Pipifax freilich gegen den großen Peter O’Toole oder auch Glenn Close, die mit je acht Nominierungen und null Siegen ein ganz anderes Lied sangen. Kein Grund zum Jammern also für die erst 33-jährige Margot Robbie. Sie konnte bisher dank ihres Talents sowieso schon zwei Nominierungen einheimsen, allerdings für weit forderndere Rollen. Denn sind wir uns ehrlich: Mit ihrem von Natur aus bezaubernden Aussehen musste sie weit weniger Aufwand in die Rolle der stereotypischen Barbie investieren als die fünf dieses Jahr tatsächlich nominierten Schauspielerinnen. Kurz und gut: Die waren handwerklich einfach einen Ticken mutiger und besser. Was übrigens auch auf den eingangs erwähnten Ryan Gosling in der Rolle des Ken zutrifft. Als üblicherweise waschbrettbäuchiger Beau und wahlweise harter oder zarter Leading Man nuanciert in die Rolle eines ziemlich einfach gestrickten Sidekicks zu schlüpfen, ist schon großes Kino. Und eine kleine, feine Notiz am Rande: Die oft wegen des offenen Jugendwahns in Hollywood bemängelte Praxis, Schauspielerinnen jenseits der Vierzig auf Abstellgleis zu schieben, wird im zwei Mal nominierten Nyad Lügen gestraft. Annette Bening (65) und Jodie Foster (61) geben sich hier in Schwimmkleidung ein völlig natürliches Stelldichein und spielen als nominierte Haupt- bzw. Nebendarstellerin so manches junge Pupperl an die Wand. Just saying.

Filmstill aus "Barbie" mit Ryan Gosling als Ken
© 2023 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. / Jaap Buitendijk

Das oft angeführte Argument, acht Oscar-Nominierungen für den finanziell erfolgreichsten Film des Jahres stehen in keinem Verhältnis zu dem für 13 Nominierungen dritteinträglichsten Film des Jahres ‚Oppenheimer‘ ist völliger Quatsch.

Ein Funken Wahrheit

Letztlich muss aber auch ich alter, weißer Mann dem „Snub! Snub!“ Gemotze in einer Sache recht geben. Denn Greta Gerwig nicht als Best Director zu nominieren, den guten, alten Scorsese Martin für sein Epos „Killers of the Flower Moon“ aber schon, ist völlig unbegreiflich. Denn so wichtig und richtig dieser Film rund um die abscheuliche Ausbeutung der Ureinwohner der USA in der Pionierzeit auch ist, es ist gänzlich uninspiriertes More-Of-The-Same des Altmeisters. Klar holt er wie immer aus Leo das Maximum heraus, dirigiert die bis dahin kaum bekannte Lily Gladstone vom Stamm der Blackfeet zum wahrscheinlich ersten Oscar für eine indigene Schauspielerin (mark my words!) und setzt natürlich auch seinen zugkräftigen alten Spezl Robert de Niro vor die Kamera. Aber das alles zu routiniert, zu sehr – wenn auch handwerklich einwandfrei – Malen nach Zahlen. Im Gegensatz zur sensationell erfrischenden Art, in der Gerwig ihre rosarote Vision umsetzt und dabei nicht nur Ryan Gosling, sondern auch America Ferrera zu höchst mitreißenden Performances motiviert. Eine Entscheidung, die gänzlich unverständlich ist und auch mich dann, trotz der abzusehenden Übermacht von „Oppenheimer“ in der Oscarnacht ein wenig für „Barbie“ leise weinen lässt.

„Barbie“, der erfolgreichste Kinofilm des Jahres 2023, hat acht Oscar-Nominierungen erhalten, darunter u.a. als Bester Film. Die Tatsache, dass ausgerechnet Schauspieler Ryan Gosling für seine Rolle als Ken nominiert wurde, Schauspielerin Margot Robbie als Barbie jedoch nicht, sorgt für Diskussionsstoff. Warum Greta Gerwig nicht für die Beste Regie nominiert wurde, wird außerdem heiß besprochen.

Barbie

Oscars

Ina Regen „Ich will Menschen glücklich machen“ 2024

Was ma heut net träumen“ ist eine Textzeile aus einem gleichnamigen Song, den Ina Regen 2021 erstmals veröffentlicht hatte. Warum es gleichzeitig der perfekte Titel für ihr neues Orchesteralbum ist, erklärt sich daraus, wie dieser Gedanke weitergeht. „Was ma heut net träumen“, singt die Dialektinterpretin nämlich, „des wird morgen net wahr.“ Und tatsächlich waren die Aufnahmen mit einem Orchester ein langgehegter Traum, verrät Ina Regen bei Kaffee und Kuchen im Büro ihres Managers. „Das stand auf meiner Bucketlist utopischer Ideen ziemlich hoch oben …“

Raus aus Conchitas Schatten

Die 39-jährige Oberösterreicherin hat einen etwas ungewöhnlichen Karriereweg gewählt. Schon unter ihrem bürgerlichen Namen Regina Mallinger führte die frühere Klosterschülerin ein erfolgreiches Künstlerleben, das auf einer soliden Ausbildung fußte. Nach ihrem Studium des Jazz- und Populargesangs, das sie mit Auszeichnung an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz absolviert hatte, nahm sie Unterricht in Pop- und Musicalstimmbildung sowie als Schauspielerin. Sie war Mitglied und Komponistin der Band Beatcollective und unterstützte als Background-Sängerin namhafte Kolleginnen und Kollegen wie Songcontest-Siegerin Conchita Wurst und Austropop-Urgestein Marianne Mendt.

Unter ihrem Künstlernamen – einer Abwandlung ihres Vornamens – hat sie erst mit der Veröffentlichung ihrer ersten Solo-Single „Wie a Kind“ 2017 gezielt den Weg ins Rampenlicht gesucht. „Das war für mich eine Zäsur, ein neuer Anfang“, erinnert sie sich heute an eine turbulente Zeit, die 2019 mit dem Amadeus-Award für das Album des Jahres gekrönt wurde. „Ich habe früh gewusst, dass ich auf die Bühne will. Ich bin aber auch zu großer Bescheidenheit erzogen worden. Diese Bescheidenheit wiederum ist meinem feurigen Charakter ein bisschen entgegengestanden. Ich musste meine wahre Künstlerpersönlichkeit erst aus mir herausschälen.“

Ein Kindheitstraum erfüllt sich

„Was ma heut net träumen“ (Veröffentlichungstermin: 16. Februar 2024) ist ein künstlerisch komplett überarbeitetes „Best of“ ihrer ersten drei Alben „Klee“ (2018), „røt“ (2021) und „Fast wie Radlfahren“ (2023). „Es gibt aber zusätzlich drei neue Nummern, die speziell fürs Orchester komponiert und geschrieben wurden“, erzählt Ina Regen.

Zur Zusammenarbeit mit dem niederösterreichischen Tonkünstler-Orchester kam es nach einem gemeinsamen Auftritt bei einem Charity-Event für die Organisation Cape 10 im Sommer des Vorjahres. „Sie waren von diesem gemeinsamen Abend so begeistert, dass sie mich spontan zur Zusammenarbeit im Studio eingeladen haben.“

Für Ina ist damit nicht weniger als ein Kindheitstraum wahr geworden. „Meine früheste musikalische Prägung war das Musical ‚Elisabeth‘, das ich auf einer Kassette meiner Schwester immer und immer wieder gehört habe. Was mich daran so fasziniert hat, war nicht nur der Gesang und die Geschichte, die erzählt wird, sondern auch das orchestrale Klanggewand, das trotzdem noch so spielerisch mit der Popmusik kokettiert. Dass ich jetzt selbst in diese Klangwelt eintauchen darf, gibt mir das Gefühl, als ob sich hier ein Kreis schließt.“

Grundsätzlich optimistisch

Und so wurde das Orchesteralbum für Ina Regen zum unerwarteten, aber willkommenen Anlass für eine künstlerische Zwischenbilanz. „Vor allem, als ich ‚Wie a Kind‘ neu eingesungen habe, sind so viele Bilder, so viele Erinnerungen in mir hochgekommen. Nicht zuletzt, wie es dann all die, die mir vorhin prophezeit haben, wie schwierig alles wird, es dann eh schon immer gewusst haben …“

Noch mehr gilt ihr „grundsätzlich optimistischer“ Blick in die Zukunft. „Vielleicht ist dieses Projekt nach drei Studio-Alben wieder eine notwendige künstlerische Zäsur. Auf jeden Fall hat mich die Arbeit mit dem Orchester sehr neugierig gemacht, was als Nächstes kommen könnte. Ich fühle mich befreit und sehr inspiriert. Es eröffnen sich gerade viele neue Räume für neue Ideen.“

Next Stop: Death Metal?

„Aber könnten Sie sich überhaupt vorstellen, in einer anderen Sprache als im vertrauten heimatlichen Dialekt zu singen?“ „Ich bin nicht mehr so dogmatisch wie früher“, sagt Ina nach einer kurzen Nachdenkpause. „Soweit ich rational denken kann, bin ich sicher, dass ich meinen künstlerischen Ausdruck immer im Dialekt finden werde.“

Und dann taucht wieder dieses freche Blitzen in Inas Augen auf, gefolgt von ihrem ansteckenden, mitreißenden Lachen. „Aber ich genieße mein Leben in einem Möglichkeitsraum, in dem ich alles darf. Und deshalb kann ich mir schon vorstellen, dass es mich einmal in Richtung englischsprachiges Death-Metal-Album zieht.“

Portraitfoto Sängerin Ina Regen 2024
© Carina Antl

Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ein Herz sagt: Musik muss gar nichts, sie darf reiner Selbstzweck sein. Doch das andere weiß: Für mich persönlich war die Musik immer ein heilbringender Ort, an dem alles gut ist.

Am Wendepunkt

Künstlerisch emanzipiert hat sich Ina Regen jedenfalls längst. Um ihre Ideen unabhängig und selbstbestimmt ausleben zu können, hat sie ihr eigenes Label – Nannerl – gegründet und darauf 2023 ihr jüngstes Studio-Album „Fast wie Radlfahrn“ veröffentlicht. „Ich habe im Lauf der Jahre immer mehr verstanden, dass meine Kreativität von einer verspielten Impulsivität und einem unbeirrbaren Bauchgefühl genährt wird.“

Dass sie ihr Label nach der älteren Schwester von Wolfgang Amadeus Mozart benannt hat, ist natürlich kein Zufall. Denn Maria Anna Mozart, so ihr voller Name, galt ebenfalls als hochtalentierte Pianistin, wurde aber – anders als ihr Bruder – vom Vater nicht gefördert, sondern in Richtung ehelicher Haushaltsführung gelenkt. „Ich hatte das Glück, in eine andere Zeit als ‚Nannerl‘ hineingeboren worden zu sein. Aber die Relikte dieser alten Gesellschaftsordnung spüren wir heute immer noch.“

Ina Regen, die wohlbehütet in einem katholisch geprägten Elternhaus aufgewachsen ist, weiß ihre Privilegien, wie sie sagt, durchaus zu schätzen. „Wir leben an einem Wendepunkt der Geschichte. Es ist noch nicht so lange her, dass Frauen nicht einmal studieren, geschweige denn wählen durften. Ich bin dankbar, dass ich so eine Art Fackelträgerin sein und den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben darf. Ich bin dankbar, als Musikerin einen Beruf ausüben zu dürfen, in dem ich mich frei entfalten darf.“

Zwei Herzen schlagen

Musik, sagt Ina Regen, hat jedenfalls einen enorm großen Stellenwert in ihrem Leben. „Jede Künstlerin, jeder Künstler macht die Musik, die genau das in die Welt bringt, was sie für sie oder ihn selbst bedeutet. Meine Musik reflektiert, wie ich lebe und was ich erlebe. Und sie zeigt, wie ich die Welt sehe, nämlich mit dem sehnlichen Wunsch, dass jeder Mensch einen Beitrag für unser aller Zukunft leistet.“

Deshalb möchte sie mit ihrer Musik ihre Zuhörerinnen und Zuhörer unterstützen, auch selbst die Kraft zu finden, die Welt ein Stück weit zu verbessern.“ Und doch will Ina Regen der Kunst nicht zu viel Verantwortung aufladen. „Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ein Herz sagt: Musik muss gar nichts, sie darf reiner Selbstzweck sein. Doch das andere weiß: Für mich persönlich war die Musik immer ein heilbringender Ort, an dem alles gut ist.“

Das Schöne weitergeben

Die Musik ist aber nicht nur für sie selbst ein Quell inspirierender Kraft. Sie ist für Ina Regen eine willkommene Möglichkeit, sich für andere Menschen und deren Nöte und Bedürfnisse zu engagieren. Deshalb unterstützt sie immer wieder Benefizaktionen und Einrichtungen wie das oben angesprochen Cape 10. „Ich habe immer das Gefühl, dass ich etwas von dem Schönen, das mir durch die Musik zuteilwird, an andere Menschen weitergeben kann.“

Als erfolgreiche Sängerin, deren ersten beiden Alben in Österreich Platz 1 der Hitparade eroberten, weiß Ina Regen, dass ihr Engagement beachtet wird. „Mir ist bewusst: Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf ein Thema lenke, dann erzeugt das einen Verstärkungseffekt. Im Optimalfall gelingt es mir, auch meine Fans für bestimmte Gedanken und Ideen zu interessieren. Zum Beispiel, wenn ich die Frauenhäuser unterstütze. Viele Menschen können sich ja gar nicht vorstellen, dass häusliche Gewalt leider so oft zum Tagesprogramm gehört.“ Ina Regen will ihre Musik und ihr Talent eben nutzen, um die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln. „Ich will die Menschen einfach glücklich machen.“

Sängerin Ina Regen in Grafenegg Live
© Gerd Schneider

Ina Regen, 1984 unter ihrem bürgerlichen Namen Regina Mallinger geboren, ist in Gallspach, im oberösterreichischen Hausruckviertel aufgewachsen. Sie war Ministrantin und besuchte eine Klosterschule. 2017 veröffentlichte die Dialektsängerin, im Alter von 33 Jahren, ihre erste Solo-Single „Wie a Kind“ unter ihrem neuen Künstlernamen. „Was ma heut net träumen“, ihr neues Album mit dem Tonkünstler-Orchester erscheint auf ihrem eigenen Plattenlabel.

Ina Regen

The Kills – God Games – True Love Never Dies

Gleich eines vorweg: Die Texterin dieser Zeilen ist bekennendes „The Kills“-Fangirl, und das seit 20 Jahren, als Mosshart und Hince ihr Debütalbum „Keep On Your Mean Side“ herausbrachten. Die US-Amerikanerin Alison (auch „VV“ genannt) und der Brite Jamie (alias „Hotel“) sind seit damals der Inbegriff von Coolness im positivsten Sinn. Lässiger Style, geniale Lyrics, Gitarrenmusik vom Feinsten. Und manchmal auch Balladen, die zum Heulen schön sind. Ja, man kann The Kills eigentlich nur lieben.

Portrait The Kills
© Myles Hendrik

Mit der Liebe ist es ja so: Wenn man jemanden oder etwas lange nicht mehr am Radar hat, werden die Gefühle manchmal weniger. Oder aber man sieht und hört jemanden oder etwas nach Langem erneut und landet sofort wieder in der intensiven Gefühlswelt von früher. Und damit wären wir auch schon beim Album „God Games“, denn beim Reinhören der neuen Songs befindet sich das Fangirl im Nu in Gedanken an die wilden Zeiten der Nullerjahre – lange Clubnächte, viele Konzertbesuche, wenig Schlaf, Liebesrausch, Liebeskummer, alles wieder gedanklich da. Ein Gefühl von euphorischer Sentimentalität tut sich auf. Soll heißen: Wer schon damals von The Kills begeistert war, wird auch die 12 aktuellen Tracks rauf und runter hören.

Altbewährtes, neue Zugänge

Teilweise gibt sich das Duo am neuen Album wie gewohnt rockig, im typischen Kills-Sound, in anderen Songs kommen neue Vibes zum Vorschein: „Durch die Pandemie war es möglich, Dinge auszuprobieren, die wir sonst aus Zeitgründen nicht tun würden. Ich wollte aus einer anderen Perspektive schreiben und begann Demos mit Keyboards und Trompetenklängen. Ursprünglich war das als Nebenprojekt geplant, weil ich Musik fern vom typischen The Kills-Sound im Fokus hatte. Aber uns wurde schnell klar, dass es The Kills waren“, so Jamie Hince zur Entstehung des aktuellen Albums.

Portrait The Kills
© Myles Hendrik

Für „God Games“ wurde viel am Klavier komponiert und nicht wie sonst, sofort die Gitarre in die Hand genommen. Der Song „LA Hex“ verdeutlicht diesen neuen Zugang. Inhaltlich geht es um das Leben in Los Angeles, musikalisch hört man verzerrte Trompeten und tanzbare Beats. „Ich habe die Gitarre zunächst nicht aus dem Koffer genommen, sondern mit verrückten Klängen herumgespielt und wusste nicht, wie wir sie integrieren könnten.“ Aber Alison meinte: „Oh mein Gott, das ist unglaublich! Es war ein neuer Weg“, so Jamie. „Als ich hörte, wohin er wollte, gab mir das genügend Selbstvertrauen, um weiter zu schreiben. „LA Hex“ gab den Ton vor“, erinnert sich Alison.

Es ist eine unglaubliche Partnerschaft mit grenzenloser Kreativität. Es ist das Coolste auf der Welt.

„103“ ist ein düsterer Endzeit-Stimmungs-Song mit einem glitzernden Funken Hoffnung. Das Video dafür wurde im eigens dafür eingerichteten 3D-Filmstudio vom Fotografen und Metaversen-Pionier Steven Sebring gedreht.

Und da wären auch noch Nummern wie „New York“ (Eine Liebeserklärung an die Stadt mit genialen Gitarrenriffs und eingängigem Rhythmus), „Love And Tenderness“ (Wie lässig und sexy kann eine Frauenstimme eigentlich sein?!), „My Girls My Girls“ (Wunderschöner Song mit dem „Compton Kidz Club Chor“) und „Wasterpiece“ („Es ist eine Mischung aus dem Gefühl, das ich einer Ex-Freundin gegenüber hatte und dem eines Tagtraums. Man kann es auf verschiedene Arten interpretieren“, verrät Hince).

God Games

Den Albumtitel erklärt Jamie Hince so: „Ich wollte eine Platte mit gottlosen Spirituals schreiben. Im wirklichen Leben bin ich Atheist. Kreativ spiele ich aber viel mit Gott. Ich mag es, den Raum zwischen diesen Gegensätzen einzunehmen“. Für Mosshart ist das neue Album ein Tagebucheintrag über sieben Jahre, eine Leinwand der Zeit. Der gleichnamige Song kommt als melodische Ballade daher, der Text lässt Interpretationsspielraum: „Oh man, you’re here. Played in a God Game. But you’re here. You’re here. Oh man, you’re here. Aged by a mad love. But you’re here.“

Albumcover The Kills God Games
© The Kills

Die perfekte Partnerschaft

Wie Alison Mosshart und Jamie Hince es ausgehalten haben, so lange als Band und vor allem in aller Freundschaft bestehen zu können? „Was diese Band zusammenhält, ist die Liebe und der Glaube an zwei Menschen. Wenn es mir schlecht geht, bringt sie mich oft zum Weinen, wenn sie mir etwas sagt. Es ist über zwanzig Jahre her und ich sage es: Unsere Beziehung ist verdammt großartig“, schwärmt Jamie. „Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mindestens viermal telefonieren. Wir kümmern uns umeinander. Wir drängen uns gegenseitig, besser zu werden. Wir haben Geduld miteinander. Es ist eine unglaubliche Partnerschaft mit grenzenloser Kreativität. Es ist das Coolste auf der Welt“, ergänzt Alison.

Wie schon erwähnt, man kann sie einfach nur lieben und möchte Teil ihrer Bewegung sein.

The Kills wurden 2000 gegründet, zwei Jahre später veröffentlichten Alison und Jamie ihre Debüt-EP „Black Rooster“ und 2003 folgte das erste Album „Keep On Your Mean Side“. Seitdem ist die britisch-amerikanische Rockband fixer Bestandteil der internationalen Musikszene. Nun bringt das Rock ’n’ Roll Duo Alison Mosshart und Jamie Hince nach einer 7-jährigen Pause wieder ein Album heraus. Das sechste Studioalbum „God Games“ erscheint am 27. Oktober 2023.

www.thekills.tv
www.dominomusic.com

Das Glühen im Dunkeln Christian Fuchs

Verschwommenen Erinnerungen nach befand ich mich im Vorschulalter, als meine Eltern mich erstmals in unser steirisches Provinzkino mitgenommen haben. Es lief ein Schneewittchen-Film, einer mit echten Menschen in artifiziellen Landschaften.

Filmprojektor Scheinwerfer
© Alex Litvin Unsplash

Eine ganz große Märchenleidenschaft erfasste mich schon in jüngsten Jahren, vor allem für die Erzählungen der Grimmigen Brüder. Aber weder die Inszenierungen meines Vaters, der manche Charaktere gruselig nachspielte, noch die krächzenden Hörspielplatten mit ihren unheilvollen Sprecher*innen-Stimmen, wappneten mich für das bedrohliche Geschehen auf der Leinwand. Ich habe vermutlich nur Teile dieses Films, der wohl aus den ostdeutschen DEFA-Studios stammte, hinter vorgehaltenen Fingern gesehen. Vielleicht wimmerte ich auch im Kinosessel, von meinen Eltern an den Händen gehalten, als die böse Stiefmutter in Großaufnahme grinste.

Wenn sich das nach Trauma anhört, folgt jetzt gleich eine Entwarnung. Meine Eltern machten mir sehr früh klar, dass Filme nicht echt sind. Die Wirklichkeit, das waren der verhasste Kindergarten, später die prügelnde Volksschullehrerin, die unlösbaren Rechenaufgaben und die mobbenden Mitschüler. Im ländlichen Kinosaal, wo es damals, wir sprechen übrigens von den frühen 70er Jahren, immer leicht muffig gerochen hat, konnte mir nichts und niemand etwas anhaben.

Außer vielleicht der Kinderfänger in „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“, dem ich an einem weiteren legendären Filmnachmittag mit den Eltern begegnete. Über neunzig Minuten lang lullt dieses aufwändige Musical das kleine (und große) Publikum mit Singen, Tanzen und knallbuntem Spaß ein. Dann führt die Story die Protagonist*innen, eine britische Patchwork-Family, in ein Fantasiereich, das wie ein deutsch-österreichisches Disneyland wirkt. Als dort, in den verwinkelten Gassen eines malerischen Fachwerkbauten-Städtchens, plötzlich der Kinderfänger auftaucht, verdunkelt sich die Stimmung in dem Film abrupt.

Der Schock dieses unvermittelten Einbruchs des Grauens in die zuckersüße Idylle paralysierte wohl nicht nur mich. Die Furcht, von der dürren Gestalt im schwarzen Kostüm ebenfalls in den klapprigen Pferdewagen gepackt zu werden, verfolgte mehrere Kindergenerationen. Mir bescherte der Auftritt des Kinderfängers aber zugleich eine ewige Lust an Horrorfilmen. Denn letztlich siegte das Sicherheitsgefühl.

Eine Karriere als Movie-Junkie

Mein erster Kinobesuch, bei dem ich als tapferer Volksschüler dann alleine auf die Leinwand starrte, nachdem mich die Begleitpersonen abgeliefert hatten, nannte sich „King Kong: Frankensteins Sohn“. Es folgte „Frankenstein: Der Schrecken mit dem Affengesicht“. Und „Frankensteins Monster jagen Godzillas Sohn“. Frankenstein tauchte sehr oft im deutschen Verleihtitel japanischer Billigmonster-Spektakel auf, in den Filmen selbst aber nie. Ich sah (mehrfach) den Untergang Tokyos, (Spielzeug-)Panzer im Kampfeinsatz, riesige Urzeit-Kreaturen, die die moderne Zivilisation zerstampften.

Godzilla Figur Tokio Hochhäuser
© Latrach Med Jamil Unsplash

Meinen uneingeweihten Mitschülern (es waren tatsächlich nur Buben damals) erzählte ich am nächsten Tag wilde Storys über Riesenaffen, so groß, dass sie ganz New York in ihrer Pratze hielten. Die Fantasie überschlug sich. Die Freude war riesig. Keine der sonntäglichen Nachmittagsmatineen in den lokalen Ton-Licht-Spielen entging mir mehr.

Und so begann eine Karriere als Movie-Junkie und cinephiler Gänsehaut-Liebhaber. Denn als reales Angsthäschen, gebeutelt vom Turnunterricht-Terror und gestresst von Mathematik-Hausaufgaben, wurde ich bald süchtig nach der Überwältigungskraft des Mediums Film. Gegen die apokalyptische Zerstörung durch Godzilla & Co. schrumpfte der Schrecken, wieder einmal unter den strengen Augen der Lehrerin-Domina nachsitzen zu müssen. Und nicht nur das: Die Kinobesuche erweiterten ungemein den engen Kleinstadt-Blickwinkel, in Technicolor und Cinemascope, plötzlich gab es eine Welt der fremden Kulturen, der wilden Abenteuer und echte Gefahren.

Ich fühlte mich in Japan, mit seinen verrückten Wissenschaftler*innen und Riesenmonstern, heimischer als in Österreich. Ich ritt mit einem französischen Native American namens Winnetou durch kroatische Western-Landschaften. Ich freute mich auf Besuche im nebligen Kulissen-London von Edgar Wallace, aufgebaut in Berliner Hinterhof-Studios. Die Genrefilme, in denen stets das Gute siegte, standen auch für einen moralischen Kompass, der einen durch die verwirrenden Sittenansichten der Dekade navigierte. Ergänzt durch Comic-Superheld*innen, die humanistischen TV-Weisheiten eines Captain Kirk oder den anarchischen Gestus der Prä-Punkrockerin Pippi Langstrumpf, lernte ich auch etwas fürs Leben.

Die Genrefilme, in denen stets das Gute siegte, standen auch für einen moralischen Kompass, der einen durch die verwirrenden Sittenansichten der Dekade navigierte.

Rein in die Jugendverbot-Vorstellung

Nicht immer wurde dabei der kindliche Adrenalinpegel in die Höhe gejagt. Verblödelte Paukerfilme, Naturdokumentation aus dem Hause Disney und tschechische Animationsklassiker lösten sich ab. Wichtig für den zukünftigen Autor dieser Zeilen war aber nur das Drama. Als mein spiritueller Blutsbruder Winnetou für mich unerwartet erschossen wurde, brach die Welt zusammen. Zwei Wochen später saß der Apachenhäuptling aber schon wieder auf seinem treuen Pferd Iltschi. Kino kann das, lernte ich. Es lässt die Helden wieder aufstehen, macht dir Angst und nimmt dir Ängste.

Eine Anekdote muss ich noch loswerden. Ich war zirka zehn Jahre alt, als mich mein Vater auf dringliches Bitten hin in eine Jugendverbot-Vorstellung von „Todesgrüße aus Shanghai“ schmuggelte. Der Ruf der verstorbenen Kung-Fu-Ikone Bruce Lee war zuvor bis in die steirische Provinz gedrungen. Die fast schon übermenschliche Kampfkunst, die ekstatische Verausgabung. All das ließ mein Herz rasend schnell klopfen. Nach diesem Kinobesuch war der Alltag vollends verändert: Voller übergroßer Gefühle und fliegender Körper, exotisch, kosmopolitisch, vibrierend.

Meinem Vater hat es nicht gefallen. Ich durfte danach aber mit anderen erwachsenen Begleitpersonen in das verbotene Reich eindringen. Italowestern, Science-Fiction-Epen, Biker-Movies, Zombie-Reißer, dazwischen Superman, Darth Vader und noch viel mehr Kung-Fu. Als bester Kunde der lokalen Tonlichtspiele gehörte ich bald zum Repertoire.

Das Flackern des Projektors

Tausende Filme folgten, in größeren Städten und bombastischeren Sälen. Im verschneiten Berlin hab ich als Teenager mal Weihnachten in einem Programmkino verbracht, mit dem „Texas Chainsaw Massacre“ und den „Gremlins“ natürlich. Inmitten kiffender Punks entdeckte ich meine Liebe zu Joe Dantes Kobolden und zur Hauptdarstellerin Phoebe Cates. Ich besitze heute Gizmo-Handpuppen und Gremlins-Spielzeug. Ich weine verlässlich, wenn der kleine, süße Mogwai singt, nach dem sich auch eine Band benannt hat. Viele Jahrzehnte später durfte ich Joe Dante treffen, den Gremlins-Schöpfer. Ein Kreis hat sich geschlossen.

Mir fallen etwas verstörende Kinobesuche mit meinem Vater ein, abseits vom Kung-Fu-Kino. „Die Blechtrommeln“, „Trio Infernal“, „The Man Who Fell to Earth”, die Stories verstand ich nicht immer, aber unvergessliche Bilder umso mehr. „Apocalypse Now“, den ich als Teenager mit meinem älteren Bruder zusammen sah, ließ mich wochenlang nicht los.

Ambitionierte Arthouse-Werke lösten in meiner Jugend zwischendurch den schönen Schund der jungen Jahre ab. Grenzen zwischen Kunst und Kommerz, Kompromisslosigkeit und Kitsch gab es aber nie in meiner filmischen Wahrnehmung. Unschuldiger Feel-Good-Eskapismus ist zwischendurch herrlich, aber Abgründe bleiben höchst anziehend, vor allem auch wenn sie romantischer Natur sind.

Denn das ist die vielleicht essentiellste Prägung, die meine ersten kindlichen Kinoerfahrungen hinterlassen haben: Verstörung und Betörung liegen oft ganz nah beieinander. Letztlich spendet das Flackern des Projektors, das Flimmern auf der Leinwand, das Glühen im Dunklen, Trost, und gibt Hoffnung.

Ein guter Film, gerade wenn er dich ernsthaft aufwühlt, steht für pures Glück.

Meese Volkstheater Wien

Das 1970 in Tokio geborene, deutsche Multi-Talent Jonathan Meese hat ein breites, künstlerisches Repertoire. Von Installationen, Skulpturen und Collagen über Zeichnungen, Videokunst und Performances bis hin zu Gemälden – Meese nutzt viele Wege und Plattformen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Kunst an die Macht

Bei seinem immer wieder kehrenden Ruf nach der „Diktatur der Kunst“ steht nicht der kreative Mensch im Mittelpunkt, sondern die Kunst selbst – diese soll ausbrechen und an die Macht. „Es geht um die liebevollste Herrschaft einer Sache, wie Liebe, Demut und Respekt, zusammengefasst und gipfelnd in der Herrschaft der Kunst. In der Allmacht der Kunst geht es nicht um das Machtgehabe des Künstlermenschen oder um die Machtfantasien von Selbstverwirklichern und Realitätsfanatisten, sondern um die antinostalgische, alternativlose Macht der Kunst. Kunst stellt die Machtfrage, nicht der Künstler oder die Künstlerin. Jonathan Meese ist die Ameise der Kunst und ruft nur das aus, was alternativlos ohnehin passieren wird“, so Meese in einem Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger.

Jonathan und Brigitte Meese sitzen an einem Tisch
© Jana Edisonga

Das Mutterzsöhnchen

Immer an der Seite von Jonathan Meese ist seine Mutter Brigitte. Die 93-Jährige ist Teil seiner Kunstprojekte und bringt Ordnung in sein Chaos.

Am 2. November können wir alle Zeug*innen dieser Mutter-Sohn-Beziehung werden. Denn die beiden sprechen einmalig im Volkstheater über ihr Leben und die großen Fragen der Menschheit. „Es werden alle offenen Fragen zu Themen wie Mutterschaft, Biografie, Kunstbetrieb, Wagner, Reiselust, Reichtum, Armut, Lieblingsgerichte, Unterschiede zwischen japanischer und hanseatischer Kultur, Ordnungsliebe, Diktatur, Demokratie, Erziehung, Sils Maria, Nietzsche, Schiffsreisen, Flugreisen, Bahnfahrten, Immobilien, Theater, Literatur, Ost und West, Nord und Süd und viele weiteren Punkten zu Sprache kommen“, heißt es in der Ankündigung zum Talk „Mutterzsöhnchen im Kunstglück“.

Illustration für das Volkstheater von Jonathan Meese
© Jonathan Meese

Einmal Mond und zurück

Ein weiterer Wegbegleiter von Jonathan Meese ist Filmemacher und Autor Alexander Kluge (mittlerweile 92 Jahre alt!). Zusammen haben sie das 2022 erschienene Werk „Schramme am Himmel“ verfasst und eine Ausstellung dazu gemacht. Im Zentrum davon: Die Figur Hagen von Tronje aus der Nibelungensage.

Meese und Kluge verbindet eine lange Freundschaft, sie können Stunden über „Gott und die Welt“ philosophieren. Am 20. Februar 2024 werden die beiden das wieder tun. Dieses Mal mit Publikum auf der Bühne vom Volkstheater. Unter dem Titel „Kosmische Miniaturen & Kunst im Welt(en)raum de Large“ sinnieren die Künstler über „die ganz großen Zusammenhänge von hier bis zum Mond – aber mindestens bis zum Jupiter“. Ein Talk-Abend mit einem imaginären Opernführer der Zukunft in 3 Akten und einem Vorspiel. Einmalig!

Jeweils 127 Stunden beste Unterhaltung, so der Plan für die zwei Abende: „Was sind schon 127 Stunden im Angesicht der Unendlichkeit? Alleine zum Mond braucht man 3 Tage. Mindestens! Und nur Hin! Zurück dann wieder 3, je nachdem, denken Sie allein mal an die Umlaufbahnen. Und wir wollen ja viel weiter, als bis zum Mond. Mindestens bis zum Jupiter – And beyond Infinity.“

Klingt anstrengend, aber spannend …

Plakat Alexander Kluge und Jonathan Meese im Volkstheater Wien
© Jonathan Meese

Das Wiener Volkstheater möchte ein unprätentiöser, offener und niedrigschwelliger Ort für alle sein. Mit ungewohnten Ästhetiken, neuartigen Erzählweisen, besonderen künstlerischen Handschriften und diskursiven Formaten. Das inhaltliche Programm und dessen Ästhetiken und Formen sind dabei so vielfältig wie die Menschen, die an diesem Haus gemeinsam arbeiten.

Volkstheater Wien